No-Go-Area Außenpolitik: Ein Wahlkampf in Deutschland

Außenpolitik? Fehlanzeige. Das weitgehende Schweigen über die globalpolitischen Herausforderungen im Bundestagswahlkampf ist gespenstisch. Im folgenden der Text meiner aktuellen Kolumne im ukrainischen Magazin Український тиждень auf deutsch (und in leicht erweiterter Fassung):

Am vergangenen Sonntag traten die Kanzlerkandidaten von CDU/CSU, SPD und Grünen zu ihrer vorletzten Fernsehdebatte vor der Bundestagswahl in Deutschland am 26. September an. Doch Außenpolitik kam darin nicht vor. Das wirft ein bezeichnendes Licht auf den Stellenwert, der den internationalen Herausforderungen in dem ohnehin inhaltsarmen deutschen Wahlkampf beigemessen wird – wie in der deutschen Politik und Öffentlichkeit insgesamt.

Kurzfristig hatte der katastrophale Rückzug des Westens aus Afghanistan und die vollständige Fehleinschätzung der dortigen Lage vor der Machtergreifung der Taliban, die die deutsche Bundesregierung zu verantworten hat, zwar für Entsetzen und scharfe Kritik in Politik und Medien gesorgt. Doch inzwischen ist das afghanische Desaster bereits wieder in den Hintergrund der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt, und von der zunächst von Politikern verschiedener Parteien erhobenen Forderungen nach einer Grundsatzdebatte über die strategische Ausrichtung der deutschen Außenpolitik findet sich keine Spur.

Dabei stehen in den kommenden Jahren europa- und weltpolitische Weichenstellungen an, die für den Fortbestand der EU, des transatlantischen Bündnisses und der liberalen Demokratie insgesamt von existenzieller Bedeutung sind. In Ungarn und Polen sind die Grundlagen des demokratischen Rechtsstaats in Gefahr, und in Frankreich könnte im kommenden Jahr mit Marine Le Pen eine offene Gegnerin der EU zur Präsidentin gewählt werden. Dass der Diktator Lukaschenko unter Moskaus Anleitung die demokratische Opposition seines Landes aus, lässt den Anschluss von Belarus an die Russische Föderation immer wahrscheinlicher werden. Damit aber würde Putins autoritäres Imperium ein Stück näher an die Grenzen der EU heranrücken. Aber nicht nur Russland, auch das totalitäre China gewinnt zunehmend an Einfluss auf die politischen und institutionellen Geschicke der europäischen Demokratien

Lippenbekenntnisse zur NATO

Doch zu diesen Bedrohungen herrscht im deutschen Wahlkampf ein geradezu gespenstisches Schweigen. Dabei fällt Deutschland als der stärksten Macht in der EU eigentlich eine Führungsrolle bei der Entwicklung von Konzepten zur inneren Stabilisierung der EU und zur Stärkung der Widerstandskraft des westlichen Bündnisses gegenüber seinen autoritären Herausforderern zu übernehmen – auch auf militärischem Gebiet.

Gerade dieser Aspekt gilt in Deutschland jedoch nach wie vor als ein besonders heikles Thema. Die CDU/CSU befürwortet zwar die politische und militärische Stärkung der NATO und die Erfüllung des Zwei-Prozent-Ziels des Bündnisses durch Deutschland, stellt diese Aufgabe jedoch nicht in den Vordergrund ihrer politischen Agenda. Zudem ist ihr Kanzlerkandidat Armin Laschet in den vergangenen Jahren immer wieder durch Verständnis für Putins Russland und Stellungnahmen im Sinne der Kreml-Propaganda aufgefallen. Auch wenn er sie in jüngster Zeit nicht wiederholt hat – klar distanziert hat er sich von seinen früheren Äußerungen nie.

Die SPD gibt zwar Lippenbekenntnisse zur NATO und zur deutsch-amerikanischen Partnerschaft ab, doch führende Köpfe der Partei stellen essenzielle Komponenten der deutschen Zugehörigkeit zur Atlantischen Allianz, wie etwa die nukleare Teilhabe, in Frage, ebenso wie das Zwei-Prozent-Ziel. Ihr Kanzlerkandidat Olaf Scholz hat zwar nie eine ausgeprägte Nähe zu Moskau gezeigt – bei vielen seiner Parteikollegen sieht das jedoch ganz anders aus.

Die einzige Partei, die eindeutig einen härteren Kurs gegenüber den aggressiven Diktaturen in Russland und China fordert, sind die Grünen. Doch aufgrund ihres pazifistischen Erbes scheuen sie vor dem dazugehörigen Aspekt der militärischen Abschreckung zurück. Immerhin wagte ihr Co-Vorsitzender Robert Habeck vor Monaten als einziger deutscher Spitzenpolitiker den – von Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock mitgetragenen – Vorstoß, die Lieferung von Defensivwaffen an die Ukraine ins Spiel zu bringen. Bereits das gilt in Deutschland als unerhörter Tabubruch. Doch im Wahlkampf wurde er von den Grünen nicht wiederholt.

Vagheit macht unberchenbar

Welche Koalition in Zukunft Deutschland regieren wird, ist so offen wie nie zuvor. Nach den aktuellen Um fragen ist eine Dreierkoalition aus CDU/CSU, den Grünen und Liberalen ebenso denkbar wie eine zwischen Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen, aber auch andere Kombinationen zwischen diesen politischen Kräften. Und selbst ein Linksbündnis aus SPD, Grünen und der kremlnahen Linkspartei, die die NATO ebenso ablehnt wie die Sanktionen gegen Russland, liegt im Bereich des Möglichen. Um sich alle Optionen offenzuhalten und es sich mit keinem potenziellen Koalitionspartner zu verderben, vermeiden die Parteien untereinander allzu harte inhaltliche Auseinandersetzungen. Damit werden ihre ohnehin nicht sehr ausgeprägten politischen Positionen weiter verwässert – insbesondere die außenpolitischen.

Diese Vagheit führt zu einer paradoxen Situation: Zwar wird sich an der bisherigen deutschen Außenpolitik unter der nächsten Regierung nichts wesentliches ändern. Dass die beteiligten Akteure ihre außenpolitischen Ziele und Konzepte jedoch nicht deutlich ausformulieren, macht es unklar, wie sie sich in kommenden Krisensituationen verhalten werden. Während für die deutsche Außenpolitik grundsätzlich die Devise: „Weiter so“ gilt, wird ihre zukünftige konkrete Ausprägung somit unberechenbarer. Darauf muss sich auch die Ukraine einstellen. Die bisherige Unterstützung durch Berlin steht vorerst nicht in Frage. Doch wie konsequent sie durchgehalten wird, wenn der Druck aus Moskau immer stärker wird, ist ungewisser denn je.

Der Wunsch nach Kontinuität und Stabilität im Inneren wie Äußeren überragt in Deutschland nach wie vor sämtliche politische  Erwägungen. Dabei ist ein Paradigmenwechsel im deutschen außenpolitischen Auftreten längst überfällig. Um ein gewisses Maß an Stabilität in den internationalen Beziehungen zu bewahren, muss der Westen eine schärfere Konfrontation mit den Mächten riskieren, die sie gefährden. Das bisherige deutsche Patentrezept, sich als Stifter von „Dialog“ und Interessensausgleich selbst mit den aggressivsten Feinden der westlichen Demokratien zu profilieren, während man der Führungsmacht USA und anderen Verbündeten den konfrontativen Teil des Umgangs mit ihnen überlässt, greift nicht mehr.

Unter den deutschen Politikerinnen und Politikern gibt es jedoch niemanden, der die Deutschen offen mit dieser unangenehmen Wahrheit zu konfrontieren wagt – nicht zuletzt, weil es ihnen selbst an globalpolitischer Erfahrung und Übersicht fehlt.

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Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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