NATO: Von der Ukraine lernen heißt siegen lernen!

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi hat angekündigt, den beschleunigten Beitritt der Ukraine in das transatlantische Bündnis zu beantragen, Dieser Schritt erfolgt völlig zu Recht und genau zum richtigen Zeitpunkt. Die Ukraine nicht in die NATO aufzunehmen, war ein verhängnisvoller strategischer Fehler des Westens, der Russland zu seinem Vernichtungskrieg ermutigt hat. Es war der größte und folgenreichtste strategische Fehler in der Geschichte der Atlantischen Allianz überhaupt.

Zu all den zwingenden Argumenten für den Beitritt des Landes zum westlichen Bündnis, die ich schon früher immer wieder benannt und etwa in meinem Beitrag vom Februar 2021 zusammengefasst habe (s. hier), ist nun ein äußerst gewichtiges hinzugekommen: Die Ukraine demonstriert den NATO-Staaten, wie man sogar gegen einen vermeintlich übermächtigen und exzessiv grausamen Feind erfolgreich Krieg führt – und das, obwohl sie längst nicht über die waffentechnologische Ausrüstung verfügt wie diese.

Was haben dagegen die NATO-Staaten zu bieten? Kaum mehr als ein Jahr ist es her, dass sie unter schändichsten Umständen vor den Taliban die Flucht ergriffen haben, die sie in 20 Jahren nicht besiegen konnten, und Afghanistan damit eiskalt seinen Schlächtern auslieferten. Das prädestiniert sie nicht gerade zu Lehrmeistern in Sachen militärischer und strategischer Fähigkeiten sowie moralischer Festigkeit. Die über viele Jahre hinweg an den Tag gelegte herablassende Haltung, nach der die Ukraine noch nicht reif für die Aufnahme in die transatlantische Allianz sei, wird vor diesem Hintergrund ad absurdum geführt. Die Aufnahme der Ukraine in die NATO als Gnade, als Belohnung dafür, dass sie vorher noch allerlei Kriterien erfüllt? Grotesk. Wenn überhaupt irgendjemand irgendetwas von irgendjemandem lernen kann, dann die Nato von der Ukraine – und nicht umgekehrt.

Die NATO braucht die Ukraine

Die Frage stellt sich nämlich längst ganz anders: Angesichts der enormen Kampfkraft der ukrainischen Armee und des beispielhaften Freiheitswillens des ukrainischen Volkes müsste die NATO die Ukraine eigentlich auf Knien anflehen, ihr so schnell wie möglich beizutreten. Tatsache ist: Die NATO braucht die Ukraine noch viel mehr als die Ukraine die NATO. Mehr noch: Ohne die Ukraine hat die NATO keinerlei Wert mehr. Weist sie den tapfersten, opferbereitsten und kompetentesten Verteidiger unserer aller Freiheitswerte zurück, steht ihr Bekenntnis zu diesen allenfalls noch auf dem Papier.

Denn nicht nur militärisch, sondern auch gesellschaftlich kann der Westen von der Ukraine nur lernen – und hat dies auch dringend nötig. Während in zahlreichen westlichen Demokratien – von den USA über Frankreich bis Italien, über kurz oder lang aber auch in Deutschland – der gesellschaftliche Zusammenhalt zu zerbrechen droht, lebt ihnen die Ukraine vor, wie man größte Wehrhaftigkeit mit einem beispielhaften, die Nation einenden zivilen demokratischen Patriotismus verbindet. Während in weiten Teilen des Westens der Geist der Freiheit, die die NATO verteidigen soll, am Erlöschen ist, wird er in der Ukraine gerade auf eindrucksvolle Weise neu entfacht, Der Ukraine als Beitrittsvoraussetzung noch weitere demokratische Zuverlässigkeitsbeweise abzufordern, wirkt deshalb gerdezu obszön – schon gar angesichts der Tatsache, dass in der NATO Staaten wie die Türkei und Ungarn geduldet werden, die niemand noch ernsthaft als mustergültige Demokratien bezeichnen kann,

Überfälliges Zeichen

Wenn sich die führenden westeuropäischen Staaten, allen voran Deutschland, aber auch die US-Regierung weiterhin gegen den ukrainischen NATO-Beitritt sperren, sollten sie sich dabei zumindest nicht hinter vorgeschobenen Argumenten verschanzen. Der wahre und einzige Grund für ihre abweisende Haltung ist ihre panische Angst davor, von Putin als Kriegspartei betrachtet und so „in den Krieg hineingezogen“ zu werden. Das aber zeigt nur, dass sie das Wesen des Putin-Regimes noch immer nicht begriffen haben. Putin hat ja doch den Westen – zuletzt in seiner jüngsten Rede — bereits längst explizit als seinen wahren Krigsgegner bezeichnet.

Von weiteren Wahnsinnstaten wie einem Angriff auf NATO-Gebiet kann man das putinistische Russland nicht abhalten, indem man versucht, ihm durch Zurückhaltung „Ängste zu nehmen“ oder durch ähnliche unsinnige Manöver. Sondern nur, indem man ihm härteste Entschlossenheit demonstriert und ihm klar macht, dass alle seine Drohungen das genaue Gegenteil dessen bewirken, das sie bezwecken. Die beschleunigte Aufnahme der Ukraine ins transatlantische Bündnis wäre ein solches starkes und längst überfälliges Signal an den Aggressor, dass er mit keinerlei Nachsicht und Nachgiebigkeit mehr zu rechnen hat. Die baltischen Staaten und Polen haben dies längst begriffen und unterstützen deshalb das ukrainische Beitrittsbegehren. In westlichen Hauptstädten wird im Blick auf die Jahre vor der russischen Großinvasion heute gerne lamentiert, man hätte vielleicht doch rechtzeitig mehr auf die Balten und Polen hören sollen. Dann sollte man das aber doch zumindest jetzt tun,

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Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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