„Gemäßigte Islamisten“? Der Westen in der Taliban-Falle

Die Taliban können einen doppelten Triumph feiern: Sie errichten in Afghanistan eine totalitäre Herrschaft und verschieben zugleich die westliche Akzeptanzschwelle gegenüber dem Islamismus massiv zu dessen Gunsten.

Den Terroranschlag am Flughafen von Kabul haben die USA mit einem Vergeltungsschlag gegen den IS-Ableger in Afghanistan beantwortet, und US-Präsident Biden hat weitere Schläge angekündigt. Doch so gerechtfertigt und zwingend notwendig die militärische Reaktion auf den IS-Terror ist – zumal bis zum für Dienstag geplanten Abzug der US-Truppen mit einer weiteren Terrorattacke zu rechnen ist -, sie zeugt doch viel mehr von Getriebenheit in höchster Not und dem verzweifelten Versuch Bidens, doch noch das Gesicht zu wahren, als von strategischer Souveränität. Letztlich unterstreicht die jüngste Entwicklung nur, in welche fatale Falle sich der Westen mit seinem kopflosen, fluchtartigen Rückzug aus Afghanistan manövriert hat.

Denn die USA und ihre europäischen Verbündeten haben den Taliban nicht nur das Land ausgeliefert, sie sind jetzt zudem selbst in mehrfacher Hinsicht auf das Wohlwollen der islamistischen Terrorganisation angewiesen. Nur so lange diese es duldet und unter der Hand sogar mit den Amerikanern kooperiert, ist der Fortgang der Evakuierungsaktion vom Kabuler Flughafen überhaupt möglich. Da Biden den Einsatz nicht über den 31.8. hinaus verlängern will, haben die USA den Taliban angeblich sogar Listen von örtlichen Mitarbeitern übergeben, in der Erwartung, dass sie diese sicher in amerikanische Obhut geleiten. Es ist durchaus vorstellbar, dass die Taliban dieser Erwartung tatsächlich entsprechen. Denn ihnen ist sehr daran gelegen, dass der US-Abzug möglichst schnell und reibungslos abgeschlossen wird. Erst dann nämlich können sie ganz sicher sein, dass niemand mehr ihre Kreise bei der Errichtung ihres „islamischen Emirats“ stören wird. Und sie können dann ungehemmt ihr wahres, totalitäres Gesicht zeigen.

Dass die Terrortruppe IS mit einem blutigen Paukenschlag auf der Kabuler Szenerie aufgetaucht ist und den USA damit eine zusätzliche schmerzhafte Demütigung zugefügt hat, spielt den Taliban dabei auf ideale Weise in die Hände. Stehen sie in den Augen des Westens doch nun tendenziell als eine unverzichtbare Ordnungsmacht, wenn nicht gar als ein erprobter, verlässlicher Sicherheitspartner da. Vom Feind zum Helfer – für diesen Imagewandel sorgt das Scheckbild IS, in Kontrast zu dem die Taliban als vergleichsweise „friedfertige“ und rationale Kraft erscheinen können

Taliban als „kleineres Übel“?

Wir erleben damit eine enorme Verschiebung der Paradigmen internationaler Politik zugunsten des Islamismus. Die radikalislamischen Taliban, die soeben noch als Todfeind des Westens wahrgenommen wurden, kommen diesem nun zunehmend als kleineres Übel, wenn nicht gar als potenzieller Garant einer Stabilisierung der Region nach dem überstürzten westlichen Rückzug vor. Der Maßstab des Westens, was für ihn an islamistischer Terrorherrschaft im Sinne diplomatischer Salonfähigkeit als akzeptabel zu gelten hat, verlagert sich damit dramatisch. Am Ende wird für die westliche Politik nur noch zählen, dass die Taliban vermeintlich exklusiv an der Herrschaft über Afghanistan interessiert seien, nicht aber am Terrorexport in den Westen. Das aber ist eine gefährliche Illusion. Denn in welcher Spielart auch immer der Islamismus auftritt – das Streben nach der Weltherrschaft des Islam ist ihm konstitutiv eingeschrieben, und er kann nicht Halt machen, bevor er zu diesem Zweck den Westen zerstört hat.

Nicht nur den Taliban gegenüber wird der Westen jetzt Vorsicht und Nachsicht walten lassen müssen. Auch Länder wie der Iran und die Türkei müssen nunmehr bei Laune gehalten werden – vornehmlich von den Europäern, die sich panisch vor einer neuen „Flüchtlingswelle“ nach Europa fürchten. Damit sie möglichst viele afghanische Flüchtlinge aufnehmen und sie den Europäern vom Hals halten, werden sich die europischen Regierungen gegenüber Teheran und Ankara erkenntlich zeigen und sie noch mehr mit Samthandschuhen anfassen als bisher. Speziell im Blick auf das iranische Atomwaffenprogramm kann das fatale Konsequenzen haben. Eine schärfere Gangart des Westens, beginnend mit härteren Sanktionen, ist in dieser Frage nun noch weniger zu erwarten als bisher. Für Israel, das zu Recht auf eine geschlossene westliche Abwehrfront gegen die iranische Bedrohung drängt, ist dies alles andere als eine gute Nachricht

Ideologisch ist die Gewöhnung an die „Normalität“ extremistischer islamistischer Herrschaft längst vorbereitet. So wird in der westlichen Öffentlichkeit ständig die Suggestion wiederholt, das Regime der Taliban entspreche doch letztlich deren heimischer „Kultur“ viel mehr als die „übergestülpten“ westlichen Werte. Und seit die Taliban ihren Durchmarsch zur ganzen Macht antraten und klar wurde, dass sie niemand mehr aufhalten würde, ist in westlichen Medien permanent die Frage aufgeworfen worden, ob die einst als „Steinzeitislamiten“ gefürchteten fundamentalistischen Extremisten denn überhaupt noch so brutal und totalitär seien wie vor zwanzig Jahren. Gerne möchte man sich einreden, diese Mörderbande, die für schlimmste Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich ist und sich in erster Linie durch den Drogenhandel finanziert, habe sich gewandelt oder sei in einen „gemäßigten“ und einen „radikalen Flügel“ gespalten.

Profiteure China und Russland

Das Märchen von einer „gemäßigten“ Strömung im Totalitarismus taucht in der westlichen Öffentlichkeit reflexhaft immer dann auf, wenn man sich Diktaturen zwecks Vermeidung von Konfrontation und zwecks Legitimation guter Geschäftsbeziehungen schönreden will – wie etwa die im Iran. Im Blick auf das Mullah-Regime wird die Legende von einem ewigen Ringen zwischen „Hardlinern“ und „Reformern“ seit über drei Jahrzehnten mit unverdossener Härtnickigkeit stets aufs Neue wiederholt. Ähnliches hörte man aber zum Beispiel auch, als die radikalislamische Hamas 2006 die Wahl in den Palästinensischen Autonomiegebieten gewann und 2007 in Gaza die Macht übernahm. Damals fehlte es nicht an Experten, die prognostizierten, die Hamas werde sich an der Regierung läutern und demokratische Spielregeln respektieren. Bekanntlich trat nichts derartiges ein, und freie Wahlen hat es in Gaza nie wieder gegeben.

Profiteure dieser fatalen Entwicklung sind nicht zuletzt auch Xi Jinpings China und Putins Russland. Beide haben sich rechtzeitig mit den Taliban auf guten Fuß gestellt und pflegen stabile Beziehungen zu ihnen. Dem Westen gegenüber können sie sich nun als potenzielle „Vermittler“ präsentieren, die ihren Einfluss auf die neuen Herren Afghanistan geltend machen könnten, um deren Fanatismus in Grenzen zu halten und einer zu engen Liaison zwischen ihnen und der al-Qaida (mit der die Taliban im Gegensatz zum IS fest liiert sind) vorzubeugen. Diesen vermeintlichen Liebesdienst werden Peking und Moskau dem Westen aber nicht umsonst anbieten. Der Preis dafür wird sein, dass der Westen ihnen gegenüber auf anderen weltpolitischen Konfliktfeldern mehr Entgegenkomen zu zeigen hat. In Taiwan und in der Ukraine etwa dürfte diese Aussicht für manche schlaflose Nacht sorgen.

Der Triumph der Taliban reicht somit weit über Afghanistan hinaus. Sie können sich rühmen, einen exemplarischen Sieg über die stärkste Militärmacht der Welt errungen zu haben – nicht nur für sich selbst, sondern für die globale islamistische Bewegung. Und letzen Endes für alle autoritären und totalitären Herausforderer der westlichen liberalen Demokratien.

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Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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