Zaudern vor Putin führt zum Verrat an der Ukraine

Putins Russland steht einen Schritt vor einer massiven Militärinvasion in die Ukraine. Doch außer dringliche Appelle an den Aggressor und unverbindliche Solidaritätsadressen an dessen Opfer zu senden, unternehmen Berlin, Paris und Brüssel dagegen faktisch nichts. Auch bei ihren jüngsten Beratungen konnten sich die EU-Außenminister immer noch nicht nicht zum Verhängen von Sanktionen oder zumindest zu einer Androhung von konkreten, abgestuften Strafmaßnahmen durchringen.

Es gehe jetzt erst einmal darum, eine weitere „Eskalation“ der Lage zu verhindern, begründete der deutsche Außenminister Heiko Maas diese Abwartehaltung – so, als sei diese „Eskalation“ eine Art anonymer Selbstlauf und habe nicht vielmehr einen eindeutig identifizierbaren Urheber: den Aggressor Russland, der große Teile der Ukraine besetzt hält und sich anschickt, weitere Teile von ihr gewaltsam zu unterwerfen. Und so, als wäre nicht der einzige Weg, dieses Eskalationsmonopol Moskaus zu brechen, dem Aggressor den Preis vor Augen zu führen, den er für ein weiteres Vordringen in das Nachbarland bezahlen müsste.

Honoriert wird diese Art einer „Politik der Zurückhaltung“ von Putin nicht. In seiner „Rede zur Lage der Nation“ am heutigen Mittwoch stieß er erneut wüste Drohungen gegen den Westen aus, die von projektiven Umkehrungen strotzten. So suggerierte Putin, der Westen plane oder unterstütze Mordanschläge auf führende Repräsentanten seines Landes und stecke hinter einem angeblichen Attentatsversuch gegen Moskaus belarusischen Vasallen Lukaschenko. Und während er selbst eine „rote Linie“ nach der anderen überschreitet, bezichtigt er den Westen, eben dies zu tun – um dann klar zu machen, dass er die Definition solcher „roten Linien“ seiner eigenen Willkür vorbehält.

Gewiss ist es richtig, nicht auf jede Provokation einzugehen, die Russland in der Ostukraine inszeniert, um einen Vorwand für die Realisierung seiner Kriegsgelüste zu kreieren. Doch diese gebotene Zurückhaltung kann, wird sie zum Selbstzweck erhoben, schnell zur Ausrede für gewohnheitsmäßige Untätigkeit werden. Statt zu handeln, klammern sich die führenden EU-Politiker an die Hoffnung, bei Putins Truppenaufmarsch möge es am Ende doch nur um „Säbelrasseln“ gehen. Denn für den Fall, dass der Kreml tatsächlich ernst machen sollte, haben sie keine angemessene Antwort parat. Indem sie sich vor der Formulierung einer solchen unzweideutigen Antwort drücken, weil sie eine Hintertür offen halten wollen, sich mit mit dem Aggressor zu arrangieren, befeuern sie jedoch die Kriegsgefahr, statt sie zu verringern. Und weil sie den Ernstfall eines großen Kriegs Russlands gegen die Ukraine nicht zu denken wagen, bliebe ihnen im Falle seines tatsächlichen Eintretens am Ende kaum mehr als ohnmächtiges Zusehen (und neuerliche eindringliche Appelle zur „Deeskalation“). Und genau das weiß Putin nur zu gut.

Schon vergangene Woche hatte sich Heiko Maas einen kläglichen Auftritt geleistet: Im Interview in den ARD-Tagesthemen wand er sich förmlich unter der Frage des Moderators, wie Deutschland und die EU Putin von seinen Invasionsplänen in die Ukraine abbringen wollten. Maas brachte nur Phrasen darüber heraus, wie deutlich EU und Nato dem Kreml zu Verstehen gegeben hätten, dass er in der Ostukraine „deeskalieren“ solle. Auf die Nachfrage, ob das Putin denn beeindrucken werde und die Bundesregierung nicht zumindest den Stopp von Nord Stream 2 als Druckmittel einsetzen solle, erwiderte Maas: Er bezweifele, dass dies zu einer Veränderung des Verhaltens Moskaus im Sinne von „Deeskalation“ führen würde – er nehme eher das Gegenteil an.

Der Aggressor wird ermutigt

Man fragt sich, warum Maas dann überhaupt jemals Sanktionen gegen Russland befürwortet hat. Denn nach seiner Logik hätten ja auch diese den Aggressor nur weiter reizen und damit alles noch schlimmer machen müssen. Tatsächlich aber waren es die – wenn auch unzulänglichen – Sanktionen der EU, die Russlands Vormarsch in der Ostukraine 2014 zumindest partiell zum Stehen brachten. Doch wenn es um Nord Stream 2 geht, an dem die Bundesregierung mit geradezu autistischem Starrsinn festhält, scheint in Berlin noch der letzte Rest an Logik auszusetzen. Dass der Kreml bei der Verschärfung seines Kriegskurses nicht einmal das Scheitern seines strategischen Renommierprojekts riskieren muss, mit dem er seinen Einfluss auf Europa entscheidend erweitern will, wirkt auf ihn wie ein Freifahrtschein für weitere Gewaltanwendung.

Den Tiefpunkt erreichte die „Argumentation“ des Außenministers jedoch, als er im Interview erklärte, auch Moskau könne doch letzten Endes „kein Interesse“ daran haben, den Krieg im Donbass weiter zu eskalieren. Putins Luftwaffe hat im Verbund mit dem Assad-Regime und dem Iran zuletzt Syrien in Schutt und Asche gelegt, und seine verdeckte Invasion in die Ostukraine hat bisher über 13 000 Menschen das Leben gekostet. Der deutsche Außenminister aber verlässt sich darauf, dass Russland eigentlich auch keine Verschärfung der Kriegssituation wolle! Lügt sich Maas selbst in die Tasche, nimmt er sein hartnäckig aufrechterhaltenes Trugbild von einem trotz allem im Grunde an friedlichem Ausgleich interessierten Putin-Russland selbst für bare Münze? Vermutlich ja. Das ist das wirklich Deprimierende daran: Den Akteuren in Berlin fällt die Mischung aus Arglosigkeit und Zynismus, mit dem sie ihr Leisetreten vor Putin rechtfertigen, offenbar noch nicht einmal auf. Man fühlt sich unwillkürlich an das Diktum Adornos erinnert, nach dem ein Deutscher keine Lüge aussprechen kann, an die er nicht selbst glaubt.

Selbst aber, wenn Moskau vorerst von einer offenen Invasion der Ukraine absehen sollte – es wird von seinem Ziel, die demokratische Ukraine zu zerstören, ganz sicher nicht abrücken. Wann und in welchem Ausmaß es dazu verschärfte militärische Mittel einsetzen oder inwieweit es sich primär auf die Destabilisierung des Landes durch Unterwanderung, Korrumpierung und Desinformation verlegen wird, kann niemand genau vorhersagen. Darauf kommt es aber auch gar nicht an. Die Aufgabe verantwortlicher westlicher Politik wäre es, sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten und den Aggressor durch wirksame Maßnahmen und die glaubhafte Ankündigung von klar definierten Konsequenzen von weiteren Untaten abzuschrecken, statt immer nur mehr oder weniger hilflos auf Putins jeweils neueste Drehung an der Gewaltschraube zu reagieren.

Zudem ist auch das mit einer gewissen Tendenz zur Verniedlichung so genannte „Säbelrasseln“ an sich bereits eine Akt der Aggression. Mit seiner Truppenkonzentration setzt Moskau nicht nur die Ukraine unter erpresserischen Druck, sondern auch den Westen. Womit die Gefahr wächst, dass dieser um des lieben Friedens Willen dem Erpresser Konzessionen machen und seinen Bedingungen für eine „Lösung“ in der Ostukraine über die Köpfe der Ukrainer hinweg entgegenkommen könnte. Von der in Berlin euphemistisch als „Politik der Zurückhaltung“ titulierten Linie der Beschwichtigung führt so eine abschüssige Bahn in den denkbaren Verrat an der Ukraine. Mit Armin Laschet als potenziellem nächsten Bundeskanzler würde diese Gefahr mit Sicherheit nicht geringer – hat sich der CDU-Chef doch wiederholt der Kreml-Propaganda gegenüber höchst aufgeschlossen gezeigt.

Dem Autodieb auch noch das Benzin bezahlen?

Doch statt endlich eine effektive Eindämmungsstrategie zu entwickeln, geben die Verantwortlichen in Berlin, Paris und Brüssel bei jeder neuerlichen Überrumpelung durch Putins brutale Gewaltpolitik die Überraschten und Bestürzten und verlegen sich ein ums andere Mal auf den Versuch, dem Aggressor seine bösen Absichten doch noch auszureden. Schon lange vor der jüngsten Zuspitzung in der Ostukraine aber hätte die europäische Politik erkennen müssen, dass der Kreml die militärische Unterwerfung von weiteren Teilen der Ukraine vorbereitet. So hat sich Moskau in den sieben Jahren seit der Annexion der Krim unfähig gezeigt, die Wasserversorgung der geraubten Halbinsel sicherzustellen, nachdem die Ukraine die Wasserzufuhr über den Nord-Krim-Kanal gekappt hat.

Jetzt aber stellt Moskau die Ukrainer international an den Pranger, weil sie seiner Forderung nach Wasserlieferung nicht nachkommen. Das ist in etwa so, als ob ein Autodieb von dem bestohlenen Besitzer verlangen würde, dass er ihm das Benzin bezahlt. Die offensichtliche Dreistigkeit seiner Forderung, dass die Ukraine für die Besetzung seines Territoriums auch noch die Unkosten tragen soll, hindert den Kreml nicht daran, sie lautstark zu erheben. Und die Absurdität dieser Konstruktion wird Moskau nicht davon abhalten, sie gegebenenfalls als Vorwand zu benutzen, um sich qua militärischer Gewalt Zugang zu den ukrainischen Wasserquellen zu verschaffen.

Seit Jahren rüstet Russland auf der Krim massiv auf und bedroht so nicht nur das strategische Gleichgewicht am Schwarzen Meer, sondern in der Konsequenz in ganz Europa, ohne dass die europäischen Demokratien darauf adäquat reagiert hätten. Die Hoffnungen der Ukrainer auf Abschreckung und Unterstützung richten sich daher jetzt vor allem auf die USA unter dem neuen US-Präsidenten Joe Biden. Doch obwohl dieser Kyjiw in deutlichen Worten seiner Unterstützung versichert hat und die USA, im Gegensatz zu den Europäern, der Ukraine auch Waffen zu liefern bereit sind – konkrete, gezielte Maßnahmen, die Putin von seinen Kriegsplänen gegen das Land abbringen könnten, hat auch Washington noch nicht ergriffen. Von der Absicht, als Reaktion auf Moskaus Ankündigung einer völkerrechtswidrigen Teilsperrung des Zugangs zum Schwarzen Meer im Kontext nicht weniger illegaler Manöver der russischen Kriegsmarine zwei Schlachtschiffe in die Region zu entsenden, ist Biden einstweilen wieder abgerückt.

Wie konsequent der neue US-Präsident der globalen Herausforderung durch Putins Autoritarismus tatsächlich entgegentreten wird, ist noch nicht ausgemacht. Der von Biden beschlossene schnelle Abzug der US-Truppen aus Afghanistan, die einer Kapitulation vor den Taliban gleichkommt, ist auch für die Ukraine kein gutes Zeichen. Denn nicht nur überlässt der US-Präsident damit den islamistischen Extremisten das Feld, die sich von den nun auf sich selbst gestellten afghanischen Sicherheitskräften nicht daran hindern lassen werden, das gesamte Land zurückzuerobern. Um den Schein zu wahren und den Eindruck zu erwecken, dass die USA sich auch nach ihrem Abzug um eine einigermaßen stabile Situation in Afghanistan kümmern würden, muss sich Washington auch mit Moskau – das in Wahrheit enge Beziehungen zu den Taliban pflegt – und Peking als potenziellen „Stabilisierungspartnern“ ins Benehmen setzen. Ähnliches gilt für die Verhandlungen über das iranische Atomprogramm, bei denen Teherans Hauptverbündeter Russland eine Schlüsselrolle spielt. Das könnte Bidens Entschlossenheit dämpfen, sich Putin auf anderen Feldern der Weltpolitik mit der gebotenen Festigkeit entgegenzustellen.

Ukraine in die Nato – gerade weil Putin schäumt

Für den Westen ist es jetzt höchste Zeit, Putins Aggressionspolitik durch präventive Gegenmaßnahmen, die den Kreml wirklich schmerzhaft treffen, Einhalt zu gebieten. Dazu gehören harte, einschneidende Sanktionen auf wirtschaftlicher Ebene und im Finanzsektor, die weit über das bisherige Prinzip personenbezogener Strafmaßnahmen hinaus gehen, sondern struktureller und strategischer Natur sind. Dazu gehört überdies eine systematische politische Isolation Moskaus auf der internationalen Bühne.

Eine ernsthafte Eindämmung der russischen Vorherrschaftsansprüche würde auch erfordern, dass Europa endlich seine Weigerung aufgibt, die Ukraine mit Waffen zu beliefern – und sie mit modernsten Waffensystemen versorgt, die das Land befähigen können, sich selbst zu verteidigen. Die beste Prävention wäre es indes, die Ukraine unverzüglich in den Mitgliedschafts-Aktionsplan (MAP) der Nato aufzunehmen. Denn die europäische Logik, nach der man unter allen Umständen vermeiden müsse, „noch mehr Öl ins Feuer zu gießen“, und nach der die Nato-Aufnahme der Ukraine deshalb zum Tabu erklärt wurde, hat nicht zu einer Besänftigung Putins geführt – im Gegenteil.

Andersherum wird ein Schuh daraus: Gerade dass der Kreml derart heftig gegen einen möglichen ukrainischen Nato-Beitritt schäumt und darob wilde Drohungen ausstößt, belegt, wie sehr er ihn als game changer fürchtet. Bisher haben Putins Streitkräfte ihre „Heldentaten“ nur an deutlich unterlegenen oder wehrlosen Gegner exekutiert. Wenn Moskau aber damit zu rechnen hätte, es bei weiteren kriegerischen Abenteuern direkt mit der Nato zu tun zu bekommen, müsste es sein strategisches Kalkül grundlegend überdenken. Der Kreml wird von seinem Kriegskurs erst abrücken, wenn ihm das westliche Bündnis klar macht, dass es sich von seinen dreisten Drohungen mit militärischer Gewalt nicht länger vorführen, einschüchtern und erpressen lässt. Es geht längst nicht mehr nur um die Ukraine, sondern um die elementaren Grundlagen der Sicherheit des demokratischen Europa – und letzten Endes der Demokratien weltweit.

Lesen Sie auch: Putin plant den großen Krieg gegen die Ukraine, und: Deutsche Beschwichtigung: Das Erbe des Genscherismus

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

4 Kommentare

  • Excellent article dedicated to the right of self-determination, independence and fight against voracious aggressors in general.
    Your contribution to these ideals are tremendous especially today when Russia and China are expanding ignoring these rights, where Ukraine, Georgia and Taiwan are lacking on a consistent West-European engagement in combating such crimes.
    You remain as one of the few top reporters in Germany who finds clear words and highlights the necessity to unity in Western alliance against usurpation by any means of free nations around the globe.
    Thank you Mr. Herzinger …

  • Ich bin froh, diesen unbestechlichen Analysten wieder entdeckt zu haben. Leider sind seine Beiträge in der „Welt“ kaum noch zu finden. Eine wichtige Stimme im unübersichtlichen Stimmengewirr: klar und eindeutig gegen jedweden Extremismus – egal von rechts oder links. Journalismus der besten Art, allerdings den demokratischen Werten verpflichtet- gut so! Das ist heute leider nicht mehr selbstverständlich und deshalb so bemerkenswert.

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

Schreiben Sie mir

Sie können mich problemlos auf allen gängigen Social-Media-Plattformen erreichen. Folgen Sie mir und verpassen Sie keinen Beitrag.

Kontakt