Naher Osten: Warum die relative Ruhe trügt

Der Nahe Osten steht derzeit nicht im Fokus der internationalen Aufmerksamkeit. Denn die exzessive Gewalt, die das Bild der Region im vergangenen Jahrzehnt geprägt hat, scheint rückläufig zu sein – auch wenn mancherorts, vor allem in Syrien und im Jemen, das Töten und die Zerstörung weitergeht. Hinter der relativen Ruhe verbergen sich jedoch machtpolitische Verschiebungen, die in eine prekäre Stabilisierung der Lage unter autokratischen Vorzeichen münden könnten – aber auch in den Ausbruch neuer, womöglich noch verheerenderer Kriege.

Diese Entwicklung ist die Folge des schwindenden Engagement der USA, die zunehmend nicht mehr als die maßgebliche Ordnungsmacht im Nahen Osten betrachtet wird. Spätestens der fluchtartige Abzug der US-Truppen aus Afghanistan hat selbst bei den engsten arabischen Verbündeten Washingtons den Eindruck verfestigt, dass auf amerikanische Beistandszusagen kein Verlass mehr sei.

Ähnlich verheerend auf das Ansehen der USA hat sich der Kriegsverlauf in Syrien ausgewirkt: Washington – um von den handlungsunfähigen Europäern nicht zu reden -, ließ es weitgehend tatenlos zu, dass der syrische Diktator Assad mit Hilfe seiner Schutzmächte Russland und Iran einen Vernichtungskrieg gegen die eigene Bevölkerung führte. Faktisch haben die USA und ihre westlichen Verbündeten inzwischen den Triumph des Assad-Regimes akzeptiert. Und das, obwohl die Luftwaffe Russlands und des syrischen Regimes in Idlib, der letzten von diesem noch nicht zurückeroberten Provinz, weiterhin gezielt die Zivilbevölkerung und zivile Einrichtungen bombardieren. Die westlichen Regierungen wie die Weltöffentlichkeit insgesamt scheint das jedoch kaum noch zu interessieren. Schlimmer noch: Die wiederhergestellte Herrschaft Assads wird vom Westen sogar indirekt mitfinanziert. Denn das Regime zweigt den Großteil der internationalen Hilfsgelder, die zur Linderung der Not der syrischen Bevölkerung bestimmt sind, für seine eigenen Zwecke ab.

Naher Osten im Umbruch

Angesichts dieses Fiaskos westlicher Politik in der Region sieht sich die sunnitisch-arabische Führungsmacht Saudi-Arabien nach neuen Bündniskonstellationen um. Es sucht die Nähe zu Putins Russland sowie zu China – und führt sogar Gespräche mit seinem Erzfeind Iran über einen möglichen Interessensausgleich. Dies ist nicht zuletzt eine Konsequenz aus dem Präsidentenwechsel in Washington und der damit verbundenen Kursänderung in der Nahost-Politik Washingtons. Unter Donald Trump hatten die USA eine Strategie „maximalen Drucks“ auf das Teheraner Regimes verfolgt. Eine breite Front gegen den Iran, mit einer saudisch-israelischen Achse im Zentrum, sollte das Hegemonialstreben Teherans eindämmen.

Doch trotz harter US-Sanktionen gegen Teheran ist es nicht gelungen, das iranische Regime entscheidend zu schwächen. Vielmehr intensivierte dieses sein aggressives Vorgehen in der Region weiter und trieb sein Atomwaffenprogramm unter Hochdruck voran. Dabei hat ihm Saudi-Arabien durch seine desaströse Politik in die Hände gespielt. Trotz eines mit äußerster Rücksichtslosigkeit gegenüber der Zivilbevölkerung geführten Luftkriegs im Jemen konnten die Saudis und ihr wichtigster Alliierter, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), die dortige proiranische Miliz Ansah Allah – besser bekannt als „Huthi“ – nicht besiegen. Im Gegenteil, die Huthi haben ihr Herrschaftsgebiet sogar erweitert. Unter Anleitung der iranischen Revolutionsgarde führen sie jetzt zudem eine Terrorkampagne gegen Ziele in Saudi-Arabien und der VAE durch.

Den Boykott, den Riad 2017 gegen Katar wegen dessen engen Verbindungen zum Iran verhängt hatte, musste es inzwischen kleinlaut wieder aufheben. Sein starker Mann, Kronprinz Mohammed bin Salman, hat sich mit dem Versuch, mit brachialen Methoden die bröckelnde Vorherrschaft Saudi-Arabiens in der Region zu erneuern, offensichtlich übernommen.

Irans Atombewaffnung

US-Präsident Biden hat dementsprechend die konfrontative Linie Trumps abgeschwächt. Er bekundete die Bereitschaft der USA, dem von Trump gekündigten Atomabkommen mit dem Iran unter bestimmten Bedingungen wieder beizutreten. Er enthielt den Saudis von seinem Vorgänger zugesagte Waffenlieferungen vor und kündigte ihnen die logistische Unterstützung ihres Kriegs im Jemen auf. Und er strich sogar die Huthi von der US-Terrorliste. Damit knüpfte er an die Bestrebungen Obamas an, Iran in eine mögliche Sicherheitsarchitektur für den Nahen Osten einzubinden, statt ihn zu isolieren. Doch unter ihrem neuen Präsidenten Raisi hat sich die Haltung Irans in den Verhandlungen über die Wiederbelebung des Atomabkommens noch mehr verhärtet. Und die Biden-Regierung erwägt inzwischen, die Huthi, die zunehmend auch zu einer Bedrohung für Israel werden, wieder auf die Terrorliste zu setzen. Eine klare strategische Linie der US-Nahostpolitik unter Biden ist noch nicht zu erkennen.

In dieser schwierigen Konstellation muss auch Israel seine Lage neu bedenken. Zwar haben ihm die Friedensabkommen mit den VAE und Bahrein einen Zuwachs an Sicherheit und Akzeptanz in der Region eingebracht. Doch von der Allianz mit den unzuverlässigen Saudis, in die zunächst große Hoffnungen gesetzt wurde, sollte der jüdische Staat nicht zu viel erwarten. Gelingt es den USA und der EU nicht doch noch, die kurz vor der Vollendung stehende nukleare Bewaffnung Irans auf diplomatischen Weg zu verhindern, könnte Israel keine andere Wahl bleiben, als diese existenzielle Gefahr durch einen Angriff auf die iranischen Atomanlagen abzuwenden.

Eine direkte kriegerische Konfrontation mit dem Iran wäre für den jüdischen Staat jedoch mit weit höheren Risiken verbunden als noch vor zehn oder fünfzehn Jahren. So hat sich die libanesische Hisbollah durch ihre Beteiligung am Syrienkrieg an der Seite Irans zu einer starken, kampferprobten Streitmacht entwickelt, die Israel an seiner Nordgrenze mit einem beträchtlichen Raketenarsenal bedroht. Zwar hat Israel durch gezielte Luftschläge auf Stellungen und Nachschublinien der iranischen Revolutionsgarde und der Hisbollah in Syrien eine permanente Militärpräsenz Irans an der syrisch-israelischen Grenze bisher verhindert. Dennoch könnte dem jüdischen Staat im Kriegsfall auch von dieser Seite her Gefahr drohen. Der Nahe Osten bleibt ein unsicherer und explosiver Ort. An der Entwicklung in der Region Naher Osten zeigt sich exemplarisch, wie unersetzlich die USA als globale Führungsmacht nach wie vor sind. Namentlich die Europäer muss das ebenso alarmieren wie beschämen.

Der Text ist die leicht erweiterte Fassung meiner jüngsten Kolumne in Український тиждень (Ukrainische Woche).

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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