Srebrenica wurde ausgeliefert. Wie heute Afghanistan

Vor 26 Jahren wurde die UN-Schutzzone Srebrenica kampflos an die Soldateska des im Auftrag des Regimes von Slobodan Milosevic agierenden serbischen Generals Mladic ausgeliefert. Während die dort stationierten niederländischen UN-Blauhelme ebenso wie die westlichen Regierungen wegsahen, massakrierten die Eroberer im Zeitraum vom 11. bis 19. Juli 1995 über 8000 unbewaffnete bosnisch-muslimische Männer. Die Lehren aus dieser Katastrophe haben leider nichts von ihrer Aktualität verloren.

Denn was in Srebrenica geschah, geschieht auf eine fatal ähnliche Weise gegenwärtig in Afghanistan: Sehenden Auges liefert der Westen die dortige Zivilgesellschaft der Willkür totalitärer Mörder aus. Es sind die Taliban, die jetzt mit verdoppelter Kraft nach der Macht über das ganze Land greifen – in der von ihnen offen erklärten Absicht, es gemäß ihrer terroristisch-islamistischen Ideologie gleichzuschalten. Ihr Vormarsch bei gleichzeitigen Auflösungserscheinungen der afghanischen Regierungstruppen nach dem Abzug der Nato-Truppen scheint sogar in noch weit schnellerem Tempo voranzukommen, als es selbst die pessimistischsten Warner vorausgesagt hatten. Strategische Hauptprofiteure der schmählichen Kapitulation des Westens vor dieser grauenvollen Macht sind seine autoritären globalen Herausforderer – allen voran Putins Russland, das seit Jahren auf die Taliban gesetzt hat

Der Schock von Srebrenica hatte damals allerdings zu einer kaum noch erwarteten Wende in der westlichen Politik geführt. Er rüttelte in erster Linie in den USA die politischen und moralischen Widerstands- und Selbstbehauptungskräfte der demokratischen Welt auf – eine Entwicklung, die Washington nach Jahren des eigenen Abwartens und Zögerns sowie des Versagens der Europäer zum entschiedenen Eingreifen nötigte. Ob dem Verrat an den Afghanen, wenn seine vernichtenden Konsequenzen erst einmal im vollen Umfang sichtbar werden, heute noch einmal eine vergleichbare Umkehr folgen kann, ist indes mehr als fraglich. Über Jahre hinweg wurde die westliche Öffentlichkeit gegenüber dem Schicksal der um die Sicherung elementarer Menschen- und Bürgerrechte in ihrem von endlosem Krieg und Terror zerrütteten Land ringenden afghanischen Zivilgesellschaft abgestumpft – durch die in Politik und Medien ständig wiederholte Behauptung, Afghanistan sei ohnehin ein hoffnungsloser Fall. Die bedeutenden demokratischen und gesellschaftlichen Errungenschaften, die insbesondere von den afghanischen Frauen in den vergangenen 20 Jahren erkämpft worden sind, werden systematisch herabgewürdigt, und die westliche Intervention am Hindukusch wird fälschlicherweise als ein einziger teurer Fehlschlag hingestellt. Oder der schändlichen westlichen Flucht aus der Verantwortung wird mit fadenscheinigen „realpolitischen“ Argumenten eine alternativlose geostrategische Rationalität angedichtet. Ein Blick zurück auf Srebrenica und die Folgen kann dabei helfen, zu begreifen, wie es so weit kommen konnte.

Das Dayton-Abkommen 1995

Das Friedensabkommen, das im November 1995 in Dayton im US-Bundesstaat Ohio ausgehandelt und am 14. Dezember desselben Jahres in Paris von den Präsidenten Serbiens, Kroatiens und  Bosniens formell unterzeichnet wurde, beendete den 1991 ausgebrochenen Balkan-Krieg, und insbesondere den seit 1992 währenden Krieg um Bosnien-Herzegowina – den ersten Krieg in dieser verheerenden Dimension in Europa seit 1945. Zustande gekommen ist das Abkommen unter massivem Druck der USA, die eingriffen, nachdem sich Europa als unfähig erwiesen hatte, die Schlächterei zu beenden. Doch wies es auch Defizite auf, deren Folgewirkungen bis heute spürbar sind.

Zwar wahrte der von den Anführern aller Kriegsparteien nur höchst widerwillig  angenommene Friedensvertrag die staatliche Einheit Bosnien-Herzegowinas, doch unterteilte er das Land in weitgehend autonome nach ethnischen Kriterien definierte Entitäten. Das Abkommen akzeptierte damit implizit die Prämissen der Ideologie des ethnischen, insbesondere des großserbischen Nationalismus. Dieser aber hatte die Region in das Gemetzel mit mindestens 100.000 Toten und über zwei Millionen Flüchtlingen infolge „ethnischer Säuberungen“ gestürzt. Schon wenige Jahre später sollte sich an der Eskalation des Konflikts um den Kosovo zeigen, dass die mörderische Energie des Ethno-Nationalismus noch nicht gebrochen war. Erst die massive Nato-Intervention 1999, die Serbiens Truppen zum Rückzug aus dem Kosovo zwang, konnte ihm fürs erste die kriegerische Spitze abbrechen.

Überdies zog das Abkommen die ethnischen Grenzlinien innerhalb Bosniens im wesentlich entsprechend dem Ergebnis des Krieges, wodurch die in seinem Verlauf begangenen Gräuel indirekt legitimiert wurden. Zwar schrieb der Friedensvertrag individuelle Bewegungsfreiheit innerhalb Bosniens und das Recht auf Rückkehr der Vertriebenen an ihre Heimatorte fest. Doch angesichts der tatsächlichen Verhältnisse der Nachkriegsjahre blieb das ein Lippenbekenntnis.

Das Trauma Srebrenica

Immerhin ist es gelungen, bis heute neue Ausbrüche von kriegerischer Gewalt auf dem Balkan zu verhindern. Doch bleibt die Region von zuletzt wieder zunehmenden explosiven, vom Ethno-Nationalismus geschürten Spannungen geprägt und zerrüttet – eine Instabilität, die sich antieuropäische Mächte wie Putins Russland zunutze machen. Der Bosnien-Krieg ist als Trauma auf dem Balkan weiter präsent, woran sich vor allem eines zeigt: Je länger man entfesselte Gewalt gegen ganze Bevölkerungsgruppen zulässt und je mehr Konzessionen man den Tätern macht, umso schwieriger, aufwendiger, langwieriger und verlustreicher wird es, ein Minimum an zivilisatorischer Sicherheit wiederherzustellen. 

Jahrelang hatte der Westen dem mörderischen Treiben auf dem Balkan weitgehend passiv zugesehen. Zum einen, weil die führenden westlichen Mächte, allen voran Frankreich und Großbritannien, aus Angst vor Instabilität zu lange auf der staatlichen Einheit Jugoslawiens beharrten und daher mehr oder weniger offen mit Serbien als dem vermeintlichen Garanten dieser Einheit sympathisierten. Und zum anderen, weil die Realität eines blutigen Kriegs mitten in Europa nicht in die euphorische Stimmung passte, die den Westen nach dem Ende des Kalten Kriegs ergriffen hatte. Weite Teile der westlichen, und namentlich der deutschen Öffentlichkeit reagierten auf die Berichte über die Gräuel auf dem Balkan daher mit Verdrängung oder Indifferenz, vielfach verbunden mit einer gedankenlosen Relativierung des Täter-Opfer-Verhältnisses: In allen politischen Lagern konnte man damals hören, auf dem Balkan hätten doch alle Beteiligten irgendwie Dreck am Stecken, und man solle sich davor hüten, sich in diese unübersichtliche Gemengelage einzumischen. Es ist dies eine Haltung aggressiver Indifferenz, die bis heute weit verbreitet ist.

In Wahrheit wurden Kriegsverbrechen zwar tatsächlich von allen Seiten begangen, also auch von bosnisch-muslimischer und noch mehr von kroatischer Seite. Doch gingen 80 bis 90 Prozent davon auf das Konto des serbischen Regimes und den von ihm gestützten Freischärlern. Eindeutig war die militärische Aggression zudem von Serbien ausgegangen. Mit der Rückendeckung seines Verbündeten Russland agierte das serbische Regime damals gemäß eines Prinzips, dem der Kreml später selbst folgen sollte: Unter dem Vorwand, vermeintlich eigene Volkszugehörige außerhalb der eigenen Grenzen schützen zu müssen, einen Aggressionskrieg zu führen.

Schutzverantwortung am Ende?

Als Reaktion auf die ethnischen Massaker auf dem Balkan und anderen Massenverbrechen wie den Genozid in Ruanda 1994, denen die internationale Gemeinschaft tatenlos zugesehen hatten, setzten die UN 2005 mit der Zustimmung fast aller ihrer Mitgliedsstaaten die „Schutzverantwortung“ („Responsibility to Protect“) in Kraft. Sie verpflichtet die internationale Gemeinschaft zum Eingreifen, wenn eine Regierung Massaker gegen Teile ihrer eigenen Bevölkerung begeht oder sich als unfähig erweist, diese vor solchen Gräueln zu schützen. Obwohl im streng legalen Sinne völkerrechtlich nicht bindend, handelt es sich bei der Schutzverantwortung doch um die wichtigste Fortentwicklung des Völkerrechts seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Regierungen, die innerhalb ihrer eigenen Grenzen genozidale Verbrechen begehen, können sich demnach nicht mehr hinter der Unantastbarkeit nationaler Souveränität verstecken.

Doch von dem damals proklamierten Vorsatz der Weltgemeinschaft, derartige Untaten nicht mehr zuzulassen, ist so gut wie nichts übrig geblieben. Weil Russland und China mit ihrem Veto im Sicherheitsrat einschlägige Initiativen ersticken können, und weil der Westen zunehmend unwillig ist, sich auf humanitäre Interventionen einzulassen, ist die Schutzverantwortung zur leeren Worthülse erstarrt. Den von dem Despoten Assad und seinen Schutzmächten Russland und Iran betriebenen Vernichtungskrieg in Syrien hingenommen zu haben, dem mehr als eine halbe Million Menschen zum Opfer gefallen sind und in dessen Verlauf gut die Hälfte der syrischen Bevölkerung in die Flucht getrieben wurde, markiert das ultimative Versagen der zivilisierten Welt.

Und jetzt folgt Afghanistan, wo das über zwei Jahrzehnte hinweg aufrechterhaltene Schutzversprechen des Westens nun auf einen Schlag gebrochen wird. Umso dringlicher ist es jedoch, die in der Schutzverantwortung festgelegten Prinzipien dem Zynismus einer vermeintlich „realistischen“ Machtpolitik entgegenzuhalten. Denn lässt man die Auslöschung ganzer Bevölkerungsgruppen irgendwo auf der Welt zu, wird man davor bald nirgendwo mehr sicher sein. Srebrenica bleibt dafür eine schreckliche Mahnung.

Der Artikel basiert auf einem Text, der im Juli 2020 auf ukrainisch hier und auf deutsch hier erschienen ist.

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Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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