Mit Sir Karl Raimund Popper die Wahrheit verteidigen!

Die westlichen Demokratien sehen sich heute, von außen wie von innen, einer eminenten Bedrohung durch neu erstarkte autoritäre und totalitäre Kräfte ausgesetzt. Um ihre Abwehrkräfte dagegen zu stärken, ist es geboten, sich aufs Neue die Ideen und methodischen Prinzipien eines Denkers ins Bewusstsein zu rufen, die das Selbstverständnis der modernen offenen Gesellschaften wesentlich geprägt haben.

Neben Karl Marx hat wohl kein anderer Philosoph der vergangenen zwei Jahrhunderte eine so große politische Wirkung erzielt wie Karl Raimund Popper. Während aber das Imperium, das sich auf das Marxsche Gedankensystem berief, in den Jahren 1989/90 unterging, wurde Poppers Denken durch den  demokratischen Umsturz, der es zum Einsturz brachte, eindrucksvoll bestätigt.

Und das, obwohl er alles andere sein wollte als ein Prophet. In seiner auf einen Vortrag von 1936 zurückgehehenden Schrift „Das Elend des Historizismus“, deren Titel ironisch auf Marx´ Pamphlet „Das Elend der Philosophie anspielte, erteilte Popper dem Versuch „orakelnder Philosophen“ eine scharfe Absage, aus der Geschichte „Gesetze“ herauszulesen und daraus eine pseudowissenschaftliche Begründung für die Errichtung einer idealen Gesellschaft zu konstruieren. Laut Popper hat Geschichte keinen immanenten Sinn, der das Subjekt zu höheren Zielen leiten könnte. Für das Erreichen gesellschaftlichen Fortschritts und die Verbesserung des menschlichen Daseins sind ausschließlich selbstverantwortlich handelnde Subjekte zuständig – die dabei allerdings jederzeit Irrtümern unterliegen können.

Wider die Philosophen des Aufstands gegen die Freiheit

1945 erschien Poppers berühmtestes Werk: „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, in dem er seinen Widerstand gegen alle Spielarten totalisierender Philosophie ideengeschichtlich untermauerte. Totalitäres Denken war für ihn nicht erst ein Produkt des 19. oder 20. Jahrhunderts. Er spürte es bereits bei Platon auf, in dessen Ruf nach einem hierarchisch gegliederten Staat er das Urmuster eines  „Aufstands gegen die Freiheit“ erblickte. Heftiger noch als den griechischen Klassiker lehnte Popper Hegel ab, den er als philosophischen Scharlatan und intellektuellen Verdunkler schmähte. In Hegels „dialektischer“ Methode konnte er nichts anderes erkennen als eine Unterminierung der Vernunft zum Zwecke der Rechtfertigung eines übermächtigen, autoritären Staats.

Er hielt Hegel für eine negative philosophische Schlüsselfigur, weil sich auf ihn sowohl linke als auch rechte totalitäre Ideologien beriefen. So vehement Popper jegliche sozialistische Utopie zurückwies, so sehr verabscheute er die Prediger einer geschlossenen „nationalen Gemeinschaft“. Die Lehre von der ethnisch homogenen Nation war für ihn schlicht archaisches Hordendenken.

Bei der Linken machte sich Popper nicht zuletzt durch sein Eintreten für eine „wehrhafte Demokratie“ und eine starke militärische Abschreckung des  Westens unbeliebt. Doch nicht nur als politischer Philosoph, sondern auch als Wissenschaftstheoretiker hat der 1902 in Wien als Spross einer liberal und laizistisch gesinnten jüdischen Familie geborene Popper – seine Eltern waren schon vor seiner Geburt zum Protestantismus konvertiert – unhintergehbare Maßstäbe gesetzt.

Er ging dabei von dem gleichen Kerngedanken aus wie in seinen gesellschaftstheoretischen Schriften: Geschlossene Systeme, die sich gegen Kritik immunisieren, sind zum Fortschritt unfähig, ersticken jede geistige Unabhängigkeit und Kreativität und gehen am Ende an ihrer eigenen Unbeweglichkeit zugrunde. Offene Systeme dagegen, die das Risiko einer Revision selbst für sie scheinbar unverzichtbarer Wahrheiten eingehen, sind nicht nur humaner, sondern erweisen sich auch als leistungsfähiger und erfolgreicher. Wissenschaftliche ebenso wie politische Systeme sind nur dann akzeptabel, wenn sie lernfähig und zur Selbstkorrektur bereit sind.

Daraus leitete Popper seine „Fallibilismus“ genannte Erkenntnismethode ab: Das Kriterium für die Rationalität einer Theorie sei nicht ihre empirische Verifizierbarkeit, sondern, im Gegenteil, ihre Widerlegbarkeit. Jede Theorie kann nicht mehr als einen Annäherungswert an die Wahrheit darstellen und bleibt nur gültig, bis eine besser begründete an ihre Stelle tritt. Dabei verlangte Popper von der Philosophie und Wissenschaft klares, zielgerichtetes  Denken und eine für alle verständliche Sprache.

Das unverzichtbare Gebot für freie Gesellschaften

Mit diesen Einsichten hat Popper, der 1994 als britischer Staatsbürger in London starb, wo er 1965 in den Adelsstand erhoben worden war, das Selbstverständnis der westlichen Demokratien auf eine neue Grundlage gestellt. Seine Konzepte der „offenen Gesellschaft“ und des „kritischen Rationalismus“ verbanden den Skeptizismus der postidealistischen bürgerlichen Gesellschaft mit dem Erbe der Aufklärung und ihres Vertrauens in die unbegrenzte Verbesserungsfähigkeit der menschlichen Verhältnisse. Popper forderte, auch scheinbar unbezweifelbare wissenschaftliche Wahrheiten immer aufs Neue infrage zu stellen, und hielt doch, gegen alle Formen des Relativismus, an der Annahme einer objektiven Wahrheit und an der Einheit des Wissens fest.

Heute, da Desinformationsapparate autoritärer Staaten und ihre populistischen Handlanger unterschiedlicher Couleur systematisch danach trachten, den Unterschied zwischen Fakten und Fiktion, Lüge und Wahrheit zu verwischen, ist die Rückbesinnung auf Poppers Erkenntnistheorie essenziell. Zwar kann es nie eine absolute, ewig gültige Wahrheit geben, doch das ständige Streben nach größtmöglicher Annäherung an für alle verbindliche wahre Aussagen über die Wirklichkeit bleibt ein unverzichtbares Gebot für freie, aufgeklärte Gesellschaften. Gibt man diesen Anspruch zugunsten der Anerkennung gleichrangiger „subjektiver Wahrheiten“ auf und betrachtet alle „Meinungen“, unabhängig vom Grad ihres Wahrheitsgehalts, als gleichwertig, öffnet man die Schleusen für jede Art von Irrationalismus – und damit für den Missbrauch des freien Denkens durch autoritäre und totalitäre Manipulatoren.

Der Text ist zugleich auf ukrainisch als Kolumne in Український Тиждень („Ukrainische Woche“; tyzhden.ua) erschienen.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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