Die Autokratien greifen nach der Weltherrschaft

Die Welt befindet sich im Entscheidungskampf zwischen Autokratien und demokratischer Zivilisation. Der folgende Text ist eine leicht modifizierte Fassung meines Essays, der zuerst am 12.11.2022 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen ist.

Als kürzlich ausgerechnet Gesundheitsminister Karl Lauterbach ein Sprachtabu der Bundesregierung brach und tweetete, wir befänden uns „im Krieg mit Putin“, erntete er einen öffentlichen Sturm der Entrüstung und hektische Dementis aus den Reihen des Kabinetts. Tief sitzt in Deutschlands politischer Führungselite die Angst davor, vom russischen Aggressor als „Kriegspartei“ aufseiten der Ukraine eingestuft zu werden und dadurch einer „Eskalation“ Vorschub zu leisten.

Dabei hat Lauterbach nur eine offensichtliche Wahrheit ausgesprochen. Denn auch, wenn wir partout nicht mit Putin im Krieg  sein wollen – er befindet sich erklärtermaßen längst im Krieg mit uns. Wiederholt haben er und andere Repräsentanten seines Regimes öffentlich deutlich gemacht, dass sie die NATO als ihren eigentlichen Kontrahenten betrachten und der Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine für sie nur die erste große Schlacht im epochalen Entscheidungskampf gegen den Westen darstellt.

Tatsächlich stehen wir mitten in einer globale Konfrontation zwischen der demokratischen Zivilisation und ihren autokratischen Antipoden, die über den Kollaps der einen oder der anderen Seite entscheidet. Anders als einst im Kalten Krieg rollt die Aggressionswelle des neuen Autoritarismus ungebremst von vertraglichen Sicherungen. Im Gegensatz zu den mit der marxistisch-leninistischen Geschichtsideologie imprägnierten Machthabern der Sowjetunion glauben die heutigen Anführer der antiwestlichen Phalanx nicht daran, eine historische Gesetzmäßigkeit auf ihrer Seite zu haben und sich deshalb mit der finalen Zerstörung der westlich-kapitalistischen Welt Zeit lassen zu können. Die neuen Autokraten ahnen vielmehr, dass ihr kriminelles Herrschaftssystem auf Dauer nicht mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dynamik und Flexibilität demokratischer Gesellschaften Schritt halten kann.

Strahlkraft liberaler Werte

Genau das aber macht diese autoritären Mächte so eminent gefährlich: Sie wollen ihrem eigenen Bankrott zuvorkommen, indem sie nicht nur die westlichen Demokratien zerstören, sondern die liberale Idee – in dessen Zentrum Putin neuerdings den „Satanismus“ ausgemacht hat – als solche austilgen. Stellt diese doch durch ihre bloße Existenz eine permanente tödliche Gefahr für sie dar. So viele Aufstandsbewegungen für Demokratie und Menschenrechte sie auch niederschlagen mögen – von Venezuela über Hongkong bis Belarus – immer wieder erheben sich, wie jetzt im Iran, irgendwo erneut Gesellschaften, die von der Strahlkraft liberaler Freiheitswerte inspiriert sind.    

Putins Russland ist nicht die einzige Macht, die von der Überzeugung getrieben wird, jetzt sei der historische Moment gekommen, der „dekadenten“ westlichen Welt den Todesstoß zu versetzen. Spätestens seit dem Beginn des russischen Vernichtungskriegs gegen die Ukraine sind der Kreml und das Regime der Islamischen Republik, die zuvor schon gemeinsam Syrien in Schutt und Asche gelegt haben, zu einer symbiotischen antiwestlichen Kriegsallianz verschmolzen. Teheran liefert Russland Kamikazedrohnen und Raketen für seine Terrorbombardements gegen die ukrainische Zivilbevölkerung, und im Gegenzug dürfte der Kreml seinem Verbündeten massiv bei dem Versuch zur Hand gehen, die iranische Freiheitsbewegung mit äußerster Brutalität niederzuschlagen.

Beide Regime werden durch ihren Hass gegen die liberale Demokratie geeint und gleichen sich in ihrer wahnhaften apokalyptischen Weltanschauung immer mehr einander an. Sie könnten jedoch nicht derart aggressiv auftrumpfen, würde ihnen nicht von der ökonomisch weitaus potenteren VR China der Rücken gestärkt. Deren Führung ist zwar noch nicht offen auf kriegerischen Konfrontationskurs mit dem Westen gegangen. Doch mit wachsender Aggressivität droht es, sich Taiwan militärisch einzuverleiben – ein demokratisches Land, das politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich-kulturell eindeutig der westlichen Welt zugehörig ist. Dass Xi Jinping auf dem jüngsten Parteitag der KP Chinas die letzten Reste kollektiver Führung beseitigen und sich zum nunmehr gänzlich unumstrittenen Alleinherrscher einsetzen ließ, gibt Anlass zu  der Befürchtung, dass der Überfall auf Taiwan unmittelbar bevorsteht. Ist es doch gerade ein solcher Kriegszug, für den Xi einen hermetischen, ihm vollständig hörigen Machtapparat braucht

Russlands Nimbus zerstört

Sollte dieses Szenario wahr werden, müsste der Westen den autokratisch-imperialen Ansturm an zwei Kriegsfronten gleichzeitig abwehren. Dies würde die Gefahr seiner Zermürbung und Spaltung massiv erhöhen. Zumal die Werte der liberalen Demokratien auch von Innen her durch antiliberale Strömungen von rechts bis links ausgehöhlt zu werden drohen. Doch hält der Westen stand und lässt sich auch von wüstesten atomaren Drohungen nicht einschüchtern, könnte der Großangriff auf die demokratische Welt umgekehrt der  Anfang vom baldigen Ende der expansionistischen Autokratien sein.

Denn die Machthaber Russlands, Irans und Chinas agieren gerade deshalb mit verstärktem Drang zu kriegerischer Aggression, weil ihre Regime mehr oder weniger instabil und vom Einsturz bedroht sind. Russlands Vernichtungskrieg gegen die Ukraine hat sich dank des erbitterten Widerstands und der herausragenden strategischen Fähigkeiten der ukrainischen Armee als Fiasko erwiesen. Ein militärischer Sieg der Ukraine, der die vollständigen Befreiung des gesamten ukrainischem Territoriums – die Krim eingeschlossen – umfasst, ist in den Bereich des Möglichen gerückt. Sollte es dazu kommen, würde das die putinistische Gewaltherrschaft ins Mark treffen – hat das Regime die Unterwerfung der Ukraine doch selbst zur Frage des Seins oder Nichtseins Russlands erklärt.

Auch andere Staaten aus dem ehemaligen Sowjetimperium, vorneweg Georgien und Moldau, würden dann ihre Furcht vor der permanenten Gewaltdrohung des russischen Neoimperialismus verlieren. Und bei „kleineren“ Diktatoren weltweit wäre Russlands Nimbus als ihre unbesiegbare Schutzmacht zerstört, die ihnen garantiert, ungestraft Exzesse gegen die Menschenrechte begehen zu können.

Instabile Autokratien

Der Volksaufstand, der derzeit das iranische Regime erschüttert, übertrifft in seiner Dimension alle bisherigen Protestbewegungen in der Islamischen Republik. Selbst wenn es den islamistischen Machthabern gelingen sollte, auch diese Erhebung in Blut zu ertränken, wird ihnen dies angesichts der Intensität der Ablehnung, die ihm mittlerweile aus sämtlichen Schichten der Gesellschaft entgegenschlägt, kaum mehr dauerhafte Ruhe bescheren.

Das Ende der „Islamischen Republik“ würde für den Nahen Osten einen enormen Zuwachs an Sicherheit bedeuten. Herrscht in Teheran kein Regime mehr, das die Vernichtung Israels als seinen zentralen Daseinszweck betrachtet, könnten beide Nationen sogar wieder an frühere freundschaftliche Beziehungen anknüpfen. Und die arabischen Despotien, allen voran Saudi-Arabien, wären unter Zugzwang, die Beibehaltung ihrer archaischen Herrschaft zu rechtfertigen.

Die totalitäre Diktatur der VR China erscheint indes erheblich stabiler als die maroden Autokratien Russlands und Irans. Sie herrscht über ein Land mit einer gewaltigen Wirtschaftskraft und verfügt über Überwachungstechnologien und soziale Disziplinierungsmechanismen, die ihren Untertanen fast jede unkontrollierte Bewegung unmöglich machen – von organisierter oppositioneller Tätigkeit ganz zu schweigen. Doch die rigorose Corona-Politik des Regimes mit der Totalabsperrung ganzer Metropolen wie Shanghai schürt Unmut und Verzweiflung in der Bevölkerung. Das vormals exorbitante Wirtschaftswachstum ist ins Stocken geraten, und hinter der monolithischen Fassade der überalterten kommunistischen Machtelite blühen Korruption und kriminelle Bandenwirtschaft. Die Schere zwischen Arm und Reich wächst ins Gigantische, und unter der Landbevölkerung herrscht in weiten Teil nach wie vor Elend. Hinzu kommen katastrophale Umweltprobleme und eine dramatisch rückläufige demografische Entwicklung. Auch diese scheinbar unangreifbare Übermacht erweist sich somit als anfällig für plötzliche Einbrüche von Dysfunktionalität.

Binäre statt „multipolare“ Welt

Im eigenem Überlebensinteresse muss der Westen alle Hebel  in Bewegung setzen, um den Kollaps seiner autokratischen Todfeinde zu beschleunigen. Die Befürchtung, die von ihnen beherrschten Länder könnten dann „ins Chaos stürzen“, sollte ihn nicht schrecken. Entscheidend ist, dass diese nicht mehr in der Lage sind, andere Staaten anzugreifen und die Welt im Ganzen in die Katastrophe zu stürzen. Namentlich für Russland kann der Weg zurück in den Kreis zivilisierter Nationen ohnehin nur noch durch den Zusammenbruch seines bestehenden, imperial definierten Staatsgebildes führen. Ist dieses doch mittlerweile mit dem auf krimineller Gewalt gegründeten und ganz auf kriegerische Expansion ausgelegten Machtapparat des Putinismus identisch geworden.

Das best case scenario eines Endes der drei gefährlichsten Regime der Welt liegt freilich einstweilen in hypothetischer Ferne. Zumal diese aggressiven Autokratien kaum stillschweigend abtreten, sondern vor ihrem Untergang noch ein Maximum an Tod und Zerstörung über die Welt zu bringen versuchen werden. Der Traum von einer friedlich kooperierenden „multipolaren Welt“ ist jedenfalls fürs erste ausgeträumt. Wir befinden uns in einer mehr denn je binären globalpolitischen Konstellation. Die Kräfte der Demokratie stehen Autokratien gegenüber, die bei allen Unterschieden eine oberste Zielsetzung teilen: dem aufklärerisch-liberalen Zeitalter den Garaus zu machen. Nur einer dieser beiden Zukunftsentwürfe für die Menschheit wird diese Konfrontation überstehen.

Mehr über Autokratien und Demokratie:

Russland und Iran: Die Symbiose des Verbrechens

Russland und China: wei gleich große Bedrohungen

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

5 Kommentare

  • Sehr geehrter Herr Herzinger ich teile Ihre Einschätzung, die Sie so gelungen illustrieren. Anknüpfen möchte ich an die Zitate….“Im Gegensatz zu den mit der marxistisch-leninistischen Geschichtsideologie imprägnierten Machthabern der Sowjetunion“ „Zumal die Werte der liberalen Demokratien auch von Innen her durch antiliberale Strömungen von rechts bis links ausgehöhlt zu werden drohen.“
    ….ich habe den Verdacht, dass die marxistisch-leninistische-Geschichtsideologie inzwischen in der Bundesrepublik Asyl gefunden, und nicht nur hier als Untermieter in die Wohnungen der Aufgeklärten eingezogen ist. Wie ein Krebsgeschwür, vor dessen Diagnose man scheut, nagt es beständig an unserem Wertesystem, an unserem Menschen – und Gesellschaftsbild.
    Wenn offene-Briefe-Schreiber und ca.50% der Teilnehmer einer viel diskutierten Umfrage zum Putinkrieg, den Ukrainern nahelegt sich Putin zu beugen, in Talk-Shows keine Empörung aufkommt, wenn „lieber Rot als TOT“ in’s Vorstellbare gesagt wird, empfinde ich das als Verrat am Fundament unserer Gesellschaft und frage mich; die ich in der liberalen Demokratie ein erstrebenswertes und hoffnungsvolles Ziel sah; welchen Wert dieses Gesellschaftsideal noch für große Teile der eigenen Bevölkerung hat?
    Woher ein Enthusiasmus(wie bei den Ukrainern zu beobachten), diese zu verteidigen kommen könnte? Schmerzlich und enttäuscht nehme ich vielfältige Erscheinungen wahr die sich gegen unsere Demokratie wenden. Mir scheint das die Geringschätzung Vieler ihrem Land Land gegenüber, für Putin und andere autokratische Systeme, eine Ermutigung zur Unterminierung und vielleicht sogar zur Überwindung unserer freiheitlichen Gesellschaft, darstellt.
    Dankbarerweise nehme ich in letzter Zeit vermehrt konservative Stimmen, außerhalb der Parteien, wahr, die sich dieser Entwicklung entgegenstellen.

    • Liebe Frau Ecker, vielen Dank für Ihre Zustimmung. In einem Punkt muss ich Sie allerdings enttäuschen: Ich betrachte mich keinesfalls als einen Konservativen,sondern erhebe den Anspruch, von einem konsequent liberalen Standpunkt aus zu argumentieren.

      • Lieber Herr Herzinger, das“Konservativ“ habe ich nicht auf Ihre Person bezogen.
        Auf, sich konservativ definierenden Portalen, fand die Stimmen, die ich in der öffentlichen Debatte so sehr vermisste.
        Distanz und Kritik hat die Leserin nun in Ihrem Blog gefunden.
        Am genauen Gebrauch der Begriffe wird die Dilettantin weiterhin arbeiten. Bisher ging ich davon aus, dass der Begriff LIBERAL unsere Gesellschaft definiert Sie fordern das Individuum. Aber ist denn ein konservativ denkender Mensch nicht auch ein Liberaler?

        • Ich wollte keinesfalls belehrend klingen und Sie etwa als „Dilettantin“ abtun. Mir persönlich bleibt es aber wichtig. an der Unterscheidug zwischen Konservatismus und Liberalismus als gänzlich unterschiedliche Denktraditionen festzuhalten, die ein grundlegend diverses Menschen- und Gesellschaftsbild aufweisen (Stichwort: hierarchisch formierte kontra sich selbst organisierende Gesellschaft). Dass diese Unterschiede heute oft verwischt werden, liegt vor allem daran, dass der „klassische“ Konservatismus weitgehend erodiert ist und entweder starke Anleihen bei liberalen Ideen nimmt oder in diffuse Ressentiments gegen „den Zeitgeist“ abgleitet. Was freilich nicht heißt, dass nicht auch sich „liberal“ nennende Strömungen für letzteres anfällig sind, und dass überhaupt nicht auch der Liberalismus einer ständigen kritischen Selbstüberprüfung und Neudefinition bedürfe. Letzten Endes ist es allerdings sekundär, welches Label einem bestimmten Gedanken aufgeklebt wird. Entscheidend sind heute die Fähigkeit, die Dimension der Bedrohung durch neue autoritäre Mächte und Ideologien zu ekennen und die Bereitschaft, die freiheitliche Demokratie gegen sie zu verteidigen. Das bedeutet aktuell in allererster Linie, mit allen Kräften auf der Seite der freien Ukraine zu stehen, die von der russischen Vernichtungswalze in ihrer Existenz bedroht wird.

          • Ich danke Ihnen, Herr Herzinger für Ihre klärende Antwort. Sie erinnern sich bestimmt daran wie Putin das Parkett der Medienöffentlichkeit betrat. Ein Atomuboot war untergegangen.
            Sein kaltschnäuziges hinweggehen über die vielen Toten(wohl mehr 60 Menschen) war die Offenbarung seines Menschenbildes. Bis heute schmerzt mich, dass unsere Regierungen und weite Teile der Bevölkerung, sich blind gemacht haben und bis heute nicht sehen wollen, was gesehen werden konnte und kann. Aktuellste Wahrnehmung von ungeklärter Haltung, gegenüber Menschenverächtern: der Auftritt von Herrn Scholz mit Herrn Abbas. Es sollte keine Zweifel geben, die Ukrainer zu unterstützen. Die Haltung des Kanzlers, auch in dieser Frage überzeugt mich nicht.

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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