Erneuerung des Westens: Der Mythos Kennedy lebt

Mit dem kommenden US-Präsidenten Joe Biden erhält die bereits totgesagte Idee von den USA als Leuchtturm der Freiheit in der Welt neuen Auftrieb. Doch was immer Biden in Sachen Erneuerung des Westens gelingen mag – kein US-Präsident wird wohl jemals wieder mit solch mythischer Strahlkraft die Idee der freien Welt personifizieren können wie John F. Kennedy. Ungeachtet aller dunklen Flecken auf seiner Biografie ist sein Mythos unverwüstlich – und das zu Recht.

Im Laufe der Jahrzehnte seit seinem Tod haben die Historiker sämtliche dunkle Seiten des großen, ebenso glamourösen wie tragischen US-Präsidenten John F. Kennedy enthüllt. Jetzt wissen wir, dass das Sündenregister dieser Lichtgestalt der freien Welt lang ist: Er war in Wirklichkeit schwer krank, verbarg seine Gebrechlichkeit aber systematisch hinter dem schönen Schein einer von Vitalität strotzender Jugendlichkeit; er war nicht der Traum-Ehemann an der Seite der Traumfrau und Mustergattin Jacqueline, sondern ein manischer Schürzenjäger und Hurenbock, der sexuelle Eroberungen wie eine Trophäenjagd betrieb; er war in der Kuba-Krise nicht der genial-souveräne Staatsmann, der die Welt mit beherzter Umsicht vor dem Abgrund des Atomkrieg rettete, sondern schlitterte nur mit unverschämt viel Glück an der ultimativen Katastrophe vorbei.

Überhaupt war er nicht der visionäre Idealist, als der er sich zu inszenieren liebte, sondern ein weitgehend überzeugungsloser, kühl kalkulierender Machtpolitiker, der sich nur äußerst zögerlich und zunächst widerstrebend der Sache der schwarzen Bürgerrechtsbewegung annahm; der die USA ursächlich in den verhängnisvollen Vietnam-Krieg verstrickte – und der zu allem Überdruss undurchsichtige Querverbindungen zur Mafia unterhielt.

Doch ungeachtet all dieser Einsichten, aus denen hervorgeht, dass Kennedy in Wahrheit ein allenfalls mittelmäßig erfolgreicher Präsident gewesen ist, bleibt sein Nimbus als strahlender Erneuerer der westlichen Welt und Stifter der modernen liberalen Demokratie schlechthin ungebrochen.

In seiner Unzulänglichkeit personifiziert JFK die Demokratie

Die Frage ist indes, ob dieser Mythos nicht trotz, sondern gerade wegen der halb mit aufklärerischer Inbrunst, halb mit erhobenem moralischem Zeigefinger aufgedeckten Schattenseiten des fehlbaren Menschen Kennedy so unverwüstlich ist. Denn mit all diesen gravierenden Schwächen als eine Lichtgestalt zu wirken, die nicht nur den USA, sondern der gesamten freien Welt Hoffnung und Zutrauen in die Stärke und die moralischen Regenerationskräfte einer freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft verliehen hat, wiegt viel schwerer, als wenn es sich bei Kennedy um einen vorbildlichen Tugendapostel gehandelt hätte, dessen moralische Reinheit für den real existierenden Durchschnittsmenschen ohnehin von vorneherein unerreichbar geblieben wäre.

Was aber war die Botschaft, die John F. Kennedy der Welt vermittelt und hinterlassen hat? Sie lautete: Die westliche Demokratie ist jung, dynamisch und hat eine strahlende Zukunft – ungeachtet ihrer Unvollkommenheit, ihrer zahllosen Missstände, ihrer schmutzigen und unansehnlichen Seiten, ihrer dunklen Abgründe, die sie so gerne vor sich selbst und anderen verbergen würde, was sie aber – im Gegensatz zu autoritären Systemen – Gott sei Dank nicht schafft. Die Demokratie ist nicht etwa deshalb stark, weil sie eine saubere, perfekte Welt repräsentierte oder jemals herstellen könnte, sondern weil sie die einzige Staatsform ist, in der freie Menschen mit all dem Unrat der realen Welt in Würde und Selbstverantwortung umzugehen lernen können. Und weil sie als einzige Staatsform die Chance bietet, diese reale, unvollkommene Welt Schritt für Schritt ein wenig besser, gerechter, das heißt: erträglicher zu machen.

Kennedy war, mitsamt all seinen Fehlern, Mängeln und Ungereimtheiten, insofern buchstäblich die Personifikation der modernen westlichen Demokratie. Wie es an ein Wunder grenzt , dass eine solche gebrechliche, bis zur Doppelgesichtigkeit widersprüchliche Persönlichkeit es schaffen konnte, zum Hoffnungsträger der Menschheit zu werden, so erstaunlich erscheint es, wie es die Demokratie immer wieder fertig bringt, trotz all ihrer Schwächen, ihrer Fragilität und ihren Hässlichkeiten ungebrochen als Leuchtfeuer dazustehen, das den Freiheitsbestrebungen der Unterdrückten überall auf der Welt ein konkretes, realisierbares Ziel diesseits utopischer Wolkenkuckucksheime gibt.

JFK und Jackie machten Antikommunismus sexy

Je mehr nun von Kennedys Unzulänglichkeit ans Licht kommt, umso mehr gewinnt diese Identifikation seines Bildes mit dem der fragilen, stets vom Einsturz bedrohten, aber dennoch  immer wieder in neuem Glanz erstrahlenden demokratischen Zivilisation an Plausibilität. Kennedy vermittelte seine Botschaft in einer Zeit, da der Totalitarismus in seiner kommunistischen Variante schier unaufhaltsam auf dem Vormarsch schien und der „dekadente“ Westen darob in Paranoia und Selbstzweifeln zu ersticken drohte.  

In dieser Situation tauchten John F. Kennedy und seine Jackie auf und bewiesen, dass die scheinbar zum Untergang verurteilte westliche Welt nicht nur kraftvoll genug ist, eine neue, unverbrauchte Führungsgeneration hervorzubringen, sondern auch ein Savoir vivre, das dem grauen Kollektivismus der Heilspropheten, die uns die Möglichkeit einer perfekten, sauberen Welt vorgaukeln, unendlich überlegen ist. Die Kennedys verliehen dem zuweilen verkniffenen antikommunistischen Freiheitswillen ein frisches, optimistisches, liberales Gesicht, eine leichtfüßig-elegante Gestalt, die nicht nur kämpferisch, sondern auch sexy war.  Sie lebten vor, warum die Freiheit in einer unerlösten, für immer unfertigen Welt der Selbstaufgabe im Rausch kollektiver Glücksverheißungen jederzeit vorzuziehen ist.

Mögen seine realpolitischen Erfolge, unter dem analytischen Mikroskop betrachtet, auch eher bescheiden gewesen sein: Alleine  seine berühmte Berliner Rede vor dem Rathaus Schöneberg war eine ganze Präsidentschaft wert. Sein legendäres „Ich bin ein Berliner“ war nämlich keine bloße Floskel, keine Anbiederung an den nach Bouletten und Hinterhof müffelnden Lokalpatriotismus der Frontstadt, sondern eine grandiose, bildhaft fassbare Verdichtung seiner universalen Freiheitsbotschaft. Alle freiheitsliebenden Menschen müssten sich in dieser historischen Situation der Umzingelung Berlins durch die Unfreiheit als Berliner betrachten, und deshalb erfülle es Kennedy mit Stolz, sich als ein solcher zu bekennen. Dies war der Kontext und der Sinn seines berühmten Ausspruchs. Kennedy lenkte damit nicht nur den Blick der ganzen Welt auf Berlin als dem aktuellen Vorposten des Kampfs der ganzen Menschheit um Würde und Selbstbestimmung, sondern holte auch für einen großen, unvergänglichen Augenblick die Berliner aus ihren provinziellen Schützengräben heraus und verwandelte sie in stolze Weltbürger und Repräsentanten eines kostbaren, universalen Wertes.

Mythos ist weit mehr als bloß eine Lügengeschichte

Diejenigen, die enttäuscht sind, dass ihre Enthüllungen und Anklageschriften den „Mythos Kennedy“ nicht klein kriegen können, leben im übrigen offenbar im Irrtum darüber, was ein Mythos eigentlich ist. Er ist nämlich nicht bloß eine dumme Lügengeschichte, die man durch die gnadenlose Aufdeckung der nüchternen Fakten zum Einsturz bringen könnte. Im Mythos verdichten sich vielmehr in fiktionaler Überhöhung Erinnerungen, Überlieferungen, Sehnsüchte, Träume, Ängste, Wünsche zu einem ebenso komplexen wie  eingängigen Selbstbild. Dabei ist der Mythos keineswegs identisch mit Verklärung oder Schönfarberei, mit Sachverhalten also, die die Kennedy-Enthüller offenbar in Wirklichkeit meinen, wenn sie dem Wort „Mythos“ eine negative Konnotation verpassen.

Im Mythos ist vielmehr stets auch das  Dunkle, Grausige, Abgründige präsent. Auch die Demokratie hat und braucht ihre Mythen, in denen sie sich und ihre grundlegende Bestimmung wiedererkennt. Gewiss, der Mythos ist zu Recht rationaler Kritik unterworfen, und er wird zum Instrument des Irrationalismus, wenn er als vermeintlich tiefere, „ganzheitliche“ Wahrheit dem „kalten“, „zersetzenden“ Logos entgegengehalten wird. (Deshalb übrigens stellt die Bezeichnung „Verschwörungsmythen“ für die Hervorbringungen wahnhafter „Querdenker“ eine unzulässige Beschönigung dar. Deren irrwitzige, bösartige Fantasmen verdienen nicht die Nobilitierung durch das Etikett „Mythos“.) Aber rationale Kritik, die nicht begreift, dass der Mythos keineswegs nur „falsches Bewusstsein“ ist, sondern durchaus auch Wahrheit enthält, konserviert und tradiert, verfehlt ihrerseits ihren Gegenstand.

Im Mythos Kennedy erkennt sich die demokratische Gesellschaft in ihrem Glanz ebenso wie in ihrer Tragik, in ihren gewaltigen Möglichkeiten wie in ihrer Beschränktheit und Endlichkeit, in ihren märchenhaften Erfolgen wíe in ihren verhängnisvollen Irr- und Abwegen. Einen Mythos wie Kennedy braucht die Demokratie, um sich ihrer Maßstäbe und Ideale zu versichern – nicht in dem hybriden Glauben, diesen jederzeit entsprechen zu können, wohl aber in der Entschlossenheit, weiter danach zu streben, ihnen nahe zu kommen. Und in einigen  Sternstunden gelingt ihr das sogar.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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