Ionescos „Nashörner“: Vom Bröckeln der Brandmauer

In seinem absurden Theaterstück „Die Nashörner“ von 1959 zeigt Eugéne Ionesco in metaphorischer Verfremdung, wie die schleichende Übernahme einer sich zivilisiert wähnenden Gesellschaft durch eine totalitäre Macht vonstatten geht. Letzten Endes sind es die verborgene innere Bereitschaft der scheinbar aufgeklärten, von rationaler Vernunft geleiteten Bürger zur Unterwerfung unter das Recht des Stärkeren und ihre heimliche Sehnsucht nach der Regression ins Archaische, die den Sturmtruppen irrationalistischer Gleichschaltung den Weg ebnen.

Angesichts des Höhenflugs der rechtsextremen Kreml-Partei AfD und der wachsenden Anzeichen dafür, dass die von den demokratischen Parteien so gerne beschworene „Brandmauer“ gegen den Extremismus leise zu bröckeln beginnt,  gewinnt Ionescos dramatisches Gleichnis einmal mehr beklemmende Aktualität. Deshalb im folgenden noch einmal mein Essay über „Die Nashörner“, der zuerst im März 2017 in der „Welt“ erschienen ist:

Zunächst scheint es nur ein Kuriosum zu sein, dass plötzlich ein Nashorn – oder sind es gar zwei? – durch das ruhige Städtchen galoppiert. Dass dabei das Kätzchen einer sentimentalen Hausfrau totgetrampelt wird, kann die ganz mit sich selbst, ihren Neurosen und kleinlichen Rivalitäten beschäftigten Einwohner nicht aus den Bahnen ihrer Alltagsroutine werfen.

Ein „Logiker“ beweist den Umstehenden vielmehr mittels des Syllogismus, dass ein Hund in Wirklichkeit eine Katze sei, oder auch umgekehrt. Behringer, der lebensuntüchtige kleine Angestellte mit Hang zum Alkohol, und sein überkorrekter Freund Hans zerstreiten sich über die Frage, ob es sich bei dem zweimal gesichteten Paarhufer um ein und dasselbe Exemplar gehandelt habe – und ob das indische Nashorn zwei, das afrikanische dagegen nur ein Horn auf der Nase trage, oder ob es sich genau andersherum verhalte. Der alerte Ultra-Rationalist Wisser, der sich gegen jeglichen Aberglauben immunisiert glaubt, erklärt das Erscheinen der Dickhäuter gar in Gänze zu Lug und Trug. Augenzeugenberichte darüber tut er als Propaganda der Herrschenden ab, die ihre Machenschaften verschleiern wollten. Was in den Zeitungen stehe, sei ohnehin alles gelogen. So viel zu der derzeit modischen Behauptung, das Misstrauen gegenüber „den etablierten Medien“ sei ein neues Phänomen.

Eugène Ionesco, der französische Dramatiker und Großmeister des absurden Theaters, zeigt in seinem 1959 uraufgeführten Stück die Mechanismen autoritärer und totalitärer Gleichschaltung in grotesker Überzeichnung. Die Bedrohung der bürgerlichen Gesellschaft durch eine wie aus dem Nichts auftauchende, alle humanen Grundwerte pulverisierende Kraft wird zuerst verleugnet, dann verharmlost und schließlich implizit oder explizit gerechtfertigt. Je mehr rechtschaffene Bürger sich nach und nach in schnaubende Viecher verwandeln, die rücksichtslos alles niederwalzen, was ihnen im Weg steht, desto größer wird die Bereitschaft der noch nicht Transformierten, in diesen Horden auch die guten Seiten zu sehen – oder zumindest aus der bloßen Tatsache ihres Daseins eine gewisse Legitimität ihres Soseins abzuleiten.

Nagendes Unbehagen

Ausgerechnet Hans, der dem melancholischen Behringer stets Moralpredigten über den wahren, höheren Sinn menschlicher Existenz zu halten pflegte, verwandelt sich vor den Augen des Freundes in eines der wütenden Ungetüme: „Ich habe genug von unserer Moral! Etwas Schönes, unsere Moral! Man muss unsere Moral überwinden“, bricht es nun aus ihm heraus. Auf Behringers Frage, was er an ihre Stelle setzen wolle, antwortet er: „Die Natur“. Die nämlich habe „ihre Gesetze. Unsere Moral ist widernatürlich.“ Was bisher als Grundkonsens zivilen Zusammenlebens galt, erscheint jetzt als Zwangskorsett, das die authentischen Lebenskräfte einengt. „Man muss die Grundlagen unseres Lebens erneuern. Man muss zur ursprünglichen Einheit zurückkehren“, deklamiert Hans, während seine Haut zu grünlichen, schuppigen Panzerplatten mutiert. Innerlich kochend, reißt er sich die Kleider vom Leib: „Ich will atmen.“

Ähnlich wie in Sigmund Freuds Schrift von 1930 erscheint in den „Nashörnern“ das Bedürfnis nach dem Niederreißen der pazifizierenden, die Triebe zügelnden Zivilisation als Ausdruck eines unterschwellig nagenden „Unbehagens in der Kultur“, das unversehens in blinde kollektive Zerstörungsenergie umschlagen kann. Wie dünn die zivilisatorische Firnis ist, hatte Ionesco am aufkommenden Faschismus in seiner rumänischen Heimat studieren können. Dem Faschismus folgte dort bald eine weitere kollektivistische Diktatur, die kommunistische. Gemeinsam war beiden der Kult der nackten Gewalt, die sich über die Regeln und Konventionen des als schwächlich verachteten bürgerlichen Individualismus hinwegsetzt.

Doch Ionesco zeigt, dass die eigentliche Gefahr in der Passivität der zivilisierten Gesellschaft und ihrer heimlichen Sehnsucht liegt, sich von einem die Verhältnisse scheinbar radikal vereinfachenden Prinzip überwältigen zu lassen. Weltweit erleben wir wieder den Vormarsch der Gewaltherrschaft unter verschiedensten Fahnen. In den westlichen Demokratien sind wir erneut mit einer endemischen Lust konfrontiert, alles „Etablierte“ niederzureißen, egal, was darauf folgen soll. Hauptsache, die „abgehobenen globalen Eliten“ kriegen ihr Fett weg.

Die EU? Nichts als ein Völkergefängnis, eine neue UdSSR. Weg damit! Der liberale Pluralismus? Nichts als die weltfremde Träumerei von Multikulti-Romantikern, die „das Volk“, das alles besser weiß, mithilfe der Political Correctness zum Schweigen gebracht haben. Gebildete Bürger, die man für besonnene Köpfe hielt, pochen jetzt auf ihr natürliches Recht, ohne Rücksicht auf Konventionen „Neger“ sagen und „Lügenpresse“ schreien zu dürfen, wann immer sie wollen.

„Die Nashörner“ wirken vor diesem Hintergrund beklemmend aktuell. Wie dort beschrieben, sehen wir die vermeintlich Vernünftigen auch heute emsig nach rationalen Erklärungen für den Aufstand des Irrationalen suchen. Haben wir, „die Eliten“, ihn nicht selbst provoziert, weil wir „den Abgehängten“ nicht genügend zugehört haben? Müssen wir, „die Journalisten“, uns nicht an die eigene Nase fassen, weil wir an den Bedürfnissen des einfachen Volkes vorbeigeschrieben haben? Vielleicht legen die „Populisten“ ja nur den Finger in eine Wunde, an die wir uns nicht herangetraut haben?

Der letzte Mensch

Wer sich an dieser Verständnis- und Einfühlungsoffensive nicht beteiligen will und aus dem Trommeln gegen „das Establishment“ vor allem die Gewaltdrohung heraushört, gerät schnell in Verdacht, den Signalen der neuen Zeit gegenüber nicht flexibel genug zu sein. Wie Behringer, der sich angesichts der bestialischen Invasion vor Angst und Empörung nicht fassen kann – spätestens, als er erfährt, dass ausgerechnet Wisser als einer der Ersten zum Nashorn wurde. Von seinem Arbeitskollegen Stech muss sich der heillos Erregte daher sagen lassen: „Ihnen fehlt Humor. Man muss die Dinge leicht nehmen. Mit mehr Abstand.“ Schließlich bringe es doch nichts, sich durch „diese paar Fälle von Rhinozeritis“ übermäßig beunruhigen zu lassen. Das könne doch eine Krankheit sein, die von selbst vorübergeht. Und schließlich gebe es ja auch „Krankheiten, die gesund sind“.

Wirklich erschüttert wird die verzweifelte Standhaftigkeit Behringers, des traurigen Verteidigers der sterbenden Menschlichkeit, jedoch erst durch die angehimmelte Blondine Daisy, die mit seiner Bitterkeit nichts anfangen kann. Sie ermuntert ihn vielmehr, die Dickhäuter in ihrem liebenswerten Anderssein wahrzunehmen: „Ich will nicht, dass man schlecht von ihnen spricht. Das tut mir weh.“ Denn: „Sieh doch nur, sie spielen, sie tanzen!“ Am Ende ist sie überzeugt: „Götter sind’s“, und läuft zu den Nashörnern über.

Allein gelassen, kommt nun auch Behringer der Mensch für einen Augenblick wie eine hässliche Fehlkonstruktion vor, während die plumpen Bestien plötzlich in makelloser Schönheit zu erstrahlen scheinen. Doch trotzig reißt er sich von der Versuchung der Umwertung aller Werte los: „Gegen alle Welt werde ich mich verteidigen. Ich bin der letzte Mensch. Ich werde es bleiben bis zum Ende! Ich kapituliere nicht!“

Das klingt dann nur noch wie eine pathetische Donquichotterie. Ionesco wurde Fatalismus vorgeworfen, weil er den Untergang des aufgeklärten Zeitalters wie ein unabwendbares Naturereignis darstelle. Aber das ist Unsinn. Ionesco war einer der wenigen Autoren, die das Irrationale als eine autonome Macht ernst genommen haben, die keine Begründung außerhalb ihrer selbst braucht. Nur aber, wer sich nicht in der illusionären Sicherheit wiegt, die Vernunft werde sich am Ende doch immer schon irgendwie durchsetzen, hat eine Chance, ihren Todfeinden erfolgreich zu widerstehen.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

2 Kommentare

  • Lieber Herr Herzinger, ich danke Ihnen herzlich für Ihre kluge Analyse zur aggressiv-destruktiven Beliebigkeit, die sich bzgl. der vormals rechten und linken Ideologien entwickelt hat sowie Ihren blogbeitrag zu Ionesco´s Nashörnern.
    Nicht nur, dass unsere Theatergruppe es in den 1980ern aufgeführt hat und die ganze Debatte in meinem Kopf wieder aufkam, sondern mir auch eine aktuelle Idee wieder in den Kopf kam. Die Thematik sehe ich als Schnittmenge zwischen Ideologien und Machtanspruch von Religionen mit Bezügen zu Literatur und frage mich (als Ergebnis einer Zuspitzung der Summe von Phänomenen der ca. letzten 8 Jahre): gibt es ein „Drehbuch“ der DITIB nach dem Roman „Unterwerfung“ von Michel Houellebecq, die eine große Hilfe bei der Umsetzung von Strategien seitens des Amtes Diyanet (Amt für Religiöse Angelegenheiten in der Türkei). Diese Idee habe ich nicht aus theoretischen oder jounalistischen Ekenntnissen gewonnen, sondern aus eigener Anschauung im Umkreis der größten Moschee Deutschlands.
    Diese Gedanken wollte ich Ihnen kurz mitteilen und wünsche Ihnen ein schönes Wochenende
    Freundliche Grüße
    Sophia de Groote

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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