30 Jahre unabhängig: Was nun auf die Ukraine zukommt

Für die Sonderausgabe des Magazins Український тиждень (Ukrainische Woche) zum 30. Jahrestag der ukrainischen Unabhängigkeit am 24. August habe ich unten stehende Kolumne geschrieben. Wie es denn um die Zukunft des Landes im internationalen Kontext in den kommenden zehn Jahren bestellt sei, lautet ein Leitthema des Heftes. Meinen Text habe ich vor dem fast kampflosen Durchmarsch der Taliban zur ganzen Macht in Afghanistan und der würdelosen Flucht des überrumpelten Westens vor den totalitären Islamisten geschrieben. Die Entwicklung zeigt aber, dass meine darin enthaltene Einschätzung der internationalen Lage und des Behauptungswillen des Westens gegen autoritäre Mächte womöglich noch nicht pessimistisch genug war. Auch für die Ukraine ist der Fall Afghanistans jedenfalls ein alles andere als ermutigendes Vorzeichen. Wenn Putin sie gewaltsam einkassieren sollte, wird sich der Westen dann ähnlich jämmerlich in die Büsche schlagen, um sich dann, wie es jetzt bezüglich Afghanistan geschieht, von diversen „Experten“ bescheinigen zu lassen, die Ukraine sei ja (wegen Korruption und so weiter) ohnhin schon längst ein „hoffnungsloser Fall“ gewesen, den man jetzt gnadenlos im Stich zu lassen nur endlich „den Mut gefunden“ habe…?

In den kommenden zehn Jahre wird sich entscheiden, ob sich die liberale Demokratie gegen die wachsende Bedrohung durch zunehmend expansive autoritäre Mächte, allen voran Russland und China, behaupten kann. Die Gefahr ist real, dass unter deren Einfluss die freiheitlichen Fundamente des Westens zerbrechen. Die Dramatik dieses aktuellen Entscheidungskampfes zwischen Demokratie und Autoritarismus ist den politischen Eliten und der breiteren gesellschaftlichen Öffentlichkeit des Westens jedoch längst nicht in vollem Umfang bewusst. Von einer gemeinsamen entschlossenen Antwort auf diese epochale Herausforderung sowohl im Inneren als auch auf der weltpolitischen Bühne sind die westlichen Demokratien weit entfernt.  

Auch die Ukraine wird sich daher auf manche Unwägbarkeit im internationalen Kräfteverhältnis einstellen müssen. So ist es in doppelter Hinsicht ungewiss, ob sie eine Zukunft als Vollmitglied der EU hat. Zum einen wird es schwer, die Zustimmung aller Mitgliedsstaaten für ihren Beitritt zu gewinnen, selbst wenn sie die Aufnahmekriterien vollständig erfüllen kann. Zu weit reicht in vielen EU-Staaten bereits die Korrumpierung durch Putins Mafia-Staat, und zu tief verankert ist dort die irrige Erwartung, Russland könne ungeachtet seiner offen antiwestlichen Feindseligkeit als „Partner“ für eine gemeinsame europäischen Sicherheitsstrategie gewonnen werden. Um den Kreml nicht zu sehr zu verärgern oder zu „provozieren“, zögert man folglich, die Ukraine gänzlich in die westliche Welt zu integrieren.

So betreibt Deutschland, als die stärkste Führungsmacht in der EU, gegenüber der Ukraine eine zweideutige Politik. Einerseits unterstützt Berlin mit nicht unerheblichen Kräften ihre Annäherung an die politischen, ökonomischen und rechtsstaatlichen Standards der EU. Andererseits ist es jedoch darauf bedacht, sich alle möglichen Optionen für eine möglichst rasche „Normalisierung“ der Beziehungen zu Russland offenzuhalten. So erwächst das deutsche Beharren auf Nord Stream 2 aus der Vorstellung,  gerade angesichts politischer Spannungen sei der Erhalt und Ausbau wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Bindungen an Russland wichtiger denn. Um keinen harten Bruch mit Moskau zu riskieren, erklärt Berlin Waffenlieferungen an die Ukraine zum Tabu und stemmt sich vehement gegen ihre Aufnahme in die Nato. Im Kern läuft diese deutsche Doppelstrategie darauf hinaus, der Ukraine erst dann in vollem Umfang die Integration in die westliche Gemeinschaft zu gewähren, wenn Moskau dagegen keine prinzipiellen Einwände mehr erhebt. Diesen russischen Gesinnungswandel hofft Berlin durch unermüdlichen „Dialog“ herbeizuführen.

Doch Putin hat erst kürzlich einmal mehr unzweideutig klar gemacht, dass er eine endgültige Abkehr der Ukraine von der „russischen Welt“ – eine euphemistische Umschreibung des vom russischen Neoimperialismus für sich beanspruchte Einflussgebiets – niemals hinnehmen wird. Sollte Moskau mit der auf diese Weise angedrohten gewaltsamen Unterwerfung der gesamten Ukraine unter seine Vorherrschaft ernst machen, wären Berlin, Paris und Brüssel mit ihrer Schaukelpolitik zwischen Kyjiw und Moskau am Ende. Sie müssten dann in der einen oder anderen Richtung Farbe bekennen. Zweifel sind angebracht, ob diese Entscheidung konsequent zugunsten der Ukraine ausfallen würde.

Geht die EU, bevor die Ukraine kommt?

Ungewiss ist jedoch auch die Zukunft der EU selbst. In einigen EU-Staaten, vor allem in Ungarn und Polen, sind Regierungen an der Macht, die sich nicht an die rechtsstaatlichen Normen der Union zu halten bereit sind. Das könnte zu einer Situation führen, in der die EU entweder zerbricht oder um ihres Zusammenhalts willen einige ihrer fundamentalen Prinzipien aufgibt. Eine noch viel größere Gefahr für die Fortexistenz der EU ebenso wie des transatlantischen Bündnisses droht jedoch bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich im kommenden Jahr. Mit Marine Le Pen könnte eine extremistische Gegnerin der universalen Werte, auf denen die europäische Einigungsidee ebenso wie die Allianz Europas mit den USA beruht, als Siegerin daraus hervorgehen. Le Pen ist überdies eine enge Verbündete des Kreml

Dazu muss die Ukraine allerdings unbeirrt und mit verstärkter Anstrengung ihren prowestlichen Reformkurs fortsetzen – und so die westlichen Werte in einer Zeit hochhalten, da diese im Westen selbst zunehmend in Frage gestellt werden. Hält die Ukraine der russischen Aggression weiter stand, gewinnt sie den Kampf gegen Korruption und Oligarchenherrschaft und schöpft sie ökonomisch ihr großes innovatives Potenzial – so im Bereich IT und erneuerbare Energien – aus, würde sie damit ganz Europa ein Beispiel geben, welche Kräfte das mutige Eintreten für seine Freiheitswerte freisetzen kann. Die Ukraine als Retterin des vereinten demokratischen Europa und Stifterin seiner notwendigen Erneuerung? Ein kluger Kopf hat einmal gesagt, in der Geschichte sei nichts unmöglich – nicht einmal das Gute. Für den 30. Geburtstag der freien Ukraine scheint mir das ein angemessenes Motto zu sein.

Der Ukraine wird somit ihren Weg in die westliche Gemeinschaft fortsetzen und der russischen Aggression widerstehen müssen, ohne sicher sein zu können, wie weit auf die Unterstützung ihrer europäischen Partner (letztlich aber auch der USA) tatsächlich Verlass ist. Doch aus Anlass des 30. Jahrestags der ukrainischen Unabhängigkeit ist es vielleicht erlaubt, sich optimistischen Träumen hinzugeben: Was, wenn die Ukraine, obwohl sie in absehbarer Zeit gar nicht der EU und Nato angehören kann, zur Bewahrerin und Vorreiterin der europäischen Idee würde? Mit der „Revolution der Würde“ hat das Land politische und ideelle Maßstäbe für das gesamte freie Europa gesetzt. Die Ukrainer haben vorgeführt, welcher Leidenschaft und Opferbereitschaft es bedarf, um die europäischen und universalen Freiheitswerte gegen ihre autoritären Antipoden durchzusetzen. In dem Maße, wie auch die scheinbar sicheren westlichen Demokratien zunehmend unter den Druck des Autoritarismus geraten, könnten sie sich dieses Beispiels erinnern und in der Ukraine einen Leuchtturm der Freiheit erkennen.

.Dazu muss die Ukraine allerdings unbeirrt und mit verstärkter Anstrengung ihren prowestlichen Reformkurs fortsetzen – und so die westlichen Werte in einer Zeit hochhalten, da diese im Westen selbst zunehmend in Frage gestellt werden. Hält die Ukraine der russischen Aggression weiter stand, gewinnt sie den Kampf gegen Korruption und Oligarchenherrschaft und schöpft sie ökonomisch ihr großes innovatives Potenzial – so im Bereich IT und erneuerbare Energien – aus, würde sie damit ganz Europa ein Beispiel geben, welche Kräfte das mutige Eintreten für seine Freiheitswerte freisetzen kann. Die Ukraine als Retterin des vereinten demokratischen Europa und Stifterin seiner notwendigen Erneuerung? Ein kluger Kopf hat einmal gesagt, in der Geschichte sei nichts unmöglich – nicht einmal das Gute. Für den 30. Geburtstag der freien Ukraine scheint mir das ein angemessenes Motto zu sein.

Der Text auf ukrainisch hier.

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Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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