Der Westen muss wieder in die ideelle Offensive gehen

Die Stärkung der gemeinsamen Werte und des weltweiten Zusammenhalts der Demokratien zählt zu den Prioritäten des neuen US-Präsidenten Joe Biden. Dazu gehört auch, den globalen Einsatz für Demokratie und Menschenrechte wieder deutlicher zur Geltung zu bringen. Dafür muss der Westen jedoch den Defätismus bezüglich der Strahlkraft seiner eigenen Werte überwinden. Und die Verfechter einer globalen ideellen Führungsrolle der westlichen Demokratien müssen aus der Defensive herauskommen.

Aber gibt es „den Westen“ denn überhaupt noch? Und war er überhaupt jemals mehr als ein ideelles Konstrukt, das der weltanschaulichen Aufrüstung im Kalten Krieg diente? Angesichts wachsender Gegensätze zwischen den transatlantischen Partnern und der Verschiebung des weltpolitischen Kräfteverhältnisses zugunsten autoritärer Mächte wie China und Russland werden die Stimmen lauter, die diese Fragen verneinen. Dies umso mehr, als die Werte und Normen, die den Westen als eine politische Einheit definieren, durch den Aufstieg von Kräften der „illiberalen Demokratie“ auch von innen her massiv in Frage gestellt werden.

Angesichts der Tendenz zum Rückzug des Westens aus weltpolitischen Schlüsselstellungen artikuliert sich ein „Realismus“, der sich als illusionslos nüchtern ausgibt und das Festhalten an dem westlichen Anspruch, internationalem Recht und elementaren Menschenrechten globale Geltung zu verschaffen, als weltfremde Träumerei abzutun versucht. So sieht der Politikwissenschaftler Herfried Münkler in seinem gemeinsam mit seiner Frau Marina verfassten Buch „Abschied vom Abstieg“ eine „Weltordnung ohne Hüter“ heraufziehen, die sich aus fünf Machtzentren zusammensetzen werde –  wobei dafür einstweilen nur die USA, China und Russland als Anwärter feststünden, während Mächte wie die EU oder Indien in diese Rolle noch hineinwachsen müssten. Mit dieser neuen Weltordnung sieht Münkler zugleich die „Epoche der Werte und Normen mit universellem Geltungsanspruch zu Ende gehen“.

Werte nur noch als „kleinster gemeinsamer Nenner“?

Universelle Werte würden allenfalls noch „als kleinster gemeinsamer Nenner zwischen den Machtzentren“ eine Rolle spielen. Faktisch läuft dieser „Realismus“ darauf hinaus, Mächte wie China und Russland innerhalb der von ihnen mit Gewalt beanspruchten Einflusszonen nach Belieben gewähren zu lassen. Denn, so erläuterte Münkler vergangenen Herbst im Interview mit der „Welt“: „Wenn es keinen Hüter gibt, der übermächtig ist – also eine Kombination aus UN und USA –, dann werden Räume entstehen, die ihre eigenen Ordnungen und Normstrukturen haben.“ Opfer dieser neuen „Ordnung“ müssen demnach eben selbst sehen, wie sie mit ihren Peinigern übereinkommen. Da wir etwa die Krim „der Atommacht Russland nicht wieder abnehmen“ könnten, seien wir „wohl darauf angewiesen, dass die Ukraine und Russland einen Modus Vivendi finden“

Abgesehen von der professoralen Selbstgefälligkeit, mit dem den überfallenen Ukrainern hier empfohlen wird, sich mit den Okkupanten ihres Territoriums zu arrangieren: Welche verheerenden Rückwirkungen eine solche Preisgabe internationaler Normen in großen Teilen der Welt auf den Fortbestand der westlichen Demokratien selbst haben würde, wird aus derartigen „realistischen“ Szenarien ausgeblendet. Und welchen wertemäßigen „kleinsten gemeinsamen Nenner“ westliche Demokratien eigentlich mit verbrecherischen Regimen wie denen in China und Russland finden sollen, bleibt Münklers Geheimnis.

Zwei andere Autoren stellen sich solchen Tendenzen zur Selbstaufgabe des Westens entschieden entgegen. Der Historiker Heinrich August Winkler hat seiner vierbändigen „Geschichte des Westens“ eine geraffte – freilich immer noch fast eintausend Seiten starke – Version in einem Band hinzugefügt. Seine Abhandlung, schreibt Winkler, setze seinen Gegenstand im Gegensatz zur Praxis mancher seiner Kollegen „nicht in Anführungszeichen, weil sie im Westen mehr sieht als das Konstrukt, das er auch war.“

Winklers großes historisches Werk zeichnet die Genese der Werte und Prinzipien, die heute die Grundlage der liberalen Demokratie bilden, seit der Antike nach. Dass der Westen dabei immer wieder eklatant gegen seine eigenen Vorgaben verstoßen hat, bestreitet Winkler nicht. Gegen seine Kritiker, die ihm diesen Umstand vorhalten, sichert er sich ab, indem er diese Defizite sogar besonders betont und den Westen ein „unvollendetes Projekt“ nennt. Unterm Strich aber bleibt es für ihn dabei: „Die westlichen Werte, die in ihrer Summe das normative Projekt des Westens ausmachen, sind ein weltgeschichtlich einzigartiges Ensemble von Errungenschaften. Sie bilden den Maßstab, an dem westliche Demokratien sich messen lassen müssen, und können sich deshalb auch als Korrektiv zur politischen Praxis des Westens bewähren.“

Konzessionen an die Werterelativierer

Thomas Kleine-Brockhoff vom German Marshall Fund in Berlin stemmt sich in seinem Buch „Die Welt braucht den Westen“ gegen einen Fatalismus, der angesichts der Krise des Westens das Projekt einer „liberale Weltordnung“ vorauseilend verloren geben will. „Es kann nicht das Ziel sein,“, schreibt er, „im Namen eines nostalgischen Nationalismus Wegschauen zur Politik zu erklären, nur weil die richtige Politik zum Hinschauen noch nicht gefunden ist.“ Er sieht in dieser Krise vielmehr die Chance für einem „Neustart“ der liberalen Ordnung. Weil kein anderer Akteur bereitstehe, den „zivilisatorischen Fortschritt des Menschenrechtsschutzes zu sichern und praktikabel zu machen“, werde der Westen von der Welt nach wie vor gebraucht.

Doch machen Winkler und Kleine-Brockhoff bei ihrer Verteidigung normativer Ansprüche an westliche Politik dem antiuniversalistischen „Realismus“ bedenkliche argumentative Zugeständnisse. Beide halten es zwar für falsch, die Möglichkeit von aktiver Menschenrechtspolitik und humanitären Intervention gänzlich auszuschließen. Doch plädieren sie dabei für eine strikte Selbstbeschränkung. Ein „robuster Liberalismus“ soll laut Kleine-Brockhoff den Westen neu begründen, „indem er sehr wohl auf den Prinzipien der Freiheitlichkeit besteht, zugleich aber die liberale Überdehnung beendet und den demokratischen Bekehrungseifer einhegt.“ Und Winkler konstatiert: „So wenig der Westen nichtwestliche Gesellschaften davon abhalten kann, seine Fehler zu wiederholen, so wenig kann er seine Werte Anderen aufzwingen.“

Begriffe wie „Überdehnung“ und „Bekehrungseifer“ suggerieren, der Westen sei ein imperiales Gebilde oder eine Art Erweckungsreligion. Kann denn aber überhaupt die Rede davon sein, dass der moderne, postkoloniale Westen seine Werte irgendjemandem „aufzwingen“ will oder dies jemals wollte? Richtig ist, dass sich nach dem Ende des Kalten Kriegs kurzzeitig eine allzu optimistische Erwartung einstellte, Demokratie und friedliche Konfliktlösung würden sich nunmehr weltweit ausbreiten. Doch führte dies keineswegs zu einem gesteigerten Eifer, die westlichen Werte auf globaler Ebene durchzusetzen. Den genozidalen Massakern auf dem Balkan sah man Anfang der 1990er-Jahre lange Zeit tatenlos zu. Zur Intervention kam es erst, als mit der Einnahme der UN-Schutzzone Srebrenica und den darauffolgenden Gräueln endgültig offenbar wurde, dass mit dem Aggressor Serbien keine gütliche Friedensregelung möglich war. Der militärische Eingriff erfolgte aber eher zögerlich und widerstrebend als mit missionarischer Begeisterung.

Der Mythos vom westlichen „Bekehrungseifer“

Der erste Golfkrieg 1991, in dem die USA mit einer breiten Koalition Saddam Husseins Irak aus dem von ihm annektierten Kuwait zurückschlug, war ausdrücklich nicht mit einem „Regime Change“ und dem Vorhaben eines demokratischen „Nation Building“ verknüpft. Von einem großangelegten Versuch, Demokratie per militärischer Intervention zu „exportieren“, kann allenfalls in Afghanistans 2001 und des Irak 2003 die Rede sein. Die amerikanischen „Neocons“, die kurzzeitig Einfluss auf die Regierung von George W. Bush ausübten, vertraten tatsächlich die These, die USA seien dazu befähigt und verpflichtet, in chronischen Krisengebieten wie dem Nahen Osten Stabilität durch Implementierung von Demokratie zu stiften.

Doch als die USA und ihre Verbündeten dann tatsächlich in den Irak einmarschierten, folgten sie eher den Vorstellungen ihres Verteidigungsministers Donald Rumsfeld, die darauf hinausliefen, mit minimalem militärischem Aufwand den Diktator Saddam Hussein zu stürzen, um das Land dann möglichst bald sich selbst zu überlassen. Als sich dies als undurchführbar erwies, offenbarte sich die Planlosigkeit Washingtons in einem chaotischen Durcheinander seiner Besatzungspolitik. 

Dabei stand aber bei weitem nicht der ganze Westen hinter der US-Intervention. Um sie zu verhindern und ihre Erfolgsaussichten aktiv zu unterminieren, verbündeten sich Deutschlands Bundeskanzler Gerhard Schröder und Frankreichs Präsident Jacques Chirac gar mit dem russischen Staatschef Wladimir Putin. Das gemeinsame westliche Eingreifen in Afghanistan 2001 wiederum erfolgte keineswegs aus überschießendem demokratischen Missionseifer, sondern als Reaktion auf den Terrorangriff des 11. September. Afghanistan geriet nicht ins Visier des Westens, weil man es sich als Experimentierfeld für utopische Menschheitsbeglückungspläne ausgesucht hätte, sondern weil sich dort die Al-Qaida festgesetzt und der westlichen Welt den Krieg erklärt hatte.

Den Völkermord in Ruanda 1994 ließ der Westen ebenso untätig zu wie die brutale Zerschlagung der Demokratiebewegung im Iran 2009.  Russland konnte 2008 ungestraft mit militärischer Gewalt Teile georgischen Staatsgebiets abtrennen. Aus dem Irak zogen sich die USA unter Obama just in dem Moment zurück, als sich die Lage dort nach katastrophalen Jahren zu stabilisieren begann. Und der Intervention gegen den libyschen Despoten Gaddafi folgten keine entschiedenen Anstrengungen, das Land zu stabilisieren.

So erfolglos waren westliche Interventionen gar nicht

Unter Donald Trump spielten Menschenrechte in der US-Außenpolitik dann so gut wie gar keine Rolle mehr, und bei den Europäern kommen sie im Umgang mit Mächten wie China, Iran und Saudi-Arabien allenfalls noch als folgenloses Lippenbekenntnis vor. Dem systematischen Bombardement der Zivilbevölkerung in Syrien begegnen sowohl die USA als auch die EU mit kaltschnäuziger Passivität. Zugleich werden westliche Interventionen, die tatsächlich stattgefunden haben, jetzt häufig pauschal als kompletter Fehlschlag hingestellt.

Dabei sind sie bei allen enttäuschten überschießenden Erwartungen keineswegs ohne jeden Erfolg geblieben.  Der Frieden auf dem Balkan hat seit 1999 – wenn auch mehr schlecht als recht – gehalten, und der Irak bedroht seine Nachbarn zumindest nicht mehr mit Massenvernichtungswaffen. Es regt sich dort heute zudem eine zunehmend selbstbewusste Zivilgesellschaft, die sich gegen die Korruption und Willkür der Machthaber auflehnt – was unter der massenmörderischen Terrordiktatur Saddams undenkbar gewesen wäre. In Afghanistan haben sich Ansätze einer modernen urbanen Zivilgesellschaft herausgebildet. Mit dem angekündigten vollständigen westlichen Truppenabzug drohen diese jetzt allerdings an die Taliban ausgeliefert zu werden.

Dass sich der Westen, jenseits schöner Worte, seit Ende des Kalten Kriegs in übertriebener Weise der „Bekehrung“ nichtwestlicher Weltteile gewidmet hätte, ist ein Mythos, der von den Gegnern einer universalistischen Ausrichtung der Außenpolitik westlicher Demokratien in die Welt gesetzt wurde. Statt diesem Mythos nach dem Munde zu reden, gilt es festzuhalten: Es sind autoritäre Regime wie die Chinas und Russlands, die ihrer eigenen Bevölkerung mit Gewalt ihre „Werte“ aufzwingen, und keineswegs der Westen, dessen Werte im Gegenteil von Demokratiebewegungen rund um die Welt immer wieder mit Vehemenz und großer Opferbereitschaft eingeklagt werden. Der Aufstand für freie und faire Wahlen und gegen die Diktatur Lukaschenkos in Belarus ist das neueste beeindruckende Beispiel dafür. Diese Bewegungen muss der Westen nicht erst „bekehren“. Sein Problem ist vielmehr, dass er sie allzu oft im Stich lässt.

Mehr denn je ist die weltpolitische Realität vom Systemwettbewerb zwischen Demokratie und Autoritarismus gekennzeichnet. So selbstevident es ist, dass der Westen nicht überall handstreichartig menschenwürdige Zustände erzwingen kann, und so berechtigt die Mahnung zu einer weitsichtigeren westlichen Strategie ist, so klar muss doch sein: Verzichten die westlichen Demokratien auf die globale Verteidigung elementarer Rechte von Völkern und Individuen, graben sie sich ihr eigenes Grab.

Der Text ist die überarbeitete und aktualisierte Fassung meines Beitrags in der „Welt“ vom 2.11.2019.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

1 Kommentar

  • „Ziel des Westens ist eine universale Staatenordnung, der es gelingen soll, die Beziehungen in ähnlicher Weise zu zivilisieren wie die Beziehungen der Bürger innerhalb einer demokratischen Gesellschaft.“ *

    Viele Menschen wollen von diesem Ziel nichts mehr wissen, sondern flüchten sich in die Fiktion einer Welt, wo nicht mehr allgemeines Prinzipien im Umgang mit Menschen gelten, sondern der jeweilige Machthaber nach Belieben mit „seinen“ Untertanen umspringen darf. Das Problem der geschundenen Menschen ist aus dieser Sicht dann nicht mehr „unser“ Problem, sondern deren Problem. Wenn sie scheitern? Pech gehabt. Hätten sich halt mehr anstrengen müssen. Und wenn sie Erfolg haben? Auch schlecht, da hier Menschen mit Gewalt unsere Vorstellungen einer freien Gesellschaft durchgesetzt haben.

    Das Gift, das die Ethnopluralisten vor Jahrzehnten ausgestreut haben, ist mittlerweile Mainstream.. Es wurde nicht ausgeschieden, es hat sich in den Köpfen angereichert. Viele wollen von der Universalität der Menschenrechte nichts mehr wissen, ungeachtet, dass diese mit dem Art. 1 GG ein für alle mal und alle Zeiten als universales Prinzip festgeschrieben wurden. Dieses Prinzip erlaubt uns gar kein Wegschauen, wenn wieder mal irgendwo Menschen gequält, unterdrückt, verfolgt und so ihrer Würde beraubt werden. Das heisst nicht, dass wir dort einschreiten müssen, wo wir nicht können. Aber dort wo wir können, müssen wir. Das scheint den meisten Menschen in unserem Land gar nicht bewusst zu sein.

    *Zitat aus dem von Ihnen mit Hannes Stein veröffentlichten Buch, das eine aktualisierte Neuauflage wahrlich verdient hätte. Ich hatte Gelegenheit es vorige Tage – antiquarisch erstanden – das erste Mal zu lesen. Seitenweise hatte ich das Gefühl Sie beschrieben das Hier und Jetzt. Das Buch ist aktueller denn je, da die von Ihnen beschriebenen Entwicklungen sich ja weitgehend so entfaltet haben.

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

Schreiben Sie mir

Sie können mich problemlos auf allen gängigen Social-Media-Plattformen erreichen. Folgen Sie mir und verpassen Sie keinen Beitrag.

Kontakt