Demokratie ist so kostbar, weil sie unvollkommen ist. Eine Rede

Demokratie – was macht sie aus, wodurch ist sie gefährdet, wie überwindet man das Erbe der Diktatur und widersteht den neuen Verlockungen der Unfreiheit? Zum 30jährigen Bestehen des Amts des Thüringer Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur fand am 16. November im Thüringer Landtag in Erfurt eine Jubiläumsveranstaltung statt. Ich war eingeladen, die Festrede zu halten. Hier ihr Wortlaut:

Die freiheitlichen Demokratien – nicht nur Europas – sind heute in ihrer Existenz bedroht wie vielleicht seit 1945 nicht mehr. Wir sollten uns nichts vormachen: Wir befinden uns faktisch bereits mitten in einem Krieg, den eine Phalanx autoritärer Mächte an verschiedenen Punkten des Globus gegen die demokratischen Zivilisation und ihre Werte entfesselt hat.

Der von der Islamischen Republik Iran angetriebene Überfall der Hamas auf Israel und ihr Massaker an 1400 wehrlosen israelischen Zivilisten – die größte Mordaktion gegen Juden seit dem Holocaust  sowie Russlands Vernichtungskrieg gegen die Ukraine können nicht isoliert voneinander betrachten werden. Nicht von ungefähr erinnert das bestialische Vorgehen der palästinensischen Mordkommandos, ihr wahlloses Töten, Misshandeln und Verschleppen von Menschen jeden Alters und Geschlechts, auf grauenvolle Weise an die Massaker, die von den russischen Invasionstruppen in der Ukraine, an Orten wie Butscha und Irpin, verübt worden sind. Und auch in dem massiven Raketenterror der Hamas gegen die israelische Zivilbevölkerung erkennt man wieder, was die Ukrainerinnen und Ukrainer fast täglich zu erleiden haben.

Russland und der Iran bilden heute eine enge strategische Allianz und betreiben den Aufbau einer globalen antiwestlichen Achse, zu der mit Nordkorea unter anderem auch die wohl grauenvollste Diktatur gehört, die derzeit auf dem Erdball existiert. Aber auch das übermächtige China, das selbst auf den günstigsten Zeitpunkt lauert, um sich das demokratische Taiwan militärisch einzuverleiben,  teilt die Einschätzung Putins und seiner islamistischen Komplizen in Teheran, dass der historische Zeitpunkt für die Zerstörung der vom westlichen Universalismus geprägten regelbasierten Weltordnung jetzt gekommen sei – wie das Ende der Epoche der liberalen Demokratie überhaupt.

Wiederholungszwang 

In den westlichen Demokratien wird diese Bedrohung aber meist noch immer nicht in ihrer ganzen Dimension und Tragweite erkannt. Offenbar sind sie mit einem Reflex ausgestattet, tödliche Bedrohungen nicht wahrhaben zu wollen oder sie so lange wie möglich klein zu reden. Damit verbunden ist ein kollektiver Verlust des Kurzzeitgedächtnisses in Bezug auf frühere katastrophale Erfahrungen mit der vernichtenden Gewalt aggressiver Feinde von Freiheit und Menschenwürde. So gaben sich die westliche Politik und Öffentlichkeit angesichts des terroristischen Überfalls auf Israel einmal mehr völlig überrumpelt und fassungslos über derartige vermeintlich „unvorstellbare“ Verbrechen – so, als hätte es den 11. September, die Horrortaten der Taliban und des Islamischen Staats sowie den dschihadistischen Massenterror in Paris, London und Madrid nie gegeben.

Ähnliche bestürzte Bekundungen, derartiges nicht für möglich gehalten zu haben, waren bereits nach Beginn des russischen Angriffs auf die gesamte Ukraine zu vernehmen. Ungläubig konstatierte man etwa, dass damit Krieg und Kriegsverbrechen „nach Europa zurückgekehrt“ seien. Abgesehen davon, dass die Invasion der Ukraine durch Russland bereits vor neun Jahren begann – es ist gerade einmal gut dreißig Jahre her, dass der Balkan-Krieg ausbrach, in dessen Verlauf grauenvolle, zynisch als „ethnische Säuberungen“ bezeichnete Verbrechen an der Zivilbevölkerung begangen wurden, zum allergrößten Teil von den Kräften des großserbischen Nationalismus, und zwar mit Rückendeckung Moskaus. Was damals vor allem den Bosniern angetan wurde, nahm in vieler Hinsicht vorweg, was Russland mittlerweile selbst praktiziert.

Wie in einem Wiederholungszwang reproduziert sich das Muster aus hartnäckiger Verleugnung oder Beschönigung des Bösen und dem jähen Erwachen aus der Illusion, ökonomischer und wissenschaftlicher Fortschritt werde unausweichlich globale gesellschaftliche Humanisierung nach sich ziehen. Die Unfähigkeit, jederzeit mit dem Einbruch der äußersten Unmenschlichkeit zu rechnen und rechtzeitig Vorkehrung dagegen zu treffen, erweist sich so als empfindliche Schwachstelle, wenn nicht gar als ein eingebauter Selbstzerstörungsmechanismus der demokratischen Zivilisation.

Konditionierung


Der französische Philosoph André Glucksmann hatte kurz vor seinem Tod 2015 dieses Phänomen in ein Axiom gefasst, das lautet: „Wer davon überzeugt ist, dass es die ganz große Krise, die große Katastrophe nicht mehr geben kann, der handelt sie sich erst recht ein.“

Dementsprechend sollten wir uns keinen neuen Illusionen hingeben wie der, dass Russland, sollte es in der Ukraine nicht militärisch besiegt werden, an den Grenzen der NATO Halt machen würde. Die Anführer des Kreml-Regimes lassen schon längst keinen Zweifel mehr daran, dass sie ihren genozidalen Angriff auf die Ukraine nur als den Auftakt zu einem  noch viel größeren Krieg gegen das betrachten, was sie den „kollektiven Westen“ nennen. Bei seinen Aggressionsplänen hat der Kreml explizit auch Deutschland im Visier.  Und das würde sich übrigens nicht schlagartig ändern, sollte Putin morgen plötzlich tot umfallen. Vielmehr wird eine ganze Generation junger Russen mittels einer lügnerischen Umschreibung der Geschichte für den revanchistischen Kurs des Regime konditioniert. In russischen Geschichtsbüchern wird Schülern der 11. Klasse neuerdings folgendes gelehrt:

„Im Jahr 1989 begann der einseitige Abzug der sowjetischen Truppen aus Ost- und Mitteleuropa. Dies war eine besonders unüberlegte Entscheidung, denn die Schwächung der sowjetischen Militärpräsenz in den verbündeten Ländern führte zu einer drastischen Verschärfung nationalistischer und antisowjetischer Stimmungen. Der kollektive Westen nutzte dies aus. In den Jahren 1989-1990 fanden in Polen, der DDR, der Tschechoslowakei, Ungarn, Bulgarien und Albanien die so genannten „samtenen Revolutionen“ statt. Im Dezember 1989 wurde das Regime von N. Ceaușescu in Rumänien mit Waffengewalt gestürzt. 1990 annektierte die BRD Ostdeutschland. Die DDR wurde von der BRD einverleibt. Dabei versprachen die westlichen Staats- und Regierungschefs Gorbatschow mündlich, dass die NATO nicht nach Osten erweitert würde. Diese Versprechen wurden später gebrochen.“

Anfällige Demokratie

Man sieht daran, dass die aktuelle Offensive autoritärer Mächte nicht nur militärischer Natur ist, sondern auch einen Generalangriff auf die Wahrheit schlechthin beinhaltet. Wie angesichts dieser bedrohlichen Herausforderung eine Partei in ostdeutschen Bundesländern zur stärksten und in Gesamtdeutschland zur zweitstärksten Kraft avancieren kann (wenn auch vorerst nur in Umfragen), die sich als besonders patriotisch gebärdet, aber mehr oder weniger offen als Schallverstärker der Propaganda einer feindlichen fremden Macht, des Kreml-Regimes, auftritt, ist schwer zu begreifen. Mit der angekündigten Sarah-Wagenknecht-Partei wird sich in Kürze eine weitere Partei hinzugesellen, die dem russischen Desinformationsapparat nach dem Munde redet. Diese neue Kraft ist insofern „innovativ“, als man bei ihr gar nicht mehr sagen kann, ob sie eher „rechts“ oder „links“ ist – oder beides gleichzeitig.

Entwicklungen wie diese zeigen, wie anfällig die Demokratien – deren Zahl weltweit im Verlauf der vergangenen zwei Jahrzehnte übrigens drastisch zurückgegangen ist – gegenüber den Verlockungen und Täuschungsmanövern des neuen Autoritarismus sind. Nicht nur in EU-Staaten wie Ungarn, wo sie bereits weitgehend beseitigt ist, und Polen, wo sie auf der Kippe steht, ist die Rechtstaatlichkeit in Gefahr. Was es für den Fortbestand der US-Demokratie ebenso wie den Zusammenhalt des transatlantischen Bündnisses bedeuten würde, sollte Donald Trump im kommenden Jahr erneut zum Präsidenten gewählt werden, mag man sich gar nicht ausmalen.

Die demokratische Euphorie, die nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Totalitarismus in Europa ausgebrochen war, scheint aufgebraucht. Mehr noch, dass sich Juden in Deutschland wieder vor Übergriffen antisemitischer Mobs, dieses Mal islamistischer Ausprägung, fürchten müssen, zeigt, wie fragil und gefährdet elementare Errungenschaften der demokratischen Zivilisierung Deutschlands sind, die wir bereits für unumkehrbar gehalten hatten.

Inspiration Ukraine

Allerdings gibt uns zugleich die Ukraine ein beeindruckendes Beispiel dafür, welche Aufbruchs- und Widerstandskräfte die Sehnsucht nach Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nach wie vor zu wecken in der Lage ist.

Doch statt sich davon inspirieren zu lassen, ist die Demokratieverdrossenheit in Deutschland heute höher denn je seit dem Ende des Kalten Kriegs. Obwohl sie in den ostdeutschen Länder besonders ausgeprägt erscheint, stellt dies aber keineswegs nur ein ostdeutsches Problem dar. Überhaupt möchte ich im folgenden nicht falsch verstanden werden: Es geht mir nicht darum, mit dem Finger auf „die Ostdeutschen“ zu zeigen. Die unzureichende Aufarbeitung der Diktaturgeschichte betrifft nicht nur die früheren DDR-Bürger selbst, auch die westdeutsche Gesellschaft hat sich mit Euphemismen wie der Aussicht auf „blühende Landschaften“ darüber hinweggetäuscht, wie tiefgreifend und langwierig die ökonomischen, sozialen und mentalen Folgeschäden einer Diktatur sind.

Und gewiss mag an dem Verlauf des deutschen Vereinigungsprozesse manches legitimerweise zu kritisieren sein. Doch es ist beängstigend, wenn diese Kritik in eine grundsätzliche, sich immer mehr verfestigende Demokratieverachtung umschlägt und ausgerechnet Kräfte davon profitieren, die gezielt alte autoritäre Denkstrukturen reaktivieren.

Um den Ursachen dafür auf die Spur zu kommen, ist es aber bestimmt nicht hilfreich, wenn in der deutschen Debatte noch immer, ja sogar verstärkt das Bild von den Ostdeutschen als passive, hilflose Opfer vermeintlicher Benachteiligung und Ausgrenzung, wenn nicht der „Kolonisierung“ durch den Westen kultiviert wird. Diesem Stereotyp zufolge wenden sich Ostdeutsche nur deshalb in solch großer Zahl antidemokratischen Parteien zu, weil sie vom Westen chronisch missverstanden und missachtet würden.

„Bunte“ Diktatur?


So in etwa klingt es aus einem zum Bestseller avancierten Buch des Autors Dirk Oschmann, das suggeriert, die grassierenden antiliberalen Ressentiments in Ostdeutschland seien nur eine „Erfindung“ des Westen, die dazu diene, die Ostdeutschen pauschal zu diskreditieren und abzuwerten, um sie weiterhin von führenden Positionen in Staat und Gesellschaft ausschließen zu können.

In eine ähnliche Richtung zielt die Historikerin Katja Hoyer, die mit ihrem gleichfalls höchst erfolgreichen Buch „Diesseits der Mauer“eine „neue Geschichte der DDR“ zu präsentieren verspricht. Dem vermeintlich klischeehaften westlichen Blick auf den totalitären SED-Staat werden die subjektiven Erinnerungen ehemaliger DDR-Bürger an ihr Leben in der sozialistischen Gesellschaft entgegengesetzt. Daraus soll sich ein differenzierteres Bild von der DDR-Realität ergeben, als es von den westlichen „Siegern der Geschichte“ vorgegeben werde. Diese Realität sei viel bunter und vielfältiger gewesen als es die westliche Schwarz-Weiß-Zeichnung von ihr suggeriere.

Im Kern läuft das „Neue“ an diesem Ansatz jedoch auf die Binsenwahrheit hinaus, dass auch unter den Bedingungen einer Diktatur subjektiv als glücklich empfundene individuelle Lebenswege möglich sind. Doch dass sich Menschen in repressiven Verhältnissen mehr oder weniger bequem einzurichten wissen – unter der Voraussetzung, dass sie sich unliebsamer Aktivitäten oder Meinungsäußerungen enthalten und daher keiner unmittelbaren politischen Verfolgung aussetzen -, ist keine Erkenntnis, die autoritäre Systeme in einem milderen Licht erscheinen lassen könnte.

Demokratie und Diktatur
 

Im Gegenteil: Das Angebot der Staatsmacht an ihre Untertanen, eine relativ komfortable Existenz führen zu können, so lange sie sich dem politischen Absolutheitsanspruch der Mächtigen fügen, stellt ein konstitutives Element diktatorischer Herrschaftstechnik dar. Wenn sich die Einzelnen in einem Unrechtsstaat private Freiräume schaffen, in denen sie dessen Allgegenwart auszublenden versuchen, bedeutet dies daher keineswegs, dass sie ein „staatsfernes“ Dasein führen würden. Es bedeutet vielmehr, dass sie das Unrecht als Gegebenheit hinnehmen und somit stabilisieren helfen.

Wer dies verschleiert, trägt dazu bei, den grundlegenden Unterschied zwischen demokratischem Rechtsstaat und Diktatur zu verwischen. Das aber ist höchst gefährlich in einer Situation, da die pluralistischen Demokratien von verschiedenen Seiten in ihrem Kern angegriffen werden – durchdiverseIdeologien von rechts bis links. Gemeinsam ist ihnen allen die Konstruktion eines kollektiven Subjekts, in dessen Namen sie eine allein gültige absolute Wahrheit auszusprechen behaupten. Während sich die extreme Rechte auf „das Volk“ als eine vermeintlich homogene Einheit beruft, die sie einer „abgehobenen liberalen Elite“ entgegen stellt, betrachtet sich die „postkoloniale“ Linke als die einzig authentische Stimme der Gesamtheit aller einstmals vom Westen Kolonisierten und ihrer Nachfahren.  

Damit negieren diese Strömungen das Grundverständnis moderner liberaler Demokratien, die in ihren Bürgern rechtlich gleichgestellte, selbstbestimmte Individuen sehen, die sich in freiwilligen Zusammenschlüssen organisieren können, um politischen Einfluss zu gewinnen – ohne dass dadurch die Pluralität der Interessen und Überzeugungen angetastet und die Legitimität dieser Vielfalt infrage gestellt werden darf.

Neopluralismus

Um diesen Grundsätzen neue Anziehungskraft zu verleihen, empfiehlt sich die Rückbesinnung auf Denker, die ihnen ein intellektuelles Gerüst gegeben haben. Kaum ein anderer Theoretiker der freiheitlichen Demokratie hat die grundlegende Differenz zwischen dem identitären und dem pluralistischen Staats- und Gesellschaftskonzept so präzise aufgezeigt wie der deutsche Jurist und Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel, der einer breiteren Öffentlichkeit heute dennoch kaum noch bekannt ist. 1898 als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie geboren, engagierte sich Fraenkel in der Weimarer Republik als Rechtsanwalt und Sozialist für die Gewerkschaftsbewegung. 1938 in die USA emigriert, studierte er dort intensiv die staatsrechtlichen und ideellen Grundlagen der amerikanischen Demokratie, was ihn zunehmend von seinen ursprünglichen sozialistischen Idealen abrücken ließ.

1950 nach Deutschland zurückgekehrt, avancierte Fraenkel – nunmehr Professor der politischen Wissenschaft an der Freien Universität Berlin – zu einem maßgeblichen Vordenker der deutschen Nachkriegsdemokratie. Seine als „Neopluralismus“ bezeichnete Theorie formulierte er explizit als Antwort auf die totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts. Als deren Wurzel betrachtete er die Vorstellung von einem vorgefertigten „Gemeinwohl“, nach dessen Vorgaben die Gesellschaft zu formieren sei. Hatte sich Fraenkel zunächst primär gegen autoritäre Staatsvorstellungen der nationalistischen Rechten wie die des Staatsrechtlers Carl Schmitt gewandt, geriet er in den 1960er Jahren in heftige Konfrontation mit der linksradikalen Studentenbewegung.

Deren Aktionsformen erinnerten ihn an die Gewaltmethoden der Nationalsozialisten und ihrer SA-Sturmtrupps in der Endphase der Weimarer Republik. Zutiefst abgestoßen war Fraenkel auch vom aggressiven Antiamerikanismus der studentischen Linken. Im Gegenzug  wurde der jüdische Remigrant, der dem Holocaust entkommen war, von diesen jungen Deutschen als „Reaktionär“ abgestempelt. Kurzzeitig erwog Fraenkel deshalb sogar, ein zweites Mal Deutschland zu verlassen.

Pathos des Unvollkommenen

Im Gegensatz zu dem Denken in der Tradition von Jean-Jaques Rousseau und seinem Konzept eines über dem Willen der Einzelnen stehenden „Gemeinwillens“ (volonté générale) bestand Fraenkel darauf, dass das Gemeinwohl erst durch die Auseinandersetzung und Kompromissfindung zwischen Interessengruppen entsteht, die gegeneinander um Einfluss kämpfen. Der offen ausgetragene Konflikt widerstreitender Interessen ist daher laut Fraenkel kein Makel freier Gesellschaften, sondern der Quell ihrer Stärke. Voraussetzung dafür seien allerdings verfassungsrechtlich gesicherte Verfahren, die den Konflikt in institutionelle Bahnen lenken.

Dazu bedarf es laut Fraenkel neben dem „kontroversen Sektor“, in dem die nie endenden Auseinandersetzungen um den richtigen Weg für die Gesellschaft ausgetragen werden, auch eines Bereichs, in dem Konsens über die für ein demokratisches Gemeinwesen unverzichtbaren Normen und Werte besteht. Dieser nicht-kontroverse, konsensuale Sektor erfährt heute in vielen westlichen Demokratien eine gefährliche Erosion.

Dagegen müssen die Verteidiger der pluralistischen Demokratie ein Pathos des Unvollkommenen setzen. Sie müssen deutlicher vermitteln, dass der demokratische prozedurale Prozess, so quälend und unbefriedigend er oft sein mag, keine unzumutbare Last, sondern das kostbarste Gut freier Gesellschaften ist. Denn nur er bietet zuverlässigen Schutz vor utopischen Absolutheitsansprüchen,  seien sie rückwärtsgewandter oder „progressiver“ Art. Eine Gesellschaft bleibt nur frei, wenn sie sich zu ihrer ewigen Unfertigkeit bekennt und allen falschen Versprechungen auf „Heilung“ durch eine oktroyierte „Ganzheit“ widersteht.

Aufrüstung der Demokratie

Um sich gegen den Ansturm des neuen Autoritarismus behaupten zu können, müssen die Demokratien also nicht nur ihre militärischen Abwehrkräfte erheblich stärken. Auch auf dem Gebiet der Ideen ist Aufrüstung dringend geboten. Dazu gilt es, sich wieder stärker mit den Prinzipien vertraut zu machen, auf denen die modernen demokratischen Gesellschaften gründen – um sie selbstbewusst gegen ihre inneren wie äußeren Feinde ins Feld zu führen. Die Kenntnis des Werks und Lebens Ernst Fraenkels kann dabei eine eminente Hilfe sein. Dasselbe gilt für konsequent antitotalitäre Denker wie Arthur Koestler, George Orwell, Richard Löwenthal, Hannah Arendt, Albert Camus und Raymond Aron, um nur einige zu nennen.

Ihnen allen ist die Einsicht gemeinsam; Die Essenz der Demokratie besteht nicht darin, dass alle dasselbe wollen, sondern in der Einigkeit darüber, was alle gemeinsam bei allen Gegensätzen untereinander nicht wollen: die Diktatur. Dieses Bewusstsein, dass sich demokratische Identität gleichsam ex negativo herstellt, muss heute, als Schutzschirm gegen die autokratischen Bedrohungen, dringend erneuert werden.

Denn es droht im Zuge der extremen Polarisierung in den demokratischen Gesellschaften verloren zu gehen. Während rechte Populisten das vermeintliche Wohl des eigenen ethnisch-nationalen Kollektivs grundsätzlich über universale Werte stellen, frönt eine starke Strömung innerhalb der Linken einer als „postkolonial“ deklarierten „Identitätspolitik“, die den Wahrheitsgehalt von Theorien und Meinungen nicht nach Kriterien objektiver Erkenntnis bemisst, sondern nach der Herkunft und Hautfarbe derjenigen, die sie vortragen.

Wer ist „das Volk“?


In den aktuellen Debatten greift ein zwanghafter „Whataboutismus“ um sich, der reflexhaft auf die Sünden der Gegenseite zeigt, wenn Missetaten auf der eigenen Seite zur Sprache kommen. Schnell ist man bei der Hand, unliebsame Entwicklungen innerhalb der demokratischen Gesellschaften als „totalitär“ zu brandmarken und verwischt mit dieser Inflationierung und Banalisierung des Begriffs den fundamentalen Unterschied zu Systemen wie dem Russlands, die tatsächlich immer deutlicher Züge von Totalitarismus annehmen. Diese schüren dementsprechend die zunehmend hasserfüllten Spaltungen in den westlichen Gesellschaften.

Es gilt daher, erhöhte Wachsamkeit an den Tag zu legen, wenn antiliberale Kräfte wie die Pegida, die „Querdenker“ und die rechtsextreme AfD das Erbe der „friedlichen Revolution“ in der DDR von 1989/90 zu vereinnahmen versuchen, indem sie die Parole „Wir sind das Volk“ übernehmen und damit suggerieren, die parlamentarische Demokratie der Bundesrepublik unterdrücke die Bevölkerung  so wie das einst unter der SED-Diktatur der Fall war.

Der Ruf „Wir sind das Volk“ war im Widerstand gegen den SED-Staat tatsächlich eine genuin demokratische Losung. Eine von jeder Entscheidung über ihr Schicksal ausgeschlossene Bevölkerung ließ die totalitären Machthaber damit wissen, dass sie Entmündigung und Rechtlosigkeit nicht länger hinnehmen werde. Das „Wir“, das sich auf diese Weise als „Volk“ deklarierte, beanspruchte damit aber keine Homogenität als geschlossenes Kollektiv mit einer einheitlichen Gesinnung. Als „Volk“ im Sinne einer Einheit verstanden sich die vielen verschiedenen aufbegehrenden Individuen nur im Gegensatz zu der Diktatur, die ihnen allen gleichermaßen ihre elementaren Rechte vorenthielt. In dieser gemeinsamen Frontstellung gegen die autokratische Herrschaft vereinten sich unterschiedlichste, ja gegensätzliche Strömungen, Interessen und Weltanschauungen. Nachdem die Diktatur beseitigt war, teilte sich dieses vereinte „Volk“ wieder in widerstreitende politische, soziale und ideelle Gruppen und Einzelpersonen auf.

„Ergo totgeschlagen“


In einem demokratischen Rechtsstaat jedoch verwandelt sich die Parole „Wir sind das Volk“ in den Ausdruck einer antidemokratischen, kollektivistischen und damit autoritären Geisteshaltung. Die Okkupation des Slogans durch eine gleichgerichtete, durch keine demokratische Legitimation dazu ermächtigte Minderheit suggeriert, „das Volk“ sei von einem einzigen Willen beseelt, der über dem Recht und der mühsamen institutionellen Aushandlung von Kompromissen zwischen unterschiedlichsten Interessen und Ansprüchen stehe.

In einer freien Gesellschaft besteht das Volk jedoch aus lauter Einzelnen mit einem jeweils eigenen Willen. Zur Einheit wird dieses Volk nur symbolisch in Bezug auf die Sicherung und Inanspruchnahme der Rechte, die allen Einzelnen gleichermaßen zustehen. Sehr schön kommt dies in der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika zum Ausdruck, deren Präambel mit den berühmten Worten beginnt: „We the people…“ Das Wort „people“ hat im Englischen nämlich eine Doppelbedeutung: Es heißt sowohl „das Volk“ als auch „die Leute“. „Das Volk“ ist in diesem Sinne also die Summe aller Einzelnen, die sich zusammenschließen, um sich eine Ordnung zu geben, in der die individuellen Rechte aller gesichert sind – die aber „die Leute“ in ihrer Verschiedenheit und Vereinzelung belässt.

In seinem Drama „Dantons Tod“ über die Französische Revolution hat Georg Büchner schon im frühen 19. Jahrhundert gezeigt, wohin dagegen die Auffassung vom „Volk“ als einem vermeintlich mit einem einheitlichen Willen ausgestatteten und sich mit einer Stimme artikulierenden Kollektivkörper in letzter Konsequenz führt. In einer Szene will eine wütenden Menge einen Passanten lynchen, den sie für einen Aristokraten hält. Einer ihrer Anführer ruft aus:

„Wir sind das Volk, und wir wollen, dass kein Gesetz sei, ergo ist dieser Wille das Gesetz, ergo im Namen des Gesetzes gibt es kein Gesetz mehr, ergo totgeschlagen!“

Wenn sich der vermeintliche „Wille des Volkes“ austoben kann, ohne dass er durch Institutionen der repräsentativen Demokratie, durch verbindliche Gesetze und die Gewaltenteilung gebändigt wird, kommt dabei keine „wahre Demokratie“ heraus, sondern gesetzlose Willkür.

Setzen wir alles daran, dass es hierzulande nie wieder dazu kommt.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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