Mit Putins Russland gibt es nichts zu verhandeln

Der folgende Essay ist zuerst am 22. Februar 2024 auf der Website der Zeitschrift Internationale Politik erschienen. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung hatte Kanzler Scholz noch nicht seine fragwürdige Begründung für sein kategorisches Nein zur Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine verkündet, SPD-Fraktionschef Mützenich noch nicht das „Einfrieren“ des Kriegs als Ziel proklamiert, Papst Franziskus der Ukraine noch nicht das Hissen der weißen Fahne empfohlen, und der in seinen Hintergründen undurchsichtige Terroranschlag von Moskau dem Putin-Regime noch nicht neue Dimensionen für seine Kriegspropaganda eröffnet. Alle diese Ereignisse bestätigen aber nur dramatisch die Befürchtung, die ich in diesem Text formuliert habe: Wachsende Teile der westlichen Politik und Öffentlichkeit betreiben ein „München 1938 in Zeitlupe“. Je mehr Unentschlossenheit und Uneinigkeit der Westen erkennen lässt, umso mehr intensiviert der Terrorstaat Russland seine Vorbereitungen für die Ausweitung seines Vernichtungskriegs auf die gesamte freie Welt.

Zwei Jahre nach dem Beginn des russischen Überfalls auf die gesamte Ukraine am 24. Februar 2022 steht das demokratische Europa vor einer existenziellen Entscheidungssituation – wie die freie Welt insgesamt.

Die Alternative könnte klarer kaum sein. Entweder die westlichen Demokratien verstärken unverzüglich massiv ihre Anstrengungen zur Belieferung der Ukraine mit sämtlichen Waffen und Waffensystemen, die ihr den vollständigen Sieg über den Aggressor ermöglichen. Oder es setzen sich diejenigen Kräfte durch, die – wie der rechtsextreme Flügel der US-Republikaner sowie rechts- und linkspopulistische Bewegungen in Europa – der Ukraine entweder gänzlich die Unterstützung entziehen oder die sie dazu drängen wollen, „Verhandlungen“ mit den Invasoren aufzunehmen. Das bedeutete im Klartext, dass sie sich mindestens mit der Abtretung von Teilen ihres Territoriums an die mörderische „Russische Föderation“ abzufinden hätte, wenn nicht mit ihrer gänzlichen Selbstaufgabe. 


Die offen bekundete Absicht des russischen Regimes, die Ukraine im Ganzen zu zerstören, ist ebenso ungebrochen wie seine Aggressionsbereitschaft gegen den gesamten Westen. Auf eine wie immer geartete Friedenswilligkeit des Kremls zu setzen, wäre daher nicht nur von der Ukraine, sondern von den europäischen Demokratien insgesamt selbstmörderisch. Was gerne euphemistisch als wachsende westliche „Kriegsmüdigkeit“ bezeichnet wird, ist nichts anderes als ein Prozess schleichender Kapitulation, eine Art München 1938 in Zeitlupe.


Die Zeit läuft ab

Welchen Weg die freie Welt jetzt einschlagen wird, entscheidet somit über nichts weniger als die Zukunft der demokratischen Zivilisation im Ganzen. Dabei bleibt nicht mehr viel Zeit, um eine fatale Fehleinschätzung des Ausmaßes des russischen Vernichtungswillens zu korrigieren. Hinter der seit zwei Jahren an den Tag gelegten Zögerlichkeit des Westens bei der militärischen Unterstützung der Ukraine steckte die Illusion, die Abwehr der russischen Aggression ließe sich auf das ukrainische Schlachtfeld begrenzen, ohne dass dieser Krieg einschneidende Konsequenzen für die westlichen Gesellschaften selbst haben würde. Man verließ sich darauf, dass die Angriffswucht des Aggressors angesichts der heroischen Gegenwehr der Ukrainerinnen und Ukrainer und unter dem Druck der westlichen Sanktionen auf Dauer erschlaffen und Moskau sich irgendwann gezwungenermaßen kompromissbereit zeigen werde. Aber jeder hätte längst wissen müssen, dass das putinistische Russland keinen Frieden mit der Ukraine will, sondern deren Vernichtung um jeden Preis – und dass es von diesem Ziel nicht ohne eine vollständige Niederlage ablassen wird, weil es seine eigene Identität damit verknüpft hat.


Weil der Westen der ukrainischen Armee essenzielle Waffensysteme vorenthalten und das ihr zugesagte Kriegsgerät zu spät, in zu geringem Umfang oder gar nicht geliefert hat, geht dieser nun die Munition aus. Währenddessen hat der Aggressor ausreichend Zeit gewonnen, sich von anfänglichen schweren Niederlagen zu erholen und mit erneuerter Kraft zum Angriff überzugehen – die Verschärfung des permanenten Raketenterrors gegen die ukrainische zivile Infrastruktur und Zivilbevölkerung eingeschlossen. Die häufig geäußerte, gut gemeinte Aussage, die Ukrainerinnen und Ukrainer kämpften auch für unsere Freiheit, nimmt vor diesem Hintergrund einen zynischen Beigeschmack an. Denn man könnte auch sagen, dass wir sie aus Angst und Bequemlichkeit für unsere Freiheit sterben lassen.


Ukraine unter Druck

Der kürzliche Fall von Awdijiwka unterstreicht dramatisch die Gefahr, dass die ukrainische Frontlinie in der Ostukraine unter dem neuen russischen Ansturm zerbrechen könnte – mit potenziell verheerenden Folgen für die Verteidigungsfähigkeit des Landes insgesamt. Langsam dämmert den politisch Verantwortlichen in den westlichen Hauptstädten immerhin, was das für uns bedeuten würde. Umso mehr, als die jüngsten Äußerungen Donald Trumps zum westlichen Bündnis die europäische Politik in die hektische Furcht versetzt hat, sie könnte im Falle seiner Rückkehr ins US-Präsidentenamt in der Konfrontation mit Russland allein dastehen. Doch solange die westlichen Gesellschaften den Verteidigungskrieg der Ukraine nicht ganz als ihren eigenen verstehen und ihre geballte wirtschaftliche Kraft zur Steigerung der Rüstungsproduktion einsetzen, die eine angemessene Bewaffnung der Ukraine sicherstellen kann, könnten sich auch die neuerlichen Zusagen an Militärhilfe als nicht verlässlich erweisen.


Zu Recht kritisiert jetzt Olaf Scholz europäische Partner wie Frankreich, viel zu wenig für die militärische Unterstützung der Ukraine zu tun. Doch zugleich verweigert er dieser weiterhin hartnäckig die Lieferung der von ihr dringend benötigten Taurus-Marschflugkörper. Dass Deutschland mittlerweile mehr Militärhilfe leistet als die meisten anderen Europäer, kann dafür keine Ausrede sein. Denn auch den zögerlichsten, auf „Eskalationsvermeidung“ bedachten Verantwortlichen müsste inzwischen klar geworden sein, dass die russische Aggressionsbereitschaft weit über die Ukraine hinausreicht.


Alarmsignal Nawalny-Mord

Der Tod Alexej Nawalnys ist ein weiteres akutes Alarmzeichen dafür. Denn ob er nun vom Kreml gezielt hingerichtet wurde oder an den auf seine Vernichtung angelegten Haftbedingungen zugrunde gegangen ist – seine Ermordung muss im Kontext der systematischen Zurichtung und Gleichschaltung der russischen Gesellschaft für den großen Krieg gegen den Westen gesehen werden. Diesen bereitet das Putin-Regime nicht nur vor, es wähnt sich bereits jetzt darin – betrachtet es doch nach wiederholter eigener Aussage den Krieg in der Ukraine nur als dessen erste Schlacht. 


Der Kreml bringt im Inneren sämtliche Stimmen zum Schweigen, die zu einem Störfaktor werden könnten, wenn er seinen Vernichtungskrieg auf die gesamte freie Welt ausweitet und dafür die grenzenlose Opferbereitschaft seiner Untertanen benötigt. Die westlichen Gesellschaften müssen die Liquidierung Nawalnys als untrügliches Zeichen dafür begreifen, dass ein russischer Angriff auf NATO-Staaten unmittelbar bevorstehen könnte. 


Dabei spielt es für die Machthaber in Moskau gar keine maßgebliche Rolle, ob ein großer Krieg gegen den Westen nach rationalen militärischen Kriterien für sie gewinnbar wäre. Ihren wahnhaften Vorstellungen gemäß wird das westliche Bündnis vor ihrem absoluten Vernichtungswillen früher oder später in die Knie gehen, weil es „dekadent“ sei und es mit der russischen Entschlossenheit zur grenzenlosen Gewaltanwendung nicht aufnehmen könne – eine Entschlossenheit, die auch die Opferung unzähliger Leben auf der eigenen Seite in Kauf nimmt, ja diese sogar für den Ausweis von echter Stärke und wahrem Heroismus hält. „Klassische“ strategische Analysen, die das militärische Kräfteverhältnis abwägen und daraus bestimmte Konfliktwahrscheinlichkeiten ableiten, laufen daher ins Leere. Sie gehen von einer Rationalität aus, die auf russischer Seite nicht existiert. Putins Russland geht es nicht um einen Sieg im herkömmlichen Sinne, sondern darum, unter seinen vermeintlichen Feinden maximale Zerstörung anzurichten. Es kann nicht anders als den Krieg immer mehr auszuweiten, weil die entgrenzte Gewalt sein einziger „Wert“ und Daseinszweck ist.


Eine Kraft des Bösen

Zutreffend hat kürzlich der französische politische Philosoph Nicolas Tenzer die Dimension der Bedrohung durch den Putinismus benannt, die im Westen bis heute verkannt wird:  „Putin hat sich ein globales Projekt der Zerstörung von Prinzipien vorgenommen, die nach den Nürnberger Prozessen festgelegt wurden: die Charta der Vereinten Nationen, die Unverletzlichkeit der Grenzen, das humanitäre Völkerrecht und die Verantwortung, sich gegenseitig zu schützen. (…) Weit über die Invasion in der Ukraine hinaus, die von den Experten als ein Akt des ‚Neo-Imperialismus´ bezeichnet wird, ist hier etwas sehr viel Tiefgreifenderes im Gange. Die eigentliche Botschaft ist das Verbrechen. Das Verbrechen nur um des Verbrechens willen ist die Definition des Bösen.“


Vor Putin in der Ukraine zurückzuweichen, würde somit nicht nur bedeuten, die Kriegsgefahr für das freie Europa massiv zu erhöhen. Sollte der Kreml mit seinem Vernichtungskrieg gegen die ukrainische Nation auch nur geringste vom Westen tolerierte Erfolge erzielen, würde dies die normative und moralische Verfasstheit der Demokratien in ihren Grundfesten erschüttern. Denn damit würde man sich der Logik einer Ideologie des Völkermords beugen. Indem das putinistische Regime die Ukrainerinnen und Ukrainer vor die Alternative stellt, entweder ihre ukrainische Identität aufzugeben und als zwangsrussifizierte Heloten Moskaus  weiterzuleben, oder getötet zu werden, gibt es sich nicht nur keinerlei Mühe, seine Absicht zu verbergen, die ukrainische Nation auszulöschen. Es verkündet sogar offen, dass einen solchen Genozid zu verüben das legitime historische Recht Russlands sei. Das ist der Kern der Aussagen Putins in seinem als „Interview“ getarnten Propagandaauftritt mit dem US-Rechtsextremisten Tucker Carlson.


Hier und in anderen Reden während des Krieges stützt sich Putin, wie der Historiker Timothy Snyder feststellt, auf die Unterscheidung zwischen „natürlichen“ und „künstlichen“ Nationen. Demnach hätten „natürliche“ Völker eine Daseinsberechtigung, „künstliche“ wie die Ukraine dagegen nicht. Putin lässt keinen Zweifel daran, dass er jeden aus dem Weg zu räumen entschlossen ist, der sich seiner erfundenen Version der Geschichte eines „ewigen Russland“ widersetzt und an dem Wissen um eine durch Tatsachen belegten Realgeschichte festhält.


„Wenn es Menschen gibt, die sagen, dass die Ukraine real ist“, schreibt Snyder dazu, „müssen sie zerstört werden. Das war von Anfang an die Logik des russischen Massenmords. Putin rechnete damit, dass die Ukraine in wenigen Tagen fallen würde, weil er dachte, er müsse lediglich ein paar Ukrainer in einer künstlichen Elite eliminieren. Je mehr Ukrainer es waren, desto mehr Menschen mussten getötet werden. Das Gleiche gilt für physische Ausdrucksformen der ukrainischen Kultur. Russland hat Tausende ukrainische Schulen zerstört. Überall, wo russische Truppen hinkommen, verbrennen sie ukrainische Bücher.“ Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass Russland im Falle seiner weiteren Expansion dieselben Praktiken anwenden wird. 


Ausgeblendete Bedrohung

Wie wenig dieses abgründige Ausmaß der Bedrohung aber noch immer in das Bewusstsein der deutschen Gesellschaft gedrungen ist, zeigt sich an den aktuellen bundesweiten Massendemonstrationen gegen die AfD. Diese sind zweifellos ein wichtiges und ermutigendes Zeichen der Bereitschaft großer Teile der deutschen Gesellschaft, die Demokratie gegen den erstarkenden Rechtsextremismus zu verteidigen. Doch im Zentrum dieser Mobilisierung für die demokratischen Grundwerte findet sich ein blinder Fleck, der ihre Glaubwürdigkeit ebenso wie ihre Wirkungskraft in Zweifel zieht.


Denn was in der Verurteilung der AfD durch Politiker aller Lager und Aktivisten verschiedener Couleur meist unerwähnt bleibt, ist die Tatsache, dass es sich bei dieser Partei um eine Einflussagentur des Kremls handelt, um ein Instrument der russischen hybriden Kriegsführung zur Destabilisierung der liberalen Demokratien. Darin aber besteht die eigentliche Quelle der Gefahr, die von der AfD für den Bestand des demokratischen Gemeinwesens ausgeht.


Auch wenn es innerhalb der deutschen Gesellschaft zweifellos ein erhebliches „hausgemachtes“ Potenzial an antidemokratischer und autoritärer Gesinnung gibt – der AfD wäre es nie gelungen, dieses Potenzial in diesem Ausmaß zu mobilisieren und zu formieren, stünde hinter ihr nicht der putinistische Desinformationskriegsapparat, der seit vielen Jahren das Bewusstsein für den Wert des demokratischen Pluralismus und der Rechtsstaatlichkeit systematisch unterminiert. Derzeit intensiviert er seine Anstrengungen massiv, um die demokratischen Prozesse in Deutschland zu manipulieren und zu obstruieren.


Russland intensiviert Desinformationskrieg

„X“, das ehemals Twitter benannte Kurznachrichtenportal Elon Musks, ist zu einem Haupteinfallstor für russische Desinformationskriegsoperationen zur Destabilisierung der westlichen Demokratien geworden. In einer vom Auswärtigen Amt in Auftrag gegebenen Analyse identifizierten nach Angaben des Senders n-tv Experten im Zeitraum vom 20. Dezember 2023 bis zum 20. Januar 2024 „mehr als 50.000 gefälschte Nutzerkonten, die insgesamt mehr als eine Million deutschsprachige Tweets absetzten. Häufig tauchte in den Tweets der Vorwurf auf, die Bundesregierung vernachlässige die eigene Bevölkerung, um die Ukraine zu unterstützen.“


Ganz in diesem Sinne agitiert aber nicht nur die AfD, sondern auch das neue links-rechts-gestrickte „Bündnis“ um die Kreml-Propagandalautsprecherin Sahra Wagenknecht. Diese Gruppierung müsste daher von wehrhaften Demokraten ebenso entschieden verurteilt werden wie ihr rechtsextremes Pendant. Die Forderungen der Wagenknecht-Partei, der Ukraine keine Waffen mehr zu liefern, um sie zu „Verhandlungen“ mit einem angeblich friedenswilligen Wladimir Putin zu zwingen, die Sanktionen gegen Russland aufzuheben und wieder russisches Öl und Gas zu kaufen, entsprechen exakt den Vorgaben der russischen Propaganda. Sie laufen auf nichts anderes hinaus, als nicht nur die Ukraine, sondern das gesamte demokratische Europa der Willkür des putinistischen Aggressors auszuliefern. Solche Bestrebungen stellen keinen geringeren Anschlag auf die Substanz der Demokratie dar als die berichteten Massendeportationspläne der AfD.


Doch der Versuch, die deutsche Öffentlichkeit von der Vergeblichkeit einer konsequenten militärischen Unterstützung zu überzeugen, beschränkt sich nicht auf offen kremlhörige Extremisten von links und rechts. Auf leiseren Sohlen kommt etwa die Suggestion des sächsischen CDU-Ministerpräsidenten Michael Kretschmer daher, die Ukraine müsse sich um des lieben Friedens willen in das Unvermeidliche fügen und einem Waffenstillstand nach russischen Vorgaben zustimmen. So brutal möchte er dies freilich nicht sagen, deshalb wählt er gewundene Formulierungen wie diese: „Es kann sein, dass die Ukraine bei einem Waffenstillstand erst einmal hinnehmen muss, dass gewisse Territorien für die Ukraine vorübergehend nicht erreichbar sind.“ 


Signale der Nachgiebigkeit

Und sogar bei angeblich überzeugten Unterstützern der ukrainischen Sache werden neuerdings Untertöne der Nachgiebigkeit laut. So überraschte kürzlich Christoph Heusgen, ehemals außen- und sicherheitspolitischer Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie Ständiger Vertreter Deutschlands bei den UN und heute Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, mit der Feststellung, dass der Krieg mit einer „Verhandlungslösung“ beendet werden müsse, die sich „durchaus am Minsker Abkommen orientieren“ könne.

Die Minsker Vereinbarungen 1 und 2 hatten jedoch den Geburtsfehler, dass Russland darin nicht einmal als Kriegspartei, sondern als „Vermittler“ firmierte, und damit der Moskauer Propagandamythos von den ukrainischen „Separatisten“ als eigenständiger Kraft vom Westen gleichsam offiziell abgesegnet wurde. So konnte Russland in Donezk und Luhansk unbehelligt brutale Terror- und Folterregimes etablieren und den Krieg gegen die Ukraine unter dem Tarnmantel eines vermeintlichen innerukrainischen Konflikts weiterführen. Dieses verhängnisvolle Fehlkonstrukt zu rehabilitieren, bedeutet ein gefährliches Signal an Russland zu senden, dass es mit seiner Aggression am Ende doch glimpflich davonkommen könnte.


Täter-Opfer-Umkehr

In einem Beitrag für die Frankfurter Rundschau erklärte der dem „Bündnis Sahra Wagenknecht“ nahestehende Soziologe Wolfgang Streeck kürzlich, der Krieg in der Ukraine werde vermutlich „wie der in Afghanistan, für den USA-geführten Westen, vor allem aber für die örtliche Bevölkerung, in einer Niederlage enden“. Was Streeck damit suggerieren wollte: Die Ukraine sei in Wahrheit vom Westen gesteuert und werde von ihm „ermutigt“, an ihren „maximalistischen Kriegszielen“ festzuhalten – womit nichts anderes gemeint ist als die Befreiung ihres Territoriums von einem völkermörderischen Okkupanten.


So perfide diese Täter-Opfer-Umkehrung auch ist – in einem Punkt trägt die Analogie zum Afghanistan-Krieg tatsächlich. Denn damals wurden die Errungenschaften der afghanischen Zivilgesellschaft unter der westlichen Militärpräsenz in der westlichen Öffentlichkeit so lange schlechtgeredet, bis der gesamte Afghanistan-Einsatz als ein einziger Fehlschlag erschien, der schnellstmöglich beendet werden müsse. Der fluchtartige Abzug der NATO-Truppen, mit dem die afghanische Bevölkerung dem totalitären Terror der Taliban ausgeliefert wurde, war die fatale Folge.

In ähnlicher Weise droht sich hierzulande jetzt in Bezug auf die Ukraine ein Narrativ durchzusetzen, demzufolge „immer weitere Waffenlieferungen“ nichts gebracht hätten als eine „Pattsituation“, ein ukrainischer Sieg ohnehin unrealistisch sei und daher nach anderen Wegen gesucht werden müsse, den Krieg zu beenden. In Wahrheit hat die westliche Militärhilfe, so unzulänglich sie bisher auch war, ermöglicht, was im Westen am 24. Februar 2022 kaum jemand für denkbar gehalten hatte: Dass die Ukraine ihr Land erfolgreich gegen die vollständige Eroberung durch die russische Übermacht verteidigen konnte. Statt diese unglaubliche Leistung der Ukraine ins Zwielicht zu rücken, muss ihre Bewaffnung jetzt erheblich verstärkt vorangetrieben werden, bis sie den vollständigen Sieg über den Aggressor errungen hat. Denn nur dieser Sieg kann der Ukraine ebenso wie ganz Europa den Frieden sichern. 

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

1 Kommentar

  • Sehr geehrter Herr Herzinger,

    mich jagen die Befürworter einer Nachgiebigkeit der Ukraine in Angst und Schrecken.

    Der Grund für solche schäbigen Meinungen ist ANTI-SOZIALE EGO-ZENTRIK, gepaart mit einem MANGEL AN FREMD-NÜTZIGER EMPATHIE. Das Gehirn dieser Leute weist – wie in funktionellen Magnet-Resonanz-Tomografien nach-gewiesen – völlige Leere da auf, wo bei gesunden Leuten die fremd-nützige Empathie ent-steht.

    Dann suchen sie im Krieg Putins gegen die Ukraine auch immer nur nach dem Stärkeren, um sich nur an diesen an-lehnen zu können, weil sie sich nur dann gut fühlen.

    Das sind die neurologischen / seelischen Gründe dafür, dass sie auch nicht auf den Gedanken kommen können, dass die freiheitliche Demokratie auch bei uns gefährdet wird, wenn Putin siegt.

    Ich fürchte mich vor der Zukunft, weil der prozentuale Anteil solcher ab-artigen Leute im Westen möglicher-weise noch steigt.

    Mit freundlichen Grüßen

    Hartmut Köhler

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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