Warum die Belarusen auch für unsere Freiheit kämpfen

Am 23.6. wird in Berlin die Ausstellung „Belarus lebt!“ eröffnet, die vom Pilecki-Institut und dem Adam-Mickiewicz-Institut realisiert wurde und in Zusammenarbeit mit belarusischen Künstlerinnen und Künstlern sowie Aktivistinnen und Aktivisten entstanden ist. Das Hauptaugenmerk der Ausstellung liegt auf den vielfältigen kreativen Formen, die der Protest gegen das autoritäre Regime Alexander Lukaschenkos in Belarus angenommen hat. Zum Begleitheft der Ausstellung habe ich den folgenden Text beigetragen:

Die Erhebung gegen das Regime Alexander Lukaschenkos in Belarus gehört zu
den großen Momenten in der Geschichte europäischer Freiheitsbewegungen.
Ausgehend von dem Protest gegen die Fälschung der Präsidentenwahl im
Sommer 2020 hat sich die Demokratiebewegung mit bewunderungswertem Mut und Beharrungswillen in immer neuen, strikt friedlichen Massendemonstrationen der Willkürherrschaft entgegengestellt.

Dabei spielten mehr als je zuvor in einem demokratischen Bürgeraufstand Frauen – zumeist der jungen Generation – die führende Rolle. Nicht zuletzt in dieser Hinsicht hat der Kampf der Belarusinnen und Belarusen Maßstäbe für die Erneuerung der demokratischen Idee gesetzt. Er sollte – wie zuvor schon die ”Revolution der Würde“ in der Ukraine – deshalb auch für die westlichen Gesellschaften Inspiration und Ansporn sein, sich des Werts ihrer demokratischen Errungenschaften wieder stärker bewusst zu werden.

Inzwischen ist die belarusische Demokratiebewegung jedoch an ihre
Grenzen gestoßen. Unter dem Druck der zunehmend brutalen Repression, die
willkürliche Verhaftungen, Verschleppungen und Folter umfasst, wächst die
Gefahr, dass ihre Kraft erlahmt und sich die Herrschaft Lukaschenkos auf
längere Zeit wieder verfestigt. Mit der Festnahme von Roman Protassewitsch
aus einem zur Landung gezwungenen westlichen Passagierflugzeugs heraus
und seiner Zurschaustellung im belarusischen Staatsfernsehen haben die
kriminellen Übergriffe des Regimes eine neue Dimension erreicht. Sie stellen
einen Anschlag auf die europäische Friedens- und Rechtsordnung und die
Rückkehr zur Methode stalinistischer Schauprozesse dar.

Putin führt Regie

Dabei liegt der Grund für die Restabilisierung des belarusischen Regimes nicht in dessen eigener inneren Stärke. Vielmehr könnte sich Lukaschenko ohne die massive Rückendeckung durch Putins Russland nicht mehr an der Macht halten. Nicht nur wird seine Diktatur von Moskau wirtschaftlich, finanziell und logistisch über Wasser gehalten und gegen internationalen politischen Druck abgeschirmt – auch bei der gewaltsamen Unterdrückung der Opposition haben der Kreml und seine Repressionsapparate längst die Regie übernommen. Das Putin-Regime agiert mittlerweile weltweit als Schutzmacht von Autokratien und als eine Art Mastermind bei der Zerschlagung demokratischer Bestrebungen.

In Belarus wendet es die gleiche Methode an, die sich zuletzt in Venezuela als in seinem Sinne effektiv erwiesen hat: An der herrschenden Diktatur um jeden Preis festzuhalten und den Forderungen der demokratischen Opposition keinen Millimeter nachzugeben, bis diese schließlich ermüdet und zerfällt. Auf der Basis dieses ebenso simplen wie skrupellosen Konzepts hatte der Kreml den venezolanischen Autokraten Maduro, als er schon zur Flucht entschlossen war, zum Durchhalten gedrängt. Und obwohl Maduros Position für einen Moment bereits aussichtslos schien, ist es so gelungen, seine Herrschaft trotz internationalem Sanktionsdruck zu zementieren, während die Opposition mittlerweile tief demoralisiert ist.

Putins Schlüsselrolle bei der Unterdrückung der belarusischen Demokratiebewegung ist vom demokratischen Europa unterschätzt worden. Zwar rang sich die EU nach längerem Zögern zu Sanktionen gegen Lukaschenko und andere Verantwortliche für die Repression durch. Doch reichten diese eher moderaten Strafmaßahmen bei weitem nicht aus. Zwar wurden sie als Reaktion auf den Luftpiratenakt Lukaschenkos verschärft. Doch längst hätte die EU harte Sanktionen auch gegen Moskau als der eigentlichen Quelle des antidemokratischen Rollbacks verhängen müssen. Erst wenn dem Kreml der Preis für seine hemmungslose Aggressionspolitik zu hoch wird, besteht die Aussicht, dass er sie mäßigt – und erst dann wird die Demokratiebewegung in Belarus eine reale Chance haben, ihre Ziele zu erreichen.

Im Westen aber hatten nicht nur verantwortliche Regierungspolitiker, sondern auch zahlreiche unabhängige Analysten darauf spekuliert, dass Putin es nicht riskieren werde, an einem stark geschwächten Despoten wie Lukaschenko festzuhalten. Statt dessen, so hoffte man, könnte er nach besseren, für die belarusische Opposition und für den Westen akzeptableren Alternativen Ausschau halten. Zumal Lukaschenko dem Kreml ohnehin als unzuverlässiger Vasall galt – hatte er doch bisweilen zu sehr auf die nationale Eigenständigkeit seines Landes gegenüber Moskau gepocht.

Demokratie kontra Diktatur

Doch ein Blick auf Syrien hätte genügt, um diese Erwartungen an Putin als gefährliche Illusion zu durchschauen. Dort stand der massenmörderische Diktator Assad bereits mit mehr als einem Bein im Abgrund, als Russland massiv militärisch eingriff und ihm die Rückeroberung seines Territoriums ermöglichte. Dabei haben zahlreiche Analysten im Westen immer wieder prognostiziert, Putin werde den von ihm im Grunde tief verachteten syrischen Autokraten demnächst fallen lassen. Das Gegenteil davon ist eingetreten: Assad sitzt – von Moskaus Gnaden – fester im Sattel denn je. Gewiss ist die Lage in Syrien als auch in Venezuela von der in Belarus in vieler Hinsicht sehr verschieden. Doch ein Prinzip wird in allen drei Ländern deutlich: Indem der Kreml durch sein Eingreifen angeschlagenen Despoten die Haut rettet, macht er sie zu seinen willfährigen Marionetten. Da Lukaschenko die Fortsetzung seiner Herrschaft nur der Macht des Kreml verdankt, wird er zu einem gefügigen Vollstrecker der großrussisch-imperialen Ambitionen des Kreml. Daher ist zu befürchten, dass die verstärkte Angleichung der Strukturen des Landes auf den Gebieten von Militär, Sicherheit, Wirtschaft, Energie und Verwaltung an die Russlands in den offiziellen Anschluss von Belarus an die Russische Föderation münden wird.

Der Konflikt in Belarus erweist sich als eine exemplarische Auseinandersetzung zwischen der liberalen Demokratie und dem neuen Autoritarismus Putinscher Prägung über die Zukunft des Kontinents. Das demokratische Europa kann nicht hinnehmen, dass in seiner nächsten Nachbarschaft über 30 Jahre nach dem Ende des Totalitarismus ein diktatorisches Folterregime herrscht und das autoritäre Regime Russlands seine Macht weiter in Richtung Westen verschiebt. Der kürzliche russische Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze und die damit verbundene Drohung einer offenen Invasion der Ukraine unterstreicht, wie groß diese Gefahr ist. Darauf muss der Westen endlich mit einer umfassenden, präventiven Eindämmungsstrategie gegen Moskaus Aggressionspolitik antworten, statt unverdrossen auf eine Läuterung des Putin-Regimes zu einem vertrauenswürdigen Kooperationspartner zu hoffen.

An der Entschiedenheit, mit der sie sich dieser Bedrohung entgegenstellt,
wird sich auch erweisen, wie ernst es der EU mit ihrem Bekenntnis zu einer Erneuerung des transatlantischen Bündnisses in der Ära des neuen US-Präsidenten Joe Biden tatsächlich ist. Mit Biden sind die USA zu der außenpolitischen Leitidee zurückgekehrt, die sie zur unersetzlichen globalen Führungsmacht der Demokratien werden ließ. Diese lautet, dass die USA ohne den Anspruch, die demokratische Idee weltweit zu verteidigen und zu fördern, ihre eigene Identität nicht bewahren kann. Biden setzt damit einen starken Kontrapunkt zu einer vermeintlich ”rein interessegeleiteten“ Außenpolitik“, deren verheerender Ausdruck Trumps ”America First”-Nationalismus war.

Realismus und Werte

Er kann mit dieser Wende jedoch nur erfolgreich sein, wenn sich auch die
europäischen Partner der USA endlich zu einer offensiveren, selbstbewussteren Politik gegenüber den autoritären Widersachern der liberalen Demokratie
durchringen. Dazu gilt es, von einem falsch verstandenen ”Realismus“ Abstand
zu nehmen, der behauptet, die Außenpolitik westlicher Demokratien müsse
sich angesichts des Aufstiegs autoritärer Mächte ihrerseits von ”übertriebenen“ moralischen und normativen Ansprüchen befreien und konsequenter den jeweils eigenen ”nationalen Interessen” folgen.

Diese Vorstellung basiert jedoch auf einem ebenso mystifizierten wie
verkürzten Begriff von ”Interesse“. ”Interessen“ sind in Wahrheit kein dem Bewusstsein vorab einprogrammierter Code, dem Individuen, Gruppen oder Staaten nur blind Folge leisten müssten, um sich optimale Vorteile zu verschaffen. ”Interessen“ entstehen erst dadurch, dass sie von fehlbaren menschlichen Subjekten definiert werden. Bei einer solchen rationalen Definition aber zählen normative und moralische Kriterien nicht weniger als das des unmittelbar zu erreichenden Vorteils. Moral und Recht sind keine der realen Welt äußerlichen Kategorien, sondern konstitutiv für deren Erkenntnis und für die Bestimmung der daraus abzuleitenden Handlungsoptionen.

Der Demokratiebewegung in Belarus mit voller Kraft beizustehen, ist für
die westlichen Demokratien somit nicht nur ein moralisches Gebot. Es liegt
auch in ihrem wohlverstandenen existenziellen Eigeninteresse.

Die Ausstellung im Pilecki-Institut am Pariser Platz 4A in Berlin ist bis zum 19.9.2021 zu sehen.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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