Václav Havel. Was es heißt, ein freier Mensch zu sein

Der Dramatiker, Essayist und spätere tschechische Staatspräsident Václav Havel, dessen Todestag sich am 18. Dezember zum zehnten Mal jährt, gehört zu den bedeutendsten Vordenkern und Vorkämpfern der offenen Gesellschaft im 20. Jahrhundert. Sein unbeugsamer, geduldiger Widerstand gegen den Totalitarismus, der sein Heimatland in Form der kommunistischen Einparteiendiktatur mehr als vier Jahrzehnte lang im Würgegriff hielt, gründete auf seinem tiefen philosophischen Verständnis der essenziellen Bedeutung der Freiheit für ein menschliche Dasein in Würde – aber auch für die Gefahren und die Verführungskraft, die sich in der Verheißung der Freiheit verbergen.

Havel, der Autor von Bühnenwerken in der Tradition des Absurden Theaters, wusste um die Begrenzungen der menschlichen Vernunft und der Paradoxien, in die sich auch das von besten Vorsätzen geleitete menschliche Bewusstsein stets verstricken kann. Anders als viele andere Oppositionelle, die der niederdrückenden Realität des Kommunismus das Idealbild eines besseren, „wahren“ Sozialismus oder anderer Varianten einer harmonischen Gesellschaft  entgegensetzten, war Havel kein Utopist und eignete sich nicht zum Verkünder einer wie immer gearteten politischen Heilslehre. Gerade aber weil er sich der Unvollkommenheit jeglichen Strebens nach dem Guten bewusst war, konnte er zu einer Leitgestalt moralischer Integrität avancieren.

Havel legte damit die ideellen Grundlagen der osteuropäischen Dissidentenbewegung, die in der „Charta 77“ ein Vorbild fand. In dieser Erklärung von 1977 forderten Persönlichkeiten ganz unterschiedlicher weltanschaulicher Überzeugungen und aus verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen von den kommunistischen Machthabern nicht mehr und nicht weniger als die Einhaltung elementarer Menschen- und Bürgerrechte. Dabei einte sie die Einsicht, dass der Streit über den besten politischen Weg für die Gesellschaft erst dann Sinn ergibt, wenn Bedingungen hergestellt sind, unter denen er offen und angstfrei geführt werden kann

Das doppelgesichtige Wort  

Sein Bestreben, sich das eigene Leben und Denken nicht mehr von der totalitären Diktatur und ihrer ideologischen Scheinwelt vorschreiben zu lassen, nannte Havel den „Versuch, in der Wahrheit zu leben.“ Die „Macht der Ohnmächtigen“ speiste sich für ihn aus der Entscheidung des Einzelnen, sich den verordneten Sprachregelungen der herrschenden Macht nicht länger zu unterwerfen und die Dinge so zu benennen, wie sie sich tatsächlich darstellen. Das freie Wort, so seine Überzeugung, konnte selbst noch so monolithische scheinende Machtsysteme erschüttern und schließlich zum Einsturz bringen. Das Vertrauen in die positive Sprengkraft des freien Worts verband Havel jedoch mit dem Bewusstsein für die Gefahr, die selbst von den schönsten Worten ausgehen kann, wenn sie für unmenschliche Zwecke missbraucht werden.

„Dasselbe Wort“, resümierte er 1989 in seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, „kann einmal große Hoffnung ausstrahlen, ein anderes Mal nur Todesstrahlen aussenden. Dasselbe Wort kann einmal wahrhaftig und ein anderes Mal lügnerisch sein, einmal faszinierend und ein anderes Mal trügerisch, einmal kann es herrliche Perspektiven eröffnen und ein anderes Mal nur Gleise verlegen, die in ganze Archipele von Konzentrationslagern führen. Dasselbe Wort kann einmal ein Baustein des Friedens sein, und ein anderes Mal kann jeder einzelne seiner Laute vom Echo der Maschinengewehre dröhnen.“

Heute, da Desinformationsapparate autoritärer Mächte die Unterscheidungsfähigkeit zwischen Wahrheit und Lüge, Fakten und Fiktion zu zerstören versuchen, wäre eine autoritative Stimme wie die Havels mit seinem unbestechlichen Gespür für falsche Töne von unschätzbarem Wert. Für die Stärkung der inneren Widerstandsfähigkeit demokratischer Gesellschaften gegen diesen Generalangriff auf das rationale und humane Denken sind Havels Ideen eine ergiebige Quelle. Die Feinde der demokratischen Gesellschaft profitieren davon, dass diese sich ihrer eigenen Werte unsicher geworden sind. Havels Vermächtnis mahnt uns, dass der Bestand einer freiheitlichen Ordnung letzten Endes von der Bereitschaft jedes Einzelnen abhängt, für die Verteidigung ihrer essenziellen Voraussetzungen Verantwortung zu übernehmen

Der Ohnmächtige an der Macht

Von größter Aktualität ist Havels Beispiel vor allem für freiheitliche Oppositionsbewegungen, von Russland über Belarus bis Hongkong und Myanmar, die angesichts brutaler Repression erneut allein auf das Wort als der einzigen ihnen zur Verfügung stehende Waffe zurückgeworfen sind. Das gleiche gilt für die zivilgesellschaftlichen Kräfte, die sich der autoritären Restauration in europäischen Demokratien wie Ungarn und Polen widersetzen. Havels Denken und Leben kann sie in der Überzeugung bestärken, dass die Wahrheit auf Dauer selbst von noch so furchterregenden und scheinbar allmächtigen Repressionsapparaten nicht zu unterdrücken ist, so lange es mutige und nur ihrer eigenen Urteilskraft verpflichtete Menschen gibt, die an ihr festhalten.

Auf diesen Bewegungen, die sich dem neuerlich vordringenden Autoritarismus an vorderster Front entgegenstellen, beruht die Hoffnung auf ein Wiedererstarken der weltweit im Rückzug befindlichen Demokratie insgesamt. Doch ein Problem für Menschen- und Bürgerrechtsbewegungen war es stets, wie sie ihre „Macht der Ohnmächtigen“ auf die Ebene politischer Gestaltung übertragen, nach dem Ende autoritärer Herrschaft institutionelle  Führungsverantwortung übernehmen und dabei ihren liberalen Grundsätzen treu bleiben können.

Auch dies hat Havel vorgelebt, indem er – zuerst als Präsident der Tschechoslowakei nach der „Samtenen Revolution“ von 1989 und, nach der friedlichen Trennung von Tschechien und der Slowakei 1993, bis 2003 als Präsident der Tschechischen Republik – sein Land in die NATO und EU führte und damit in der Gemeinschaft der westlichen Demokratien verankerte. In seiner demokratischer Kontrolle unterworfenen Machtposition musste Havel, der 75 Jahre alt wurde, auch manche politische Niederlage einstecken. Sich von solchen Rückschlägen nicht beirren zu lassen, gehört jedoch ebenfalls zu den Maximen, die uns der realistisch geerdete Idealismus Václav Havels hinterlassen hat

Zuerst erschienen auf Ukrainisch als Kolumne hier.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

1 Kommentar

  • Havel war die unverzichtbare moralisch glaubwürdige Instanz im Transformationsprozess von stalinistischen Diktaturen in Demokratien für Ost- Mitteleuropa . Für uns Ostdeutsche war er das Gesicht der neuen freiheitlichen Zusammenlebensform- ohne jemals der Versuchung erlegen zu sein, Populist zu sein. Danke für das Erinnern an ihn. Von ihm habe ich gelernt, dass Freiheit nicht darin besteht, machen zu wollen, was man will, sondern nicht das machen zu müssen, was man nicht will…..

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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