Die Ukraine braucht Waffen – und die Aufnahme in die Nato!

Kein politisches Dogma ist hierzulande tiefer verankert als das, bewaffnete Konflikte könnten und dürften nur durch geduldigen „Dialog“ gelöst werden. Doch der Ukraine Defensivwaffen vorzuenthalten, die ihre Verhandlungsposition gegenüber dem Besatzer ihres Territoriums stärken würden, zeugt nicht von einer klugen Friedensstrategie. Sie offenbart vielmehr, wie weit sich Berlin der Eskalationslogik Wladimir Putins unterworfen hat.

Denn die Weigerung Deutschlands, der Ukraine militärisches Gerät zu ihrer Verteidigung gegen die russische Aggression zu liefern, fördert nicht den Frieden im Donbass. Sie ermutigt den Kreml vielmehr dazu, seine Politik der kriegerischen Bedrohung, Erpressung und Destabilisierung eines europäischen demokratischen Landes weiter zu verschärfen.

Die Begründung, mit der Außenminister Heiko Maas kürzlich eine Bitte des ukrainischen Präsidenten nach der Lieferung von Defensivwaffen wie Patrouillenbooten und gepanzerten Fahrzeugen brüsk zurückwies, enthüllte ein fatales unterschwelliges Äquidistanzdenken. Unterstellte Maas der Ukraine doch indirekt, sie verfolge damit ihrerseits aktive kriegerische Absichten. Der Konflikt, so Maas, könne „nur auf politische Weise gelöst werden“ – als habe die ukrainische Regierung anderes im Sinn.

Putin will keinen Frieden

Doch längst ist offenbar geworden, dass Russlands Staatschef Wladimir Putin an einer politischen Lösung, die das Völkerrecht und die territoriale Souveränität der Ukraine wiederherstellt, in keiner Weise interessiert ist. Im Gegenteil: Der Kreml verfolgt das Ziel, das Nachbarland in Gänze wieder unter seine Kontrolle und in das von ihm erstrebte neosowjetische Imperium zu zwingen. Die Verhandlungen im Normandie-Format treten seit Langem auf der Stelle und werden von Moskau lediglich benutzt, um Zeit für die Zementierung seiner Herrschaft über die besetzten Gebiete in der Ostukraine und zur forcierten massiven Aufrüstung auf der annektierten Krim zu gewinnen.

Was im übrigen von den Erfolgsaussichten der deutschen Art des deutschen Einsatzes für „politische Lösungen“ zu halten ist, hat sich zuletzt auf besonders verheerende Weise in Syrien gezeigt. In ihrem soeben erschienenen Buch „Blutige Enthaltung“ haben die Historiker Sönke Neitzel und Bastian Matteo Scianna nachgezeichnet, wie Deutschland im Syrienkrieg mit Friedensappellen und der Befürwortung von Friedensinitiativen stets an vorderster Front stand – um sich dann ganz hinten anzustellen, wenn es darum ging, zu ihrer Umsetzung praktische Beiträge (abgesehen von finanziellen) zu leisten. Verlassen konnten sich die westlichen Bündnispartner stets nur darauf, dass Berlin jeden Ansatz zum Aufbau einer militärischen Drohkulisse gegen das Assad-Regime konsequent hintertrieb.

Das Resultat derartiger „Friedenspolitik“ ist, dass große Teile Syriens von der Kriegsachse Moskau-Teheran-Damaskus in Schutt und Asche gebombt werden konnte, über die Hälfte der syrischen Bevölkerung auf der Flucht ist und die von Russland und Iran gestützte mörderische Diktatur Assads fester im Sattel sitzt denn je. Außenminister Maas´ Beteuerung, die Ukraine könne „sich der deutschen Unterstützung im Konflikt in der Ostukraine und zur Wahrung ihrer territorialen Integrität und Unversehrtheit immer sicher sein“, klingt vor dem Hintergrund solcher deutscher „Verlässlichkeit“ geradezu zynisch.

Makabrer Neutralismus

Um Putin zu ernsthaften Verhandlungen über den Rückzug Russlands von ukrainischem Territorium zu bewegen, bedarf es vielmehr erheblich verstärkter Druckmittel. Doch nicht einmal der kürzliche russische Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze und die damit verbundene Invasionsdrohung brachte die Bundesregierung und die EU dazu, verschärfte Sanktionen gegen den Aggressor zu verhängen – geschweige denn, durch die Stärkung der militärischen Verteidigungskraft der Ukraine mittels der Lieferung von Defensivwaffen einen Beitrag zur Abschreckung seiner Eroberungsgelüste zu leisten.  

Doch die langjährige deutsche Politik der „Zurückhaltung“ hat nicht zur Besänftigung Putins geführt. Er betrachtet diese im Gegenteil als ein Zeichen der Schwäche und als eine Einladung zu immer dreisteren Verstößen gegen das internationale Recht und die europäische Friedensordnung. Berlin und die gesamte deutsche Öffentlichkeit müssen endlich begreifen, dass die Ukraine mit dem Kampf für ihr Recht auf demokratische Selbstbestimmung auch die europäischen Demokratien insgesamt verteidigt, die Putin mit allen Kräften zu unterminieren und zu zerstören versucht. In diesem Kontext gerät das eherne Gebot der deutschen Außenpolitik, „keine Waffen in Spannungsgebiete“ zu liefern, zur makabren neutralistischen Farce, in der die Unterscheidung zwischen Aggressor und Angegriffenem, Täter und Opfer verschwindet.

Weil die Ukraine maßgeblich auch unsere Freiheit sichern hilft, ist es ebenso zwingend wie überfällig, sie zügig in die Nato aufzunehmen. Damit würde die westliche Allianz dem Kreml ein klares Signal senden, dass sich der Preis und das Risiko für die Fortsetzung seiner Aggressionspolitik drastisch erhöht. Wobei einer Vollmitgliedschaft in der Nato das Durchlaufen ihres Mitgliedschafts-Aktionsplans (MAP) vorgeschaltet ist. Dessen Zweck ist es nicht nur, die militärische Standards eines Anwärterstaats an die defensive Ausrichtung des Bündnisses anzupassen, sondern auch, seine rechtsstaatlichen Strukturen zu festigen und zu entwickeln. Für die Ukraine würde die Teilnahme am MAP somit nicht nur einen enormen Zugewinn an Sicherheit bedeuten. Sie wäre auch ein starker zusätzlicher Motor für innenpolitische Reformen, insbesondere auf dem Feld der Korruptionsbekämpfung, und damit für die weitere europäische Integration des Landes.

Defensivwaffen und Nato-Schirm

Schon 2008 wollten die USA die Ukraine und Georgien in den MAP aufnehmen. Die Europäer, allen voran Deutschland, verhinderten dies, weil sie Russland nicht zu mehr Feindseligkeit gegenüber seinen Nachbarn und dem Westen provozieren wollten. Seitdem wurden zuerst Georgien und dann die Ukraine von Moskau mit Waffengewalt überfallen. Wären sie Teil der Nato gewesen, hätte der Kreml dies wohl kaum gewagt. Entgegen der hierzulande gängigen Vorstellung, durch hartes Auftreten gegenüber Putin gieße man zusätzliches „Öl ins Feuer“, gilt: Wo der Schutzschirm der Nato hinreicht, vermindert sich die Aggressionslust Moskaus und damit die Kriegsgefahr.

Dabei erweist sich die aktuell gültige Maxime der Nato, nach der die Aufnahme eines neuen Mitglieds voraussetzt, dass dieses nicht in einen militärischen Konflikt verwickelt ist, im Blick auf die Ukraine als widersinnig. Hält die Nato daran fest, kann der Kreml die Aufnahme der Ukraine ins westliche Bündnis dauerhaft blockieren – einfach, indem er seine kriegerische Aggression gegen das Nachbarland fortsetzt.

Von den wüsten Drohungen, mit denen Moskau den ukrainischen Nato-Beitritt verhindern will, darf sich der Westen nicht einschüchtern lassen. Belegen sie doch nur, wie sehr der Kreml ihn als einen game changer fürchtet. Müsste Moskau damit rechnen, bei weiteren kriegerischen Abenteuern in direkten Konflikt mit der Nato zu geraten, wäre es gezwungen, sein strategisches Kalkül grundlegend zu überdenken. Der Kreml wird von seinem Kriegskurs nur abrücken, wenn ihm das westliche Bündnis unmissverständlich klar macht, dass es vor seiner entfesselten Gewaltbereitschaft nicht länger zurückschreckt. Für Deutschland bedeutet dies, als ersten Schritt seinen doktrinären Irrtum aufzugeben, nach dem die Weigerung, dem Opfer der Aggression Defensivwaffen zu liefern, den Aggressor friedlicher stimmen könnte.

Der Text ist die erweiterte und bearbeitete Fassung meines Beitrags, der am 13.6.21 im Rahmen eines Pro und Contra im „Tagesspiegel“ erschienen ist.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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