Was in Putins Kopf vorgeht, konnten alle längst wissen

Politikerinnen und Politiker verschiedener Couleur, vorneweg Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, räumen jetzt mit aufgesetzter Zerknirschung ein, sich in Wladimir Putin und seinen Absichten all die Jahre lang „getäuscht“ zu haben. Was der Kreml-Autokrat jetzt in der Ukraine anrichtet, hätten sie sich niemals vorstellen können. Aber das sind fadenscheinige Ausreden, mit denen sich die tragenden Kräfte der deutschen Russlandpolitik im Schnellverfahren aus der Verantwortung für ihre nicht selten die Grenzen der Kollaboration überschreitende Kooperationsbereitschaft mit dem Putin-Regime ziehen wollen. In Wahrheit konnte sich in Putin nur täuschen, wer sich mit aller Kraft und Hingabe täuschen lassen wollte. Denn schon vor Jahren lagen zahlreiche präzise Analysen und Diagnosen vor, die über das ganze Ausmaß der Bedrohung, die vom Putinismus ausgeht, keine Zweifel ließen. Welche ideologischen Einflüsse den Kreml-Herrscher antreiben, machte etwa die Studie „In Putins Kopf“ des französischen Autors Michel Eltchaninoff deutlich.

Eltchaninoffs 2016 erschienenes Buch, das jetzt in einer erweiterten Taschenbuchausgabe neu aufgelegt worden ist, widerlegte bereits damals die hierzulande in Politik und Medien weit verbreitete Fehleinschätzung, für Putin spiele Ideologie keine Rolle, er sei vielmehr ein kühl kalkulierender Pramatiker, dem es ausschließlich um seinen Machterhalt gehe. Dagegen wies Eltchaninoff nach, welch aggressives Gemisch aus messianisch-apokalyptischen, antiwestlichen, großrussisch-imperialistischen wie „eurasischen“ Theoremen sich in Putins Kopf zusammengebraut hat:. „Die philosophischen Quellen des Putinismus, so verschiedenartig sie auch sein mögen, beruhen alle auf zwei Grundtendenzen: der Idee des Imperiums und der Apologie des Krieges.“ Doch die politisch Verantwortlichen im Westen, und namentlich in Deutschland, ignorierten alle Warnungen oder spielten sie bis zuletzt herunter. Dabei hätten sie nur beim Wort nehmen müssen, was Putin und sein Ideologie-Produktionsapparat seit Langem offen propagiert haben.

Im folgenden gebe ich noch einmal meine Rezension des Buches von Eltchaninoff wieder, die im Februar 2016 in der „Literarischen Welt“ erschienen ist:

Was Wladimir Putin antreibt, ist zur Schlüsselfrage der internationalen Politik geworden. Seit der Kreml einen Weltkrieg an die Wand malt und sich seine Absprachen mit dem Westen, wie jetzt zu Syrien, nur als Manöver entpuppen, um mit militärischem Einsatz vollendete Tatsachen zu schaffen, wächst in der westlichen Öffentlichkeit die Nervosität. Hat man die Absichten des russischen Präsidenten sowie seinen Willen und seine Mittel, sie durchzusetzen, womöglich sträflich unterschätzt?

Wie oft war vonseiten westlicher Analysten und Politiker zu hören, Putin betätige sich in der weltpolitischen Arena gewiss als unangenehmer Störenfried, doch werde ihm – schon wegen der schwächelnden russischen Wirtschaft – bald die Luft ausgehen. Er müsse dann wohl oder übel sein nationalistisches Rabaukentum mäßigen und zur Kooperation mit dem Westen zurückkehren. Doch solche Selbstberuhigungsrituale beantwortet der Kremlherr stets mit einer weiteren Verschärfung seines Konfrontationskurses. So wachsen die Zweifel, ob sich Putins Vorgehen im Rahmen der üblichen Machtpolitik bewegt oder ob es nicht doch einem ideologischen, messianischen Furor geschuldet ist und sich daher solcher Berechenbarkeit entzieht.

Elitekorps KGB

Das Buch des französischen Philosophen und Journalisten Michel Eltchaninoff rekonstruiert jetzt akribisch die Readymade-Weltanschauung, die dem Machtmenschen Putin zur Herrschaftslegitimation dient. Es konterkariert die verbreitete Auffassung, Ideen seien für ihn nur Vorwand, um sein nacktes Interesse am Machterhalt zu bemänteln. So voluntaristisch sein Zugriff auf ideelle Begründungen auch sein mag, sie haben sich doch längst zu einer Obsession verdichtet, die von seinem persönlichen Herrschaftsanspruch nicht mehr zu trennen ist. Eltchaninoff beschreibt präzise die Wandlung Putins vom pseudoliberalen Pragmatiker mit Hang zur Sowjetnostalgie in den frühen Jahren seiner Regentschaft zum zynischen Kriegsherrn und Propagandisten einer neuen großrussischen imperialen Idee. Der Autor stellt die philosophischen, politik- und kulturtheoretischen Quellen vor, die Putin anzapft, und nennt die Figuren, die ihm die Materialien für sein Denkgebäude zuliefern.

Denn ein eigenständiger Leser, gar ein intellektueller Kopf, ist der gelernte KGB-Offizier keineswegs. Spätestens seit Beginn seiner dritten Amtszeit als Präsident 2012 ist ihm jedoch klar, dass der auf seine Führungspersönlichkeit zugeschnittene Machtapparat einen geistigen Überbau brauche, der weder in einer simplen Nachbildung der alten sowjetischen Staatsideologie noch im bloßen restaurativen Rückgriff auf Konzepte der zaristischen Epoche oder des „weißen“ Antibolschewismus der Revolutionszeit bestehen könne. Putin schafft es vielmehr, Grundelemente sowjetischen Denkens mit großrussisch-nationalistischen Ideologien wie dem Panslawismus und Eurasismus zu verschmelzen.

Die von ihm in den vergangenen Jahren vollzogene „konservative Wende“, wie Eltchaninoff es nennt, absolviert Putin, ohne dass seine Loyalität zum sowjetischen Erbe erschüttert wird. Denn, so Eltchaninoff, er teilt „die hauptsächlichen Werte der sowjetischen Gesellschaft voll und ganz“ – namentlich „die Liebe zur Heimat.“ Daneben gibt es noch zwei, weit problematischere, Grundpfeiler des Sowjetsystems, die Putin in seine Machtstruktur übernommen hat. Es ist zum einen der in FSB umbenannte Geheimdienst KGB, den er laut Eltchaninoff als „Elitekorps des russischen Vaterlands“ betrachtet. Den zweiten Grundpfeiler stellt die „militaristische Kultur“ dar, die das gesamte sowjetische Leben durchdrang und im Kult um den heroischen Sieg im Großen Vaterländischen Krieg kulminierte. Dessen Revitalisierung erlaubt es Putin, die Verherrlichung militärischer Gewalt mit einem moralischen Sendungs- und Überlegenheitsanspruch Russlands zu verbinden. Bezüglich seines Verhältnisses zum internationalen Recht lässt das nichts Gutes erahnen. „Wir haben ein unermesslich großes moralisches Recht, unsere Positionen auf grundlegende und dauernde Weise zu verteidigen“, erklärte er 2012 in seiner Rede zum Tag der Kapitulation Nazideutschlands. „Denn unser Land war es, das den Großteil der Nazioffensive zu erdulden hatte … und den Völkern der Welt die Freiheit geschenkt hat.“

Imperium in Putins Kopf

Der Anteil der Westalliierten an diesem Geschenk fällt dabei ebenso unter den Tisch wie das düstere Kapitel des Stalin-Hitler-Pakts und die Tatsache, dass dem Sieg der Roten Armee Jahrzehnte totalitärer Unterdrückung eines Teils Europas durch die Sowjetunion folgte. Wie der Kremlherr das „unermesslich große moralische Recht“ Russlands auslegt, sollten bald die Ukrainer zu spüren bekommen, wurde die Aggression gegen das Nachbarland doch mit dem Kampf gegen eine fiktive „faschistische Kiewer Junta“ gerechtfertigt. Der „Antifaschismus“ ermächtigt den russischen Neoimperialismus, sich über das Völkerrecht zu stellen.

Doch um sein Herrschaftssystem stabil und Russland für den geplanten Wiederaufstieg zur Großmacht geistig fit zu machen, reicht in Putins Augen die Glorifizierung eines um die kommunistische Staatsideologie reduzierten Sowjetismus nicht aus. Die Hinwendung des Kremlchefs zum Ideenarsenal des großrussischen Nationalismus setzt um 2007 ein. Anfangs hatte sich Putin noch als ein eher dem Westen zugeneigter Politiker geriert. Nun aber sucht er in der russischen Vergangenheit nach intellektuellen Gewährsleuten, die sein Weltbild vom zersetzenden westlichen Liberalismus stützen sollen, der Russland seines Wesens berauben und zerstören wolle. Als Bollwerk dagegen betrachtet Putin die russisch-orthodoxe Kirche, die er deshalb zu einer tragenden Säule seines Herrschaftssystems macht.

Ein enger Vertrauter, der nationalkonservative Filmemacher Nikita Michalkow, wies Putin auf Iwan Iljin hin, den er bald eifrig zitierte. Dieser Denker der „weißen“, antibolschewistischen Emigration mit Sympathien für den Faschismus wetterte nicht nur gegen die „formale Demokratie“ des Westens. Er visioniert schon in den Zwanzigerjahren den „Aufstieg der Besten nach ganz oben“ als „Hauptaufgabe für das Heil und den nationalen Wiederaufbau“ nach dem Ende des Kommunismus: „Männer, die Russland ergeben sind, ein Gespür für seine Nation haben, seinen Staat denken, energisch kreativ, dem Volk nicht Rache und Niedergang bringen, sondern den Geist von Befreiung, Gerechtigkeit und Eintracht zwischen den Klassen.“

Sätze, die für Putin wie eine vorweggenommene Beschreibung der Rolle klangen, die er sich selbst als Retter und Erneuerer der russischen Nation zugedacht hat. Fündig wird Putin auch bei antiwestlichen Philosophen des 19. Jahrhunderts wie Konstantin Leontjew, einem russischen Vorläufer Oswald Spenglers, der den Westen seit der Renaissance in einem durch die Abkehr von den christlichen Werten des „Abendlands“ bewirkten Niedergang sah. Oder bei Nikolai Danilewski, der den Zusammenschluss aller Slawen unter Führung Russlands forderte, sowie bei den „Eurasiern“ des frühen 20. Jahrhunderts wie Piotr Sawizki und Nikolai Trubetzkoy, die sich Russland zum Zentrum eines europäisch-asiatischen Großreichs als Antipode zum „dekadenten“ Westen zurechtfantasierten. Nachschub an solchen Konstrukten liefert dem Präsidenten die Internetseite „Die russische Idee“. Betrieben wird sie von dem Putin ebenfalls nahestehenden Boris Meschujew.

Im Stile des postmodernistischen Eklektizismus pickt Putin aus diesem Angebot heraus, was ihm für sein Projekt einer ideellen Immunisierung des russischen Bewusstseins gegen westliche Versuchungen passend erscheint. Sein Arsenal ist dabei keineswegs nur originär russisch. Es umfasst auch Gedankengut der deutschen „Konservativen Revolution“ um Carl Schmitt, Ernst Jünger und Ernst Niekisch – was den Beziehungen des Putinismus zur europäischen extremen Rechten ideologischen Kitt verleiht. „Die philosophischen Quellen des Putinismus, so verschiedenartig sie auch sein mögen, beruhen alle auf zwei Grundtendenzen: der Idee des Imperiums und der Apologie des Krieges“, resümiert Eltchaninoff. Mögen es alle, die sich die Herausforderung durch Putins Russland noch immer kleinreden, zur Kenntnis nehmen – und erschrecken.

Was sonst noch in Putins Kopf und den Köpfen seiner Einpeitscher vor sich geht:

Marina Weisband über den Wahn im russischen TV. Weisband über russisches TV: „In Talkshows wird diskutiert, wie ein Atomkrieg ablaufen könnte“ – n-tv.de

Timothy Snyder über das russische Handbuch zum Genozid: Russia’s genocide handbook – by Timothy Snyder (substack.com)

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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