Afghanistan: Testfall für die Erneuerung des Westens

Joe Biden hat seine Präsidentschaft mit dem Versprechen verbunden, die Einheit der Demokratien im Kampf gegen autoritäre Mächte zu stärken und der demokratische Idee wieder zu mehr Gewicht  in der Weltpolitik zu verhelfen. Der erste Testfall, wie ernst es ihm in der Praxis damit ist, steht ihm bereits in den ersten Monaten seiner Amtszeit bevor – in Afghanistan.

Unter Donald Trump hat Washington ein faules Abkommen mit den Taliban getroffen, das der Auslieferung des Landes an die totalitären Islamisten gleichkommt. Im Gegenzug für den Eintritt der Taliban in „Friedensverhandlungen“ mit der Regierung in Kabul sollten die US-Truppen bis zum 1. Mai dieses Jahres aus Afghanistan abziehen – was bedeuten würde, dass auch die übrig gebliebenen Kontingente der Nato-Verbündeten nicht mehr im Land bleiben könnten. Die Taliban aber machen erwartungsgemäß  keinerlei Anstalten, sich an ihren Teil dieser Vereinbarung zu halten. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass sie nach der ganzen Macht im Land greifen werden, sobald die westlichen Truppen abgezogen sind. Und die afghanischen Sicherheitskräfte sind noch längst nicht in der Lage, sie aus eigener Kraft aufzuhalten.

Jetzt liegt es an Biden, ob er diesen von seinem Vorgänger geplanten Verrat des Westens an der sich langsam aber merklich entwickelnden afghanischen Zivilgesellschaft tatsächlich vollziehen will, deren schwer erkämpfte Errungenschaften durch die Rückkehr der Taliban wieder zunichte gemacht würden. Namentlich die afghanischen Frauen würden unter der Taliban-Herrschaft erneut ihrer Rechte beraubt und wären schutzlos dem Sadismus der islamistischen Fanatiker ausgeliefert. Ließe Biden das zu, würde sich sein Leitmotiv „America is back“ nicht nur aus dem Blickwinkel der Opfer in zynischen Hohn verwandeln.

Für den Fall, dass sie nicht rechtzeitig abziehen, haben die Taliban den US-Truppen mit der Wiederaufnahme von direkten Angriffen auf US-Soldaten gedroht, die durch den Vertrag ausgesetzt waren.  Jetzt steht Washington vor dem Dilemma, sich dieser Erpressung zu beugen oder sich für eine neue Runde militärischer Konfrontation mit der islamistischen Terrortruppe zu rüsten. Um diesen Alternativen zu entgehen, setzt Biden offenbar auf Nachverhandlungen mit den Taliban, in der Hoffnung, deren Zustimmung zu einem längeren Verbleib der US-Truppen zu erlangen.

Unverzichtbare Nation am Hindukusch

Im Klartext: Von der Gnade der islamischen Terroristen soll abhängig gemacht werden, ob und wie lange die Führungsmacht der demokratischen Welt in Afghanistan präsent bleiben darf. Sollte das tatsächlich das erste realpolitische Signal sein, das Biden unter seiner Prämisse der Erneuerung der amerikanischen Führungsrolle in der Welt und einer neuen Offensive für die weltweite Förderung der Demokratie aussendet?

Um eine Stabilisierung der Lage in Afghanistan zu erreichen, versucht die neue US-Regierung, Russland, China und andere interessierte Mächten in der Region in Verhandlungen einzubinden. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Doch auch hier gilt: Solche Gespräche können nur aus einer Position der Stärke heraus und ohne Illusionen in die Absichten der beteiligten Akteure zu Erfolgen führen. Es wäre fatal, darauf zu hoffen, dass etwa Putins Russland sich ausgerechnet am Hindukusch als vertrauenswürdiger Sicherheitspartner entpuppt. Die offenbar engen Beziehungen, die Moskau seit Jahren zu den Taliban unterhält, Waffenlieferungen inklusive, sprechen eine andere Sprache. Und im Raum steht, dass der Kreml den Taliban sogar Kopfgeldzahlungen für getötete US-Soldaten angeboten haben soll.

Wie überall sonst, folgt die Putins Außenpolitik auch in Afghanistan einem oberstes Prinzip: mit allen Mitteln den amerikanischen und damit den westlichen Einfluss insgesamt zurückzudrängen. Das entspricht im wesentlichen auch den Motiven der chinesischen Führung, der es im übrigen bekanntermaßen gleichgültig ist, welches Regime in einem Land herrscht, an deren Rohstoffen sie sich bedienen will. Dass ausgerechnet Peking auf die Taliban einwirken könnte, demokratische Spielregeln und Menschenrechte einzuhalten, ist daher eine abwegige Vorstellung. Nein, mehr als überall sonst erweisen sich die USA in Afghanistan in jeder Hinsicht als „unverzichtbare Nation.“

Afghanistan preiszugeben, wäre somit nicht nur ein politisches und humanitäres, sondern auch ein globalstrategisches Desaster für die USA, und damit für den Westen insgesamt. Nicht zuletzt würde das Ansehen der Nato in den Grundfesten erschüttert: Wer könnte dann noch jemals auf Schutz- und Verteidigungszusagen des atlantischen Bündnisses vertrauen? Das politische und moralische Desaster käme dem von Tiefpunkten wie der Preisgabe Südvietnams 1975 und Srebrenicas 1995 gleich.

Folgen eines überstürzten Rückzugs

Es ist wahr, dass die Aussicht, US-Truppen weiterhin in Afghanistan stehen und kämpfen zu lassen, in der amerikanischen Öffentlichkeit lagerübergreifend unpopulär ist – um von der Haltung der europäischen Öffentlichkeit hinsichtlich des eigenen Engagement gar nicht zu reden. Doch es wäre jetzt an Joe Biden, dieser Stimmung offensiv und mit Nachdruck entgegenzutreten – indem er deutlich macht, was in Afghanistan entgegen aller gegenteiligen Behauptungen tatsächlich bereits erreicht wurde, und warum es in letzter Instanz auch für die Sicherheit der Vereinigten Staaten verheerend wäre, all das einfach aufzugeben. Die Folgen des überstürzten US-Rückzugs aus dem Irak könnten dabei als illustratives Beispiel dienen.

Seit Jahr und Tag wird uns von zahllosen Politikern, Experten und Medien eingeredet, der Afghanistan-Einsatz der Nato sei ein einziges Desaster, und es lohne sich daher nicht, ihn weiter in die Länge zu ziehen. Systematisch unterschlagen werden dabei die Fortschritte in Richtung einer humaneren Gesellschaft und einer demokratischen Ordnung, die in vielen Bereichen der afghanischen Wirklichkeit trotz aller Widrigkeiten und Rückschläge erzielt wurden. Das betrifft nicht nur die allmählich wieder auf die Beine kommende Wirtschaft, das steigende Pro-Kopf-Einkommen und infrastrukturelle Verbesserungen, sondern an erster Stelle auch die Frauenrechte.

Wer es für eine zu vernachlässigende Kleinigkeit hält, dass Mädchen und Frauen in einem Land wie Afghanistan Schulen und Universitäten besuchen können, und dass dort Frauen in Politik und Gesellschaft zunehmend in Führungspositionen aufrücken, versteht nichts von der Wirklichkeit dieser Welt. Und sollte sich schon gar nicht anmaßen, sich als außenpolitischen „Realisten“ zu bezeichnen.

Im Westen wird Afghanistan gerne als eine Art lästiger Mühlstein hingestellt, der dem Steuerzahler sinn- und zielloserweise am Hals hänge. Sogar von einem ansonsten sehr geschätzten Kollegen hörte ich kürzlich die Bemerkung, Afghanistan könne ja wohl kein „permanentes Mündel“ des Westens bleiben. Wir reden bei den Bürgerinnen und Bürgern Afghanistans aber nicht von passiven Bittstellern oder unmündigen Kindern, sondern von einer beispielhaft tapferen afghanischen Zivilgesellschaft, die unter größten Mühen und Opfern mit eigener Kraft und in eigener Initiative unschätzbar Wertvolles geschaffen hat. Wir müssten endlich begreifen, dass sie damit nicht zuletzt auch unsere Freiheit und Sicherheit verteidigt, und dass unsere Investitionen in sie keineswegs einseitig sind – auch wenn letztere zukünftig noch weit zielgenauer und effektiver eingesetzt werden müssten.

Grünes Menschenrechts-Debakel im Bundestag

Der Deutsche Bundestag immerhin hat jüngst ein richtiges Zeichen gesetzt, als er das Mandat der Bundeswehr bis vorläufig Januar 2022 verlängerte – auch wenn es dabei nur noch um rund Eintausend zur Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte eingesetzte deutsche Soldatinnen und Soldaten geht, die schon längst nicht mehr in Kampfhandlungen eingreifen.

Die Verlängerung des Mandats wurde mit den Stimmen der Union, SPD und FDP beschlossen. Dass die antiwestlichen Kreml-Parteien AfD und Die Linke den Einsatz ablehnen würden, war nicht anders zu erwarten. Ein enttäuschendes, ebenso beschämendes wie empörendes Bild gab jedoch die Fraktion der Grünen ab, als sie mehrheitlich gegen die Mandatsverlängerung stimmte. Ihr pseudopazifistischer Reflex gebietet diesen Verweigerern wohl, den verzweifelten Ruf vor allem afghanischer Frauenrechtlerinnen nach der Fortsetzung der westlichen Truppenpräsenz in ihrem Land zu ignorieren – weil sie die Gefahr, die der afghanischen Zivilbevölkerung von US-Drohneneinsätze drohen, offenbar für größer halten als jene, die vom Terror der Taliban ausgeht. Ebenso treffend wie vergebens hielt der CDU-Abgeordnete Wadepuhl den grünen Möchtegern-Moralisten im Bundestag entgegen: „Genderpolitik gibt’s nicht nur hier, wenn’s ums Sternchen geht, Genderpolitik ist auch in Afghanistan.“

Nicht nur das vermeintliche Engagement der Grünen für feministische Ziele, sondern für Menschenrechtsanliegen insgesamt wird durch ihr skandalöses Verhalten in dieser Frage bis auf die Knochen diskreditiert. Die Hoffnungen, die etwa aufgrund ihrer beispielhaft festen Haltung gegenüber Putins Aggressionspolitik in die Standhaftigkeit der grünen Führung in Sachen Menschenrechte geweckt wurden, sieht man so gleich wieder aufs Ernüchterndste konterkariert.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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