Belarus: Revolution gegen die Angst. Eine Grußadresse

Unter dem Titel „Eine Revolution gegen die Angst“ haben 50 ehemalige DDR-Bürgerrechtler und Bürgerrechtlerinnen, darunter Marianne Birthler, Roland Jahn, Wolf Biermann, Markus Meckel, Rainer Eppelmann und Freya Klier, eine „öffentliche Grußadresse an die mutigen Demonstrant*innen in Belarus“ gesendet. „Lassen Sie sich nicht einschüchtern! Streiten Sie weiter für ein demokratisches, freies und unabhängiges Belarus – trotz begründeter Angst“, heißt es darin. Hier die Erklärung in vollem Wortlaut:

Die Bilder und Nachrichten, die uns nun schon seit einigen Wochen aus Belarus erreichen, erinnern uns stark an das Jahr 1989. Sie rufen Erlebnisse und Erfahrungen wach. Auch wir standen lange einem aggressiv agierenden Staat gegenüber. Die gewaltsame Niederschlagung der friedlichen Proteste in Peking im Juni 1989 war uns ständig vor Augen, die Angst vor einer „chinesischen Lösung“ wurde täglicher Begleiter des Aufbegehrens gegen die Diktatur. Doch auf wundersame Weise verlief der Herbst 1989 weitgehend friedlich und ging als „Friedliche Revolution“ in die Geschichtsbücher ein.

Möglich wurde dies durch viele Mosaiksteine. Die Solidarność-Bewegung in Polen, die Charta 77 in der damaligen Tschechoslowakei, die Politik von Glasnost und Perestroika durch Michail Gorbatschow und die Aufarbeitungsgruppen „Memorial“ in der Sowjetunion, der Widerstand in den baltischen Staaten und die immer stärker werdende Zahl der Demonstrantinnen waren nur die wichtigsten Leuchtfeuer.

Den Großdemonstrationen in der DDR ging fraglos eine lange Opposition von
Bürgerrechtsgruppen voraus. Zum Auslöser der Massenproteste wurde – so wie bei Ihnen in Belarus – das offensichtliche Fälschen von Wahlen durch die Staatsregierung. Die Schmerzgrenze war erreicht. In dieser Situation war für uns die Unterstützung durch westdeutsche Medien von größter Wichtigkeit.

Umso mehr wissen wir uns Ihnen in Ihrer weitaus schwierigeren Lage zutiefst und solidarisch verbunden. Bei Ihnen wird die freie Berichterstattung unterbunden, Journalist*innen werden inhaftiert, Demonstrant*innen sind Justizwillkür und Folterungen ausgesetzt. Die Gefahr des gezielten russischen Eingreifens ist nicht gebannt und die Unabhängigkeit von Belarus bedroht.


Ohnmachtserfahrungen sind auch uns nicht fremd. Mit großem Respekt verfolgen wir daher die mutigen Aktionen der Frauen und Männer, die Unerschütterlichkeit der Streikenden, die öffentliche Unterstützung zum Beispiel durch die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch.

Wir möchten Ihnen mit dieser Grußadresse Ermutigung und Ermunterung senden. Lassen Sie sich nicht einschüchtern! Streiten Sie weiter für ein demokratisches, freies und unabhängiges Belarus – trotz begründeter Angst.

Wir fordern den deutschen Außenminister auf, sich auch weiterhin klar und
unmissverständlich für das Recht auf friedliche Demonstrationen und die sofortige
Beendigung der aggressiven Staatsgewalt sowie für Verhandlungen u.a. mit dem
gegründeten Koordinierungsrat (analog zu den Runden Tischen in Polen und der DDR) einzusetzen.

Wir fordern die Europäische Union auf, deutliche Schritte der Diplomatie zu gehen und beschlossene Sanktionen umgehend wirksam werden zu lassen.

Unsere gemeinsame Hoffnung für Belarus ist groß: „Für ein offenes Land mit freien
Menschen“.

Bürgerrechtler*innen der ehemaligen DDR
Stephan Bickhardt/Dresden, Wolf Biermann/Hamburg, Marianne Birthler/Berlin, Roswitha Brennig/Berlin, Martin Böttger/Zwickau, Christian Dietrich/Erfurt, Frank Ebert/Berlin, Rainer Eckert/Berlin, Frank Eigenfeld/Halle (Saale), Katrin Eigenfeld/Kasnewitz, Rainer Eppelmann/Berlin, Petra Falkenberg/Berlin, Hans-Jürgen Fischbeck/Berlin, Katrin Hattenhauer/Berlin, Beate Harembski-Henning/Zühlsdorf b. Berlin, Gerold Hildebrand/Berlin, Ralf Hirsch/Berlin, Almut Ilsen/Berlin, Roland Jahn/Berlin, Gisela Kallenbach/Leipzig, Freya Klier/Berlin, Petra König/Berlin, Ilko-Sascha Kowalczuk/Berlin, Doris Liebermann/Berlin, Heiko Lietz/Schwerin, Kathrin-Mahler Walther/Berlin, Markus Meckel/Berlin, Gisela Metz/Berlin, Günter Nooke/Berlin, Maria Nooke/Berlin, Hannelore Offner/Berlin, Gesine Oltmanns/Leipzig, Liane Plotzitzka/Leipzig, Gerd Poppe/Berlin, Ulrike Poppe/Berlin, Bettina Rathenow/Berlin, Lutz Rathenow/Dresden/Berlin, Lothar Rochau/Halle (Saale), Bettina Röder/Berlin, Rüdiger Rosenthal/Fredersdorf, Jutta Seidel/Berlin, Tom Sello/Berlin, Rommy Baumann, Sevim/Berlin, Annette Simon/Berlin, Siegbert Schefke/Leipzig, Uwe Schwabe/Leipzig, Wolfgang Templin/Berlin, Reinhard Weißhuhn/Berlin, Evelyn Zupke/Winsen

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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