Vom Wert und Missbrauch der Holocaust-Erinnerung

Vorbemerkung: Auf ebenso absurde wie infame Weise hat die Publizistin Masha Gessen jüngst Gaza mit den von den NS-Besatzern in Osteuropa errichteten Ghettos gleichgesetzt – bei denen es sich um nichts anderes handelte als Durchgangsstationen in die Vernichtungslager. Dieses jüngste Beispiel zeigt, welchen Grad willkürlicher Beliebigkeit die Bezugnahme auf die NS-Menschheitsverbrechen mittlerweile erreicht hat. Dadurch aber werden Vergleiche mit diesen auch in den Fällen diskreditiert, da sie gerechtfertigt, ja unabdingbar sind. Der Kampf um die Deutungsmacht über den Holocaust ist längst zu einem zentralen Faktor in der globalen Konfrontation zwischen der Demokratie und ihren Feinden geworden. Lesen Sie dazu im Folgenden meinen Essay über den Umgang mit der Singularität des Holocaust, den grassierenden Missbrauch der Erinnerung, das florierende Geschäft der Relativierung und die Unausweichlichkeit des Vergleichens. Er ist unter dem Titel „Genozide benennen – und unterscheiden“ in der Ausgabe 1/2024 (Januar-Februar) der Zeitschrift Internationale Politik erschienen.

„Nie wieder ist jetzt!“, lautet ein weit verbreiteter Slogan als Antwort auf das Massaker der Hamas an israelischen Zivilisten am 7. Oktober 2023. In ihm drückt sich aus, dass diese Untat die Erinnerung an den Holocaust auf grauenvolle Weise mit Gegenwart aufgeladen hat.

Tatsächlich handelte es sich dabei um die größte Mordaktion, die seit der nationalsozialistischen „Endlösung“ an Juden verübt worden ist. Die Analogie zur NS-Vergangenheit drängt sich umso mehr auf, als sie von einer Organisation begangen wurde, die offen das Töten von Juden, nur weil sie Juden sind, propagiert – dieses Mal ausgegeben als eine religiöse Pflicht.

Doch ist es überhaupt zulässig und zielführend, aktuelle Massenverbrechen mit dem NS-Menschheitsverbrechen in eine solch unmittelbare Verbindung zu bringen?

Vergleiche mit dem Holocaust haben über die Jahrzehnte hinweg inflationäre Ausmaße erreicht. Der häufige Missbrauch, der damit getrieben wird, droht den Verweis auf ihn auch in Fällen heutiger genozidaler Akte zu entwerten, die tatsächlich strukturelle Ähnlichkeiten mit der Vernichtungslogik des Nationalsozialismus aufweisen. Es ist wie in der Geschichte von dem Jungen, der zu oft „Wolf“ rief, und dem daher niemand mehr Glauben schenkte, als die Wölfe tatsächlich kamen.

So wird auch jetzt das Warnsignal, das von dem anti­semitischen Massenmord der Hamas für die gesamte zivilisierte Menschheit ausgeht, durch eine die Erinnerung an die NS-Vergangenheit missbrauchende Rhetorik übertönt. Von den Verfechtern der vermeintlichen Sache der Palästinenser wurde der Spieß schnell umgedreht, als Israel seine Militäraktion zur Zerschlagung der Hamas begann. Sogleich überschlugen sich die arabische und iranische Propaganda sowie ihre Schallverstärker rund um den Globus mit Anschuldigungen wie der, Israel begehe in Gaza einen „Völkermord“ und folge dabei den Vernichtungspraktiken Hitlerdeutschlands.

Dagegen ist festzuhalten: Zweifellos sind im Zuge der israelischen Militäroperationen viele zivile Opfer zu beklagen, und die kriegsbedingte Not der Zivilbevölkerung von Gaza ist gewiss groß – auch wenn es höchst befremdlich ist, wie unkritisch große Teile der Weltöffentlichkeit entsprechende Angaben von Opferzahlen aus der Propaganda der Hamas übernommen haben. Unabhängig davon ist jedes zivile Opfer eines zu viel. Auch mögliche Verstöße Israels gegen das Kriegsrecht müssen untersucht und gegebenenfalls geahndet werden. Doch dabei darf ein fundamentaler Unterschied nicht verwischt werden: Im Gegensatz zur Hamas greift Israel nicht vorsätzlich und gezielt Zivilisten an. Es ist vielmehr die Hamas, die ihre militärischen Stellungen systematisch in zivilen Einrichtungen angelegt und so die Zivilbevölkerung als Schutzschild in Stellung gebracht hat, um Israels Angriffe auf derartig getarnte Militäreinrichtungen als Kriegsverbrechen denunzieren zu können.

Wenn jetzt vielfach Israels Vorgehen gegen die Hamas sogar mit Putins genozidalem Vernichtungskrieg gegen die Ukraine auf eine Stufe gestellt wird, ist die Täter-­Opfer-Umkehr vollständig. Russland führt nämlich nicht Krieg, weil es zuerst von ukrainischen Mordkommandos angegriffen worden wäre, und Israels Armee erschießt nicht, wie die russischen Truppen in der Ukraine, wahllos Zivilisten oder quält sie zu Tode, plündert nicht deren Häuser, vergewaltigt nicht systematisch Frauen, foltert und kastriert keine Kriegsgefangenen und verschleppt nicht massenhaft Kinder zur „Umerziehung“. Und Israel erklärt den Palästinensern nicht, wie es das Kreml-Regime gegenüber den Ukrainern tut, man werde sie nur am Leben lassen, wenn sie ihrer palästinensischen Identität abschwören. Wer diese Unterschiede ums Ganze ignoriert, hat entweder sein Urteilsvermögen oder allen Anstand verloren.

Kalkulierter Missbrauch

Den Nazi-Vorwurf demagogisch gegen den jüdischen Staat zu wenden, hat in der antiisraelischen Propaganda seit Langem Methode. Ein berüchtigtes Beispiel für diesen kalkulierten Missbrauch bot unlängst Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, als er im August 2022 – also lange vor dem Gaza-Krieg – bei einer Pressekonferenz mit Bundeskanzler Olaf Scholz im Kanzleramt verkündete, ­Israel habe „seit 1947 bis zum heutigen Tag 50 Massaker in 50 palästinensischen Orten begangen“, und hinzufügte: „50 Massaker, 50 Holocausts.“

Gegen derartige Schändungen der Holocaust-Erinnerung ist festzuhalten, dass es sich bei dem NS-Judenmord um ein singuläres Verbrechen handelt, das in seiner Dimension weit über alle anderen bekannten Genozide hinausgeht. Nie zuvor und nie danach hat es den systematisch durchgeführten Plan gegeben, eine als „minderwertig“ eingestufte Menschengruppe bis auf das letzte Individuum, Säuglinge eingeschlossen, physisch auszurotten.

Dieser historische Maßstab muss gegen Relativierungen und Instrumentalisierungen jeglicher Art und Richtung energisch verteidigt werden. Doch gilt es auch, sich einem pauschalen Vergleichstabu zu widersetzen, das von Gralshütern der Singularität reflexhaft beschworen wird, sobald Ausbrüche exterminatorischer Gewalt irgendwo auf der Welt Reminiszenzen an die NS-Vernichtungspolitik wecken.

So hat in einem vergangenen November in der New York Review of Books publizierten offenen Brief eine Gruppe von Holocaust- und Antisemitismusforschern, darunter Michael Rothberg, Omer Bartov und Stefanie Schüler-Springorum, „Israels Führung und andere“ bezichtigt, sie benutzten „das Holocaust-Framing, um Israels kollektive Bestrafung des Gazastreifens als Kampf für die Zivilisation gegen die Barbarei darzustellen“ und förderten damit „rassistische Narrative über die Palästinenser“. Und weiter: „Darauf zu insistieren, dass ‚die Hamas die neuen Nazis sind‘ – während die Palästinenser kollektiv für die Handlungen der Hamas verantwortlich gemacht werden –, unterstellt denen, die die Rechte der Palästinenser verteidigen, verhärtete, antisemitische Motivationen.“

Doch abgesehen von der Falschbehauptung, die israelische Regierung mache „die Palästinenser kollektiv für die Handlungen der Hamas verantwortlich“ – die Opfer des Hamas-Überfalls und ihre Angehörigen, ebenso wie alle Menschen, die genuin mit ihnen fühlen, bedürfen wohl kaum einer ideologischen Manipulation durch „Israels Führung und andere“, um in den Gräueltaten der Islamisten die Handschrift des Nazismus wiederzuerkennen. Irritierend ist auch, dass sich diese Forscher nur gegen die vermeintlich missbräuchliche Verwendung des „Holocaust-Framing“ durch Israel und proisraelische Kräften wenden, nicht aber die massive Instrumentalisierung des Holocaust-Paradigmas auf propalästinensischer Seite verurteilen.

Verhärtete antisemitische Motive

Und auch, wenn man gewiss nicht allen Unterstützern der Palästinenser „verhärtete antisemitische Motive“ unterstellen kann, so sind sie doch bei einer großen Anzahl von ihnen offensichtlich. Bei weltweiten Protestdemonstrationen gegen Israel werden massenhaft Parolen gezeigt und gerufen, die dem jüdischen Staat das Existenzrecht absprechen, und oft wird dort mörderischer Hass gegen Juden herausgebrüllt.

Vor dem genannten offenen Brief hatte bereits der Historiker und Holocaust-Forscher Stephan Lehnstaedt unzulässige Vergleiche mit der Shoah beklagt. So bemängelt er in einem Beitrag für den Tagesspiegel, dass der ukrainische Präsident Selenskyj den russischen Angriff auf sein Land als den Versuch einer gegen die ukrainische Nation gerichteten „Endlösung“ bezeichnet hat. Zwar handelt es sich dabei um keine Gleichsetzung mit dem Holocaust, dennoch werde aber, meint Lehnstaedt, „auch so – meist unabsichtlich – die Singularität des Holocaust relativiert. Das missbraucht die Opfer von damals für aktuelle Zwecke, anstatt ihrer als Menschen und Individuen zu gedenken. Und mehr noch, indem die neuen Täter auf die Stufe der damaligen Mörder erhoben werden, verringern sich semantisch die historische Schuld und die gegenwärtige Verantwortung der Deutschen: Seht her, die Nazis sind heute und anderswo!“

Diese Position stellt eine seltsame Art von nationaler Vereinnahmung des beispiellosen Menschheitsverbrechens dar – gleichsam die Reklamation eines exklusiven deutschen Definitionsrechts darüber, was im Umgang mit der Shoah als angemessen zu gelten hat. Dieser Logik zufolge muss das ultimative Verbrechen für immer ein deutsches Verbrechen bleiben – um den Deutschen keinen Vorwand zu geben, sich von ihrer historischen Schuld zu entlasten.

Neue Vernichtungspraktiken

Doch es ist infam, jene, die Genozide wie den Russlands an der Ukraine beim Namen nennen und sich dabei nicht scheuen, objektive Ähnlichkeiten mit dem NS-Vernichtungskrieg aufzuzeigen, mit einer Relativierung deutscher Schuld in Verbindung zu bringen. In Wahrheit dringen gerade die proukrainischen Stimmen seit Langem darauf, dass sich die Deutschen ihrer historischen Verantwortung für die unvorstellbaren NS-Verbrechen in der Ukraine endlich in vollem Ausmaß bewusst werden und die entsprechenden Schlussfolgerungen daraus ziehen. Deutlich zu machen, dass ähnliche Verbrechen dort heute wieder begangen werden, bekräftigt diese Verantwortung, statt sie zu minimieren. Diejenigen hingegen, die deutsche Schuld tatsächlich relativieren oder vergessen machen wollen, wie die rechtsextreme AfD, stehen zumeist auf der Seite des russischen Aggressors.

Wenn es zudem bereits als Missbrauch der Opfer der Shoah gelten soll, dass sich heutige Opfer exterminatorischer Verfolgung auf deren Leiderfahrung beziehen, gerät die Bewahrung der Erinnerung an das deutsche Jahrtausendverbrechen zum musealen Selbstzweck, der hauptsächlich der Reinerhaltung des Kategoriensystems akademischer Spezialisten dient. In Wahrheit sind es häufig gerade Überlebende des Holocaust, die sich in den heutigen Opfern genozidaler Gewalt unmittelbar wiedererkennen – wenn sie nicht gar selbst leibhaftig davon betroffen sind wie der 96-jährige Borys Romantschenko, der bei einem russischen Raketenangriff auf die Zivilbevölkerung Charkiws getötet wurde.

Das Geschäft der Relativierung betreiben in Wirklichkeit jene, die im Namen der Einzigartigkeit deutscher Schuld aktuelle Verbrechen gegen die Menschlichkeit herunterspielen. Damit verkehren sie den Sinn der Aufarbeitung der singulären deutschen Verbrechen ins Gegenteil. Denn der daraus folgende Imperativ lautet, neuen Vernichtungspraktiken rechtzeitig entgegenzutreten, bevor sie ähnliche Ausmaße annehmen können wie die des Nationalsozialismus – und nicht, sie aus fehlgeleiteter Angst vor Begriffsverwirrung reflexhaft kleinzureden.

Doch die führenden westlichen Regierungen sowie die sogenannte internationale Gemeinschaft insgesamt wollen das Offensichtliche, den russischen Genozid an der Ukraine, nicht beim Namen nennen. Teils geschieht das aus Ignoranz, teils weil die Verantwortlichen vor der Konsequenz zurückschrecken, die sich aus der Anerkennung dieses Tatbestands zwingend ergibt: vor der Verpflichtung der zivilisierten Welt, mit allen Mitteln gegen einen solchen Völkermord mitten in Europa einzuschreiten.

Kampf um Deutungshoheit

Wie mit der Singularität des Holocaust umzugehen ist, stellt alles andere als eine abstrakte theoretische Frage dar. Denn der Kampf um die Deutungshoheit über die Geschichte ist zu einem wesentlichen machtpolitischen Faktor in der internationalen Politik geworden. Wie die Vergangenheit betrachtet und welche Lehren aus ihr gezogen werden, bestimmt maßgeblich die Normen und Werte, auf die sich die globale Ordnung gründet. Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg galten die Verhinderung von Angriffskriegen und Völkermord als die höchsten Imperative, die aus der schrecklichen Erfahrung der jüngsten Geschichte abgeleitet wurden. Seit den 1960er Jahren setzte sich dabei das Gedenken an Auschwitz (das synonym für die NS-­Judenvernichtung stand) als einem universalen Geschichtszeichen durch. Insbesondere für die deutsche Demokratie entwickelte sich die Erinnerung an den Holocaust im Laufe der 1980er Jahre zum zentralen identitätsstiftenden Faktor. Nie wieder etwas Vergleichbares zuzulassen wie das bislang einzigartige Verbrechen des Holocaust avancierte zur obersten ethischen Maxime globalen staatlichen Handelns.

Doch die darauf basierende Weltordnung wird heute von immer aggressiver auftrumpfenden autoritären Mächten fundamental infrage gestellt, allen voran Russland und China. Folgerichtig wollen sie durch Verfälschung, Verdrehung und Umdeutung der historischen Wahrheit die aus ihr abgeleiteten Werte unterminieren. Die Lehren aus der Shoah zu verzerren und umzuwerten, nimmt dabei für sie eine zentrale Stellung ein. Auf besonders perfide Weise tut sich darin der russische Autokrat Wladimir Putin hervor, der Russland als den einzig wahren Befreier der Menschheit von der Geißel des Nationalsozialismus hinstellen will, und der seinen Aggressionskrieg gegen vermeintliche ukrainische „Faschisten“ auch von bekennenden Neonazis führen lässt.

Im Zuge seiner faktischen Parteinahme für die massenmörderische Hamas und ihre iranischen Instrukteure hat Putin seine fiktionale Umschreibung der Geschichte nun auf die Spitze getrieben, indem er das abgeriegelte Gaza mit dem belagerten Leningrad im Zweiten Weltkrieg und damit Israels Verteidigungskrieg gegen die terroristische Hamas mit Hitlers Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion gleichsetzte. Bei anderer Gelegenheit prangerte er die „Ausrottung der Zivilbevölkerung in Palästina, im Gazastreifen“ durch Israel an – eine Praxis, die er selbst in der Ukraine betreibt und davor in Syrien betrieben hat.

Dies ist umso gravierender, als Putin früher schon einmal die Blockade Leningrads als gleichrangiges Verbrechen neben den Holocaust gestellt hat. Die Vereinnahmung des Holocaust-Paradigmas ist Teil seiner hybriden Kriegsführung gegen die westlichen liberalen Demokratien. Denn der Kreml-Herrscher und seine Desinformationsspezialisten wissen genau um die konstitutive Bedeutung der historischen Interpretation des Zweiten Weltkriegs für Selbstverständnis und Zusammenhalt der westlichen Wertegemeinschaft.

Banalisierung der Barbarei

Nach westlichem Geschichtsverständnis markiert der NS-Zivilisationsbruch, der im Holocaust kulminierte, den tiefsten Abgrund der Menschheitsgeschichte. Nach der Zerschlagung des Nationalsozialismus und der Überwindung auch des zweiten Totalitarismus des 20. Jahrhunderts, des kommunistischen, in den Jahren 1989 bis 1991 hätten demnach Europa und die gesamte demokratische Welt aus dieser doppelten Katastrophe die ­richtigen, freiheitlichen Lehren gezogen. Die rechtsstaatliche, pluralistische Demokratie sowie das Streben nach friedlicher Kooperation der Staaten auf globaler Ebene erscheint dieser Geschichtsauffassung gemäß als die adäquate Antwort auf die durch den Holocaust auf bodenlos grauenvolle Weise offenbar gewordene ständige Bedrohung der zivilisatorischen Grundlagen der Menschheit.

Indem Putin sein – in Wahrheit zutiefst antisemitisch imprägniertes – kriminelles Herrschaftssystem nun als Hüter der einzig richtigen Auslegung von Weltkrieg und Holocaust anpreist, fordert er die liberalen Demokratien im Kern ihres Wertegebäudes heraus. Dabei ist ihm nicht entgangen, wie brüchig das Fundament der Holocaust- „Gedenkkultur“ im Westen tatsächlich ist. Im Laufe der Jahrzehnte hat sich hier eine ritualisierte Erinnerungsroutine eingestellt, die es tendenziell als selbstverständlich voraussetzt, welche Lehren aus dieser Menschheitskatastrophe zu ziehen sind. Entsprechend schlecht vorbereitet zeigen sich die westlichen politischen und kulturellen Eliten darauf, dass autoritäre Regime aus diesem Gedenken jetzt ganz andere Konsequenzen ziehen als die der Einführung demokratischer und pluralistischer Verhältnisse.

Zumal der Missbrauch der Holocaust-Erinnerung und Relativierungen der NS-Verbrechen auch im Westen eine lange, umfangreiche Tradition haben – was den russischen und anderen autokratischen Desinformationskriegern ein fruchtbares Feld bietet, um in den westlichen Gesellschaften Verwirrung zu stiften. Dabei kamen die vielen Varianten der Verballhornung der Lektionen der Vergangenheit hierzulande keineswegs nur von rechts. Repräsentanten der deutschen Friedensbewegungen der 1980er Jahre gefielen sich darin, vor dem Atomkrieg als einem „Super-Holocaust“ zu warnen. Linke Hausbesetzer agitierten zugleich gegen einen drohenden „Räumungs-Holocaust“. Von Tierschützern, die Hühner-Legebatterien mit KZs gleichsetzten, bis hin zu Kampfhundbesitzern, die sich aus Protest gegen den Maulkorbzwang für ihre Lieblinge gelbe Sterne anhefteten – im Reigen der Banalisierungen der NS-Barbarei fehlt keine makabre Kuriosität.

Ebenso zwanghafte wie absurde Gleichsetzungen des demokratischen Rechtsstaats mit der NS-Diktatur grassieren heute in der „Querdenker“-Szene. Und auch Teile der Klimaschutzbewegung können offenbar der Versuchung nicht widerstehen, ihr Anliegen mittels einer auf den Holocaust bezogene Überbietungsrhetorik zu dramatisieren. So erklärte im März vergangenen Jahres der Anwalt einer „Letzte-Generation“-Aktivistin vor Gericht: „Meine Generation hat ihre Eltern gefragt: Habt ihr den NS-Staat toleriert oder gar unterstützt, oder habt ihr Handlungsspielräume, ihn zu bekämpfen, ausgenutzt?“ Diese Frage stelle sich heute wieder angesichts der „noch viel größeren Katastrophe, die auf uns zukommt“.

„Eine Art Gedenkreligion“

Ein weit ernster zu nehmender Angriff von links auf das Bewusstsein für die Singularität des Holocaust erfolgt derzeit vonseiten Theoretikern des „Postkolonialismus“. Die Fixierung auf das Gedenken an den NS-Judenmord, lautet ihr Vorwurf, gehe auf Kosten der Aufarbeitung der Verbrechen des europäischen Kolonialismus. So polemisiert der australisch-amerikanische Historiker Dirk Moses gegen das Holocaust-Gedenken in Deutschland als eine Art Gedenkreligion und das Bestehen auf der Einzigartigkeit der NS-Judenvernichtung als einen deutschen „Katechismus“ – Formeln, die fatal an die rechtsradikale Parole vom deutschen „Schuldkult“ erinnern.

Dabei versuchen die „Postkolonialisten“ die Erinnerung an die Verbrechen des Kolonialismus gegen das Holocaust-­Gedenken auszuspielen, indem sie die angebliche ausschließliche Fixierung auf den NS-Judenmord für das vermeintliche Beschweigen der kolonialistischen Vergangenheit verantwortlich machen. So, als handle es sich bei der Erinnerungsarbeit um ein Nullsummenspiel: Wenn dem Holocaust zu viel Aufmerksamkeit geschenkt werde, ziehe das die entsprechende Menge an Aufmerksamkeit von den Verbrechen des Kolonialismus ab. Gerade diese Suggestion aber ist geeignet, antisemitische Ressentiments zu befeuern wie das, die Juden und Israel monopolisierten den Opfer­status für sich und nutzten dieses Monopol zur Durchsetzung finsterer Machtinteressen.

Der Ansatz „postkolonialer“ Theoretiker zielt darauf, den Holocaust auf eine Spielart kolonialistischer Gewalt zu reduzieren. Manche Kritiker dieser Lesart sehen darin einen „Historikerstreit 2.0“ – diesmal vom Zaun gebrochen von links. Den als „Historikerstreit“ bezeichneten zeithistorischen Disput von 1986/87 hatte der nationalkonservative Historiker Ernst Nolte ausgelöst, als er den Holocaust als eine „asiatische Tat“ bezeichnete und mit Hinweis auf den Archipel Gulag und den „Klassenmord der Bolschewiki“ in Abrede stellte, dass die NS-Judenvernichtung eine in der Geschichte präzedenzlose verbrecherische Dimension besaß.

Dieses Muster einer Relativierung durch „Kontextualisierung“ findet sich in dem Versuch „postkolonialer“ Historiker wieder, die NS-Judenvernichtung in die Kontinuität der ihr vorgängigen Verbrechen des Kolonialismus zu stellen. Doch dem NS-Regime ging es nicht um die Kolonisierung, Ausbeutung oder Versklavung der Juden, sondern ausschließlich um ihre Vernichtung. Denn im Judentum hatten sie den ultimativen Weltfeind ausgemacht, der ihrer wahnhaften Ideologie gemäß vom Erdboden getilgt werden müsse, um das Überleben der „arischen Rasse“, ja einer „gesunden“ Menschheit überhaupt zu sichern. Derartiges ist in der Geschichte des Kolonialismus, so entsetzlich er auch war, nicht zu finden.

Mit dem zeitlichen Abstand zum Holocaust droht das Bewusstsein für seine tatsächliche Bedeutung zu erodieren. Das aber schwächt die geistigen Widerstandskräfte gegen den Einbruch der äußersten Unmenschlichkeit, der jederzeit möglich ist. Denn dass der Holocaust historisch singulär ist, heißt nicht, dass Ähnliches nicht erneut Realität werden könnte. Eine Binsenweisheit besagt, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Und in der Tat ist es schwer vorstellbar, dass sich der Holocaust exakt so, wie er abgelaufen ist, noch einmal ereignen könnte. Was aber sehr wohl wiederkehren kann und aktuell sogar einzutreten droht, sind die Voraussetzungen, unter denen der Holocaust möglich wurde: der Kollaps der zivilisatorischen Abwehrmechanismen gegen das Vordringen eines grenzenlosen Vernichtungswillens.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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