Von Lukaschenko bis QAnon: Antisemitismus geht immer

Mit der Krise der liberalen Demokratien und dem Erstarken autoritärer Mächte sowie extremistischer Ideologien verschiedener Couleur wächst auch der Antisemitismus wieder an. Wo immer demokratische Strukturen zerstört oder Bewegungen für demokratische Rechte unterdrückt werden sollen, werden dafür antijüdische Reflexe mobilisiert.

Aktuell lässt sich dies exemplarisch an der Propaganda des Lukaschenko-Regimes in Belarus ablesen. Während dessen Repression gegen die Demokratiebewegung im Land immer schärfer wird, tauchen in staatlich kontrollierten Medien vermehrt antisemitische Parolen auf. Als Hintermänner eines „antibelarussischen Komplotts“ werden, so hat etwa der in Deutschland lehrende belarussische Historiker Alexander Friedman beobachtet, Juden wie der US-Philanthrop George Soros oder der französische Philosoph und Demokratie-Aktivist Bernard-Henri Lévy denunziert. In sozialen Netzwerken kursieren Fälschungen über die vermeintliche jüdische Herkunft und angebliche israelische Staatsangehörigkeit der Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja sowie anderer Oppositionspolitiker. Regimekritiker mit jüdisch anmutenden Namen werden als „Protestaktivisten mit abartigen semitischen Gesichtszügen“ beschimpft, und es wird ihnen nahegelegt, nach Israel auszuwandern.

Dabei treibt das Regime jedoch ein perfides Doppelspiel. Während es antijüdischen Hass schürt, denunziert es gleichzeitig die Organisatoren der Protestbewegung als „Faschisten“ und Antisemiten in der Nachfolge der am Holocaust beteiligten belarussischen Kollaborateure im Zweiten Weltkrieg. Die weiß-rot-weiße Fahne, die bis zum Amtsantritt Lukaschenkos 1994 die belarussische Nationalflagge war und heute das Symbol der Oppositionsbewegung ist, wird vom Regime als „Nazi-Banner“ tituliert. Diese Propaganda soll insbesondere die westliche Öffentlichkeit verunsichern und sie von ihrer Unterstützung für den belarussischen Freiheitskampf abbringen.

Desinformation aus der Werkstatt des Kreml

Offensichtlich stammt diese Verwirrungstechnik aus der Propagandawerkstatt des Kreml, der bei der Unterdrückung der Opposition in Belarus längst die Regie übernommen hat. Denn exakt dieselbe Methode hat das Putin-Regime auch gegen die Ukraine angewendet, indem es die Maidan-Revolution als „faschistischen Putsch“ denunzierte und antisemitische Vorfälle in der Ukraine erfand, während seine Desinformationsapparate zugleich antijüdische Hetze gegen ukrainische Aktivisten und Politiker verbreiteten.

Wie Putin versucht auch Lukaschenko, von seinen antisemitischen Kampagnen abzulenken, indem er sich dezidiert pro-israelisch gibt. Diesem Muster folgt bereits seit längerer Zeit nicht nur Viktor Orban in Ungarn, auch die vom Kreml unterstützten größten Rechtsaußen-Parteien in Westeuropa haben es übernommen: Von der Le-Pen-Partei in Frankreich über die FPÖ in Österreich bis zur deutschen AfD versuchen sie sich als entschlossene Unterstützer des jüdischen Staats und Beschützer der jüdischen Bürger gegen den muslimischen Antisemitismus darzustellen.

In Wahrheit jedoch ist laut Umfragen die Zustimmung zu antisemitischen Stereotypen etwa bei den Wählern der AfD um ein mehrfaches höher als bei denen der anderen im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien. Und als der damalige AfD-Vorsitzende Alexander Gauland 2018 in einem Artikel eine „globalisierte Klasse“ angriff, die „in den international agierenden Unternehmen, in Organisationen wie der UN, in den Medien, Startups, Universitäten, NGOs, Stiftungen, in den Parteien und ihren Apparaten“ sitze und daher nur eine schwache „Bindung an ihr jeweiliges Heimatland“ besitze, hatten seine Anhänger das Signal auch ohne ausdrückliche Nennung der Juden verstanden. Denn das Wahnbild von einer die Welt beherrschenden heimatlosen Elite ist ein seit Jahrhunderten etablierter antisemitischer Topos.

Irrwitzige Fantasmen über Kinderblut

Uralte judenfeindliche Motive tauchen heute auch wieder in den Verschwörungsfantasien von rechtsextremen Netzwerken wie „QAnon“ auf. Aus diesem Umfeld stammt die irrwitzige Lüge, eine von dem (nichtjüdischen) Multimilliardär Bill Gates angeführte weltweit agierende satanistische Elite entführe Kinder, die sie in unterirdischen Laboren gefangen halte, foltere und ermorde, um aus ihrem Blut eine Verjüngungsdroge zu gewinnen. Dieses Fantasma deckt sich mit dem im Mittelalter weit verbreiteten mörderischen Gerücht, nach dem die Juden an ihren Festtagen christliche Kinder schlachten und ihr Blut trinken würden. Diese und andere antisemitisch konnotierten Verschwörungsmythen sind unter den militanten Anhängern Donald Trumps weit verbreitet, sie grassieren aber auch unter deutschen Corona-Leugnern, die die Schutzmaßnahmen gegen Covid-19 für einen Vorwand halten, um in Deutschland eine „globalistische Diktatur“ zu errichten.

Doch nicht nur auf der äußersten Rechten, sondern auch in Teilen der radikalen Linken sind antisemitische Affekte virulent. Spätestens seit Karl Marx das Judentum mit dem Kapital gleichgesetzt hat, ist der linke Antikapitalismus oftmals in antisemitische Agitation umgekippt – namentlich in den kommunistischen Diktaturen. Aktuell äußert sich das linke antijüdische Ressentiment vorwiegend unter dem Deckmantel des „Antizionismus“, der Israel als einem vermeintlich „rassistischen“ Gebilde das Existenzrecht abspricht. (Siehe dazu: „Der Antisemitismus und die Lebenslüge der Linken“ und: „Der vieldeutige Jude und die Abgründe der „Israelkritik“.)

In vielen europäischen Ländern geht die größte Bedrohung für jüdische Bürger allerdings von islamistischen Fanatikern aus. Doch die vermeintlichen Antipoden Islamismus und Rechtsextremismus sind sich in einem zentralen Punkt einig: in ihrem obsessiven Antisemitismus, der die Juden von beiden Seiten her zu einer bevorzugten Zielscheibe von Terroranschlägen macht. Dass der Antisemitismus den gemeinsamen Kern fast aller antidemokratischer Ideologien bildet, zeigt, dass er alles andere ist als eine Randerscheinung. Er durchzieht vielmehr die Geschichte der modernen Zivilisation wie ein dunkler Subtext, der an die Oberfläche dringt, sobald sich diese ihrer humanen Grundwerte unsicher wird. Antisemitismus in allen seinen Varianten zu bekämpfen ist daher die erste Voraussetzung für die Verteidigung der Demokratie gegen ihre autoritären und totalitären Feinde.

Der Text ist zeitgleich in ukrainischer Übersetzung als Kolumne in країнський Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua) erschienen.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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