Ukraine: Jetzt muss die NATO Farbe bekennen!

Die Sprengung des Kachowka-Staudamms hat einmal mehr deutlich gemacht, dass Putins Russland vor keinem Mittel zurückschreckt, um sein derzeit oberstes Ziel zu erreichen: die Vernichtung der Lebensgrundlagen der ukrainischen Nation. Dass nun als weiteres Element dieser völkermörderischen Kriegsführung der Ökozid hinzu gekommen ist, hat jedoch keine nennenwerte zusätzliche Reaktion des Westens und der viel beschworenen „internationalen Gemeinschaft“ hervorgerufen – so, als habe man sich an die endlose Kette von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Russland in der Ukraine verübt, bereits irgendwie gewöhnt.

Die Verminung des Atomkraftwerks Saporischschja durch die russischen Okkupanten deutet darauf hin, dass sie als nächste Stufe der Massenvernichtung die Auslösung einer nuklearen Explosion anvisieren – um damit den Effekt einer Menschheitskatastrophe zu erzielen, ohne dazu eine Atombombe zünden zu müssen.

Doch auch diese Aussicht kann den Westen in seiner Beflissenheit, auf keinen Fall direkt in den Krieg hineingezogen zu werden, bisher nicht dazu bewegen, dem Kreml eindeutige rote Linien aufzuzeigen, deren Überschreitung ihn in den Fokus massiver Vergeltungsschläge rücken würde. Tatsächlich trägt der Westen dafür, dass es überhaupt zu immer neuen monströsen Akten des Massenterrors gegen die ukrainische Zivilbevölkerung kommen kann, eine gravierende Mitverantwortung. Denn er hat es versäumt, die ukrainische Armee rechtzeitig so auszurüsten, dass sie den russischen Invasoren den ultimativen Schlag hätte versetzen können, als sich diese im vergangenen Herbst schwer angeschlagen auf dem Rückzug befanden (s. hier). Weil für den ukrainischen Sieg unverzichtbare Waffen und Munition überhaupt nicht oder nur mit großer Verzögerung und in zu geringem Umfang geliefert wurden, gewann der Aggressor ein gutes halbes Jahr Zeit, um sich zu regenerieren und sich auf die jetzt angelaufene ukrainische Gegenoffensive einzustellen – deren Erfolg dadurch nun erheblich erschwert wird.

Sollte aber den ukrainischen Streitkräften in den kommenden Wochen bis Monaten kein substanzieller Durchbruch gelingen, wird dies, in der Art einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, wohl wiederum jenen Kräften im Westen Auftrieb geben, die auf baldige „Verhandlungen“ mit dem Kreml drängen – eine Forderung, hinter der in Wahrheit die Bereitschaft nicht unerheblicher Teile der westlichen Eliten und Gesellschaften steckt, auf Kosten der Ukraine irgendeinen faulen Kompromiss mit dem Aggressor auszuhandeln.

Nur ein Auftakt

Mittlerweile sind die von den westlichen Demokratien geschnürten Waffenpakete zwar beträchtlich – nicht nur die der USA, die nach wie vor die Hauptlast der Militärhilfe tragen, sondern auch die der Europäer, Deutschland eingeschlossen. Doch da sich die Lieferung des zugesagten Kriegsgeräts hinzieht und namentlich die Bereitsellung der erforderlichen Munition erhebliche Schwierigkeiten bereitet, weil die NATO-Staaten nicht beizeiten für ihre ausreichende Produktion Sorge getragen haben, kommen die Hilfen für die jetzt einsetzende, womöglich kriegsentscheidende Phase in großen Teilen zu spät.

Zudem haben die neuen westlichen Zusagen einen tückischen psychologischen Nebeneffekt: Sie lassen den trügerischen Eindruck entstehen, der Westen habe für die Ukraine nunmehr das Notwendige und ihm Mögliche getan. Dies erzeugt in den westlichen Regierungskreisen wie in der Öffentlichkeit eine gewisse Selbstzufriedenheit, die aus dem Bewusstsein geraten lässt, dass die Ukraine ihren Kampf, den sie auch für die Freiheit ganz Europas führt, nur unter entsetzlichen Mühen und Opfern fortsetzen kann – Opfer, die in diesem Ausmaß durch ein entschlosseneres Handeln des Westens hätten vermieden werden können.

So genießt es Bundeskanzler Scholz nach der Freigabe von Leopard-Panzern und der Bereitstellung von 2,7 Milliarden Euro für Rüstungsgüter an die Ukraine sichtlich, von Kyjiw und den westlichen Verbündeten nicht mehr permanent der notorischen Zögerlichkeit geziehen, sondern vom ukrainischen Präsidenten sogar mit Lob dafür eingedeckt zu werden, dass Deutschland inzwischen zum zweitgrößten militärischen Unterstützer der Ukraine nach den USA avanciert sei. Doch für wohliges Ausruhen auf der neu gewonnenen deutsch-ukrainischen Harmonie besteht kein Anlass. Denn die aktuellen Rüstungslieferungen können nur der Auftakt einer auf viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte angelegten massiven Militärhilfe für die Ukraine sein. Um die gewaltige Herausforderung zu stemmen, der Ukraine auf lange Sicht die nötigen Mittel zur Selbstverteidigung sowie zur dauerhaften Abschreckung neuerlicher russischer Aggressionen zur Verfügung zu stellen und zugleich die eigenen Verteidigungskapazitäten erheblich zu steigern, müssen die westlichen Demokratien ihre Rüstungsproduktion in einem Umfang ausbauen, wie dies nur aus Kriegszeiten bekannt ist.

Um die westlichen Gesellschaften auf diesen enormen Kraftakt vorzubereiten, müssten die verantwortlichen Politiker ihnen viel entschiedener vor Augen führen, dass wir uns im Prinzip bereits längst im Krieg mit Putins Reich des Terrors befinden – weil uns dessen verbrecherische Führer faktisch den Krieg erklärt haben, was sie in ihren aufstachelnden Reden unablässig bekräftigen. Und dass der Krieg früher oder später auch unmittelbar auf uns übergreifen wird, wenn der russische Expansionismus nicht in der Ukraine gestoppt wird.

Schreckbild „Instabilität“

Wie aber konnte es überhaupt dazu kommen, dass der Westen (und in erster Linie die Westeuropäer) der Ukraine so lange eine umfassende militärische Unterstützung vorenthalten und Waffenlieferungen auf das Nötigste zur Selbstverteidigung begrenzt hat? Es lässt sich nur darüber spekulieren, ob dies sogar einer strategischen Absicht entsprach – erwachsen aus der Hemmung, Russland in der Ukraine eine allzu verheerende Niederlage beizubringen. Und das nicht nur aus Angst davor, ein in die Enge gedrängter Putin könnte Atomwaffen einsetzen. Sondern auch, weil ein totales Desaster für die russischen Anggressoren in der Ukraine den Zusammenbruch des Regimes und damit womöglich den Kollaps der „Russischen Föderation“ nach sich ziehen könnte.

Die Aussicht aber, dass dort dann womöglich blutige Machtkämpfe bis hin zu Bürgerkriegen ausbrechen würden (siehe dazu das Postskriptum am Ende dieses Texts), schreckt manchen auf „Stabilitätspolitik“ geeichten westlichen Politiker (und Intellektuellen) mehr als die Konsequenzen, die es hätte, würde man den russischen Völkermördern um einer „Friedenslösung“ willen besetzte ukrainische Gebiete auf Dauer überlassen – dass sie dann nämlich ihrer berserkerischen Vernichtungswut, die sich in Massenexekutionen, systematischen Vergewaltigungen, massenhafter Verschleppung und „Umerziehung“ in Konzentrationslagern ebenso äußert wie in grausamsten Folterungen bis hin zur Kastration von Kriegsgefangenen und Zivilisten, dort ungestört freien Lauf lassen könnten.

Die näher liegende Erklärung für die lang anhaltende westliche Zögerlichkeit aber ist das Vorherrschen einer grundlegenden Fehleinschätzung der Dimension des russischen Überfalls auf die gesamte Ukraine ebenso wie des wahren Charakters des russischen Regimes – eine Fehleinschätzung, die bis heute nicht vollständig überwunden ist. Sie gründet auf der irrigen Annahme, das Putin-Regime werde womöglich doch noch von seiner Aggression ablassen und sich kompromissbereit zeigen, sobald es erkennen würde, dass ihm durch seine Gewaltpolitik zu große ökonomische und diplomatische Nachteile entstünden. Dies aber unterstellt dem Putinismus eine uns im Westen vertraute Rationalität, die dieser in Wahrheit zutiefst verachtet und aggressiv ablehnt.

Eliminatorische Gewalt

Tatsächlich führt das russische Regime den Krieg gegen die Ukraine keineswegs, um ein paar zusätzliche Gebietsgewinne zu erzielen oder sich mehr „Sicherheit“ vor einer in Wirklichkeit frei erfundenen Bedrohung durch den Westen zu verschaffen. Mit seinem Vernichtungskrieg bringt das Regime vielmehr sein innerstes Wesen zum Ausdruck. Denn es besitzt keinerlei Legitimation für seine Herrschaft als den schieren Vernichtungswillen, den es gegen alle und alles richtet, das seiner Vorstellung gemäß der willkürlichen Ausbreitung der „russischen Welt“ im Wege steht. Daraus folgt, dass es seinen einmal eingeschlagenen Kriegskurs nicht wieder verlassen kann, ist doch mit dessen Fortsetzung um jeden Preis die Existenz des Regimes schlechthin verknüpft. Die einzige Möglichkeit, diese kriegerische Vernichtungswalze zu stoppen, besteht daher darin, ihren Betreibern die Mittel dazu aus der Hand zu schlagen, sie weiter in Gang zu halten.

Dass es sich bei Russlands Vernichtungskrieg um einen geplanten und zudem sogar offen angekündigten Völkermord handelt, hätte jeder politische Verantwortliche und jeder politische Beobachter im Westen von Anfang an – ja, bereits lange vor Beginn der russischen Großinvasion  – erkennen können und müssen. Weil sie dies jedoch nicht für möglich hielten oder wahrhaben wollten, schlugen die westlichen Demokratien als Reaktion auf die Aggression eine im Kern unzulängliche Strategie ein. Der Grundfehler war, sich von Anfang kategorisch darauf festzulegen, dass die NATO unter keinen Umständen direkt in den Krieg eingreifen werde. Dies wurde von Moskau als Zeichen der Schwäche und Feigheit, als Beweis dafür gewertet, dass die westlichen Demokratien zu „dekadent“ seien, um eine offene Konfrontation mit Russland zu wagen. Für die Putinisten war dies gleichbedeutend mit einem Freifahrtschen dafür, die Ukraine mit grenzenloser eliminatorischer Gewalt zu überziehen.

Der seit Anfang der 1990er Jahre in Deutschland lebende russische Autor Boris Schumatsky hat aufgezeigt, nach welchem Prinzip das putinistische Herrschaftssystem – und im Kern die gesamte russische Gesellschaft funktioniert: „In Russland zählt wirklich nur eines: Gewalt. Putin versteht und spricht sie fließend, denn Gewalt ist eine Sprache, in der sein Land codiert ist.“ Das Muster sei durch die „Ordnung“ vorgegeben, die in russischen Knästen herrsche: Wer sich nicht mittels exzessiver Gewalt durchsetzt, gilt als geborenes „Opfer“, das nach Belieben misshandelt und erniedrigt werden darf. Nur glaubhafte Gewaltandrohung durch das westliche Bündnis kann die putinistischen Machthaber daher davon überzeugen, dass die westlichen Demokratien nicht dieser Kategorie des „Opfers“ zugehören.

Ukraine in die NATO!

Das bedeutet, dass die NATO-Staaten ihre gebetsmühlenartigen Bekundungen, unter keinen Umständen „Kriegspartei“ werden zu wollen, unverzüglich einstellen sollten. Statt dessen müssten sie jetzt unmissverständlich erklären, dass sie eine militärische Niederlage der Ukraine auf keinen Fall zulassen werden. Damit würde dem Kreml klar gemacht, dass für ihn kein Sieg über die Ukraine möglich ist, der nicht über eine offene militärische Konfrontation mit dem westlichen Bündnis führt. Bei jedem neuen Eskalationsschritt, den er in Angriff nimmt, sähe sich der Kreml so der Ungewissheit ausgesetzt, ob dies vielleicht nicht doch die NATO auf den Plan ruft.

Von entscheidender Bedeutung ist, dass die Ukraine nunmehr endlich eine verbindliche Perspektive für ihre Aufnahme in die NATO erhält. Das ausweichende Gerede über westliche Sicherheitsgarantien, die eine NATO-Vollmitgliedschaft der Ukraine ersetzen sollten, führt auf einen gefährlichen Irrweg. Offenbar ist dies nämlich als Zugeständnis gedacht, das den Russen einen „gesichtswahrenden“ Ausweg aus dem Krieg weisen und so ihre Verhandlungsbereitschaft fördern soll. So, als werde sich der Kreml möglicherweise damit zufrieden geben, dass die formelle Zugehörigkeit der Ukraine zum westlichen Bündnis auf Dauer ausgeschlossen wird. Um das zu glauben, muss man für bare Münze nehmen, dass es dem putinistischen Regime in irgendeiner Weise tatsächlich um ein Mehr an „Sicherheit“ vor dem westlichen Bündnis gehe und nicht etwa im Gegenteil darum, durch die Schwächung der NATO die westlichen Demokratien sturmreif zu machen.

Dass der Beitritt der Ukraine zur NATO eine Bedrohung für Russlands Sicherheit darstellen würde, ist nichts als eine der abgefeimtesten Moskauer Propagandalügen. Der russische Oppositionspolitiker Leonid Gozman hat jüngst in einem Beitrag für den Atlantic Council erklärt, warum das genaue Gegenteil der Fall ist: Nichts würde auch den objektiven Sicherheitsinteressen Russlands mehr dienen als die ukrainische Mitgliedschaft im westlichen Bündnis. Denn, so Gozmann, „die gemeinsamen Grenzen Russlands mit der NATO waren immer auffallend ruhig und sicher. Bemerkenswert ist, dass dies auch während der gesamten Sowjetzeit der Fall war, was im Gegensatz zu einigen anderen russischen Grenzen steht. Ein NATO-Beitritt der Ukraine würde die eigene Grenzsicherheit Russlands deutlich erhöhen.“

NATO in die Offensive

Dem putinistischen Aggressorstaat geht es jedoch in keiner Weise um die Erhöhung von Sicherheit für sich oder andere, sondern im Gegenteil um die Zerstörung der Sicherheitsstrukturen in Europa und weltweit. Rationale Kriterien für Sicherheit sind ihm wesensfremd. Es trachtet vielmehr danach, alle legalen Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die es ihm erschweren, bei Bedarf Tod und Zerstörung über die Menschheit zu bringen.

Es gilt daher, auf die verlogenen Einwände der putinistischen Ideologen gegen die Ausweitung der NATO keinerlei Rücksicht mehr zu nehmen. Würde das Bündnis etwa die Aufnahme der Ukraine in spätestens einem Jahr festlegen, würde dies wie ein Ultimatum an Russland wirken, in dieser Zeitspanne seine Truppen vom gesamten ukrainischen Territorium abzuziehen – fände es sich doch sonst nach Ablauf dieser Frist im Krieg mit einem NATO-Land wieder. Vor nichts aber fürchtet sich Putin in Wahrheit mehr als dass sich die NATO doch nicht als der Papiertiger erweist, als den ihn seine Propaganda herabzuwürdigen versucht. Ungeachtet seiner Größenfantasien ist ihm das weit überlegene militärische Potenzial der Atlantischen Allianz nämlich nur allzu bewusst.

Dass der Ukraine von westlicher Seite bisher die definitive Zusage der Vollmitgliedschaft mit der Begründung verweigert wird, ein im Krieg befindliches Land könne der NATO ohnehin nicht beitreten, bestärkt hingegen das putinistische Regime in seiner Aggressionsbereitschaft. Denn um eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine zu verhindern, braucht es nach dieser Maßgabe nichts anderes zu tun, als seinen Terrorfeldzug gegen das Land ad infinitum fortzusetzen.

Gefordert ist jetzt ein Paradigmenwechsel und eine qualitative Kurskorrektur, die das westliche Bündnis gegenüber dem Kreml in die Offensive bringt und die darauf zielt, dem dem Aggressor die Eskalationsdominanz zu nehmen. Dazu gilt es, sich schleunigst von in der westlichen Politik und Öffentlichkeit weit verbreiteten Irrtümern zu verabschieden. Drei davon, die stets mit größter Inbrunst wiederholt werden, lauten:

Erstens: „Der Westen muss bei Waffenlieferungen Zurückhaltung üben, um eine weitere Eskalation zu vermeiden.“

Genau das Gegenteil ist der Fall. Jedes Signal der Zurückhaltung wird von den Verbrechern im Kreml vielmehr als eine Einladung dazu verstanden, ihrerseits willkürlich zu eskalieren. Doch unverdrossen wird dieses „Argument“ von vermeintlich um den Weltfrieden besorgten Zeitgenossen herangezogen, um etwa gegen die Lieferung etwa von F-16-Kampfjets Front zu machen. Dahinter steckt die unterschwellige Unterstellung, die Ukraine könnte mit solchen modernsten westlichen Waffen Missbrauch treiben und sich russisches Gebiet einzuverleiben versuchen. Welch eine groteske Verzerrung und perfide Verdrehung der wirklichen Verhältnisse! Die Ukraine verteidigt ausschließlich ihr eigenes Territorium und hat nicht das geringste Interesse an russischen Gebieten – sie hat überhaupt kein Interesse an Russland außer dem einen, von ihm für alle Zeiten in Ruhe gelassen und von ihm möglichst niemals wieder irgendetwas hören oder sehen zu müssen.

Zweitens: „Wir müssen uns mehr um Dialog mit Russland bemühen, denn früher oder später wird man mit Russland über einen ´gerechten Frieden´ verhandeln müssen.“

Das ist angesichts des wahren Charakters des russischen Regimes eine absurde und irreführende Vorstellung, die den Absichten des Kreml in die Hände spielt. Denn er will die Weigerung, über eine „Friedenslösung“ zu verhandeln, der Ukraine und dem Westen in die Schuhe schieben – obwohl Putin und seine Komplizen nicht müde werden zu erklären, dass für sie Verhandlungen nur unter der Voraussetzung in Frage kommen, dass sich Kyjiw und die NATO ihren maßlosen Vorherrschaftsansprüchen unterwerfen. Mit wem und worüber also wollen die westlichen Anhänger von „Verhandlungen“ mit diesen Machthabern einen „Dialog“ führen, der von den westlichen Regierungen angeblich verweigert wird? Etwa über die Neuaushandlung einer „europäischen Friedensordnung?“ Eine solche funktionierende, vertraglich abgesicherte Friedensordnung existiert bereits. Es ist allein Russland, das dagegen auf kriminelle Weise verstößt. Dafür darf es nicht auch noch belohnt werden, indem man Teile der bestehenden Rechtsordnung in Frage stellt, um seine Aggressionslust zu besänftigen.

Um mit Putin und Konsorten über irgendetwas verhandeln zu können, müssten von seiner Seite als in irgendeiner Weise legitim zu betrachtende Ansprüche vorliegen, auf die man ernsthaft eingehen könnte. Sämtliche vom Kreml erhobenen Forderungen beruhen jedoch auf demagogischen Kon­strukten, die von ihm nur vorgeschoben werden, um seiner in immer neue Exzesse gesteigerten Gewaltpolitik eine scheinbare Begründung zu geben. In Wahrheit geht es ihm um Zerstörung um der Zerstörung willen, weil dies das Daseinsprinzip seiner Herrschaft ist – um das also, was als Kennzeichen des absoluten Bösen zu betrachten ist. Doch die westlichen Gesellschaften tun sich schwer damit, die Existenz einer Kraft in der Weltpolitik ins Kalkül zu ziehen, die aus Prinzip böse und nur um des Bösen willen agiert und folglich weder „resozialisierbar“ noch integrierbar, somit also auch nicht vertragsfähig ist.

Drittens: „Die Ukraine muss davon abgehalten werden, russisches Territorium anzugreifen.“

Diese Einstellung ist realitätsfern, widersinnig und rational wie moralisch durch nichts gerechtfertigt. Dennoch hat sie fatale Konsequenzen, denn sie hat zu der Einschränkung geführt, der Ukraine keine Waffensysteme mit großer Reichweite zu liefern, die russisches Gebiet treffen können.

Doch die Ukraine ist nicht nur in jeder Hinsicht berechtigt, militärische Ziele auf russischem Territorium anzugreifen, um Raktenabschussbasen und Nachschublinien des Aggressors zu zerstören, solche Angriffe sind eine zwingende Notwendigkeit für die erfolgreiche Durchführung eines Verteidigungskriegs. Sie sind vollständig durch das Recht auf Selbstverteidigung gedeckt. Diesem Recht gemäß hätte die Ukraine, wäre sie dazu in der Lage gewesen, sogar vor dem 24. Februar 2022 einen Präventivschlag gegen die zum Einmarsch bereiten russischen Invasionstruppen führen dürfen. Denn es wird im Westen gerne übersehen, dass bereits die Massierung von Truppen an der ukrainischen Grenze, verbunden mit der Drohung eines Angriffs auf ukrainisches Territorium, einen Akt der Aggression und eine eklatanten Bruch des Völkerrechts darstellte – ganz abgesehen von der Tatsache, dass Russland schon seit 2014 ukrainisches Staatsgebiet illegal besetzt hielt und einen Teil davon annektiert hatte.

***

POSTSKRIPTUM zu dem vermeintlichen Putschversuch des „Wagner“-Söldnerchefs Prigoschin:

In deutschen Medien wurde am vergangenen Samstag schon über einen beginnenden „Bürgerkrieg“ in Russland hyperventliiert, und manche Unterstützer/innen der Ukraine freuten sich in sozialen Medien zu früh auf einen bevorstehenden Kollaps des Putin-Regimes. Doch so schnell er gekommen ist, so schnell war der Spuk auch wieder vorbei – und vieles deutet nun darauf hin, dass es sich bei dem vermeintlichen „Aufstand“ des mörderischen Söldnerführers Prigoschin um eine abgekartete Inszenierung mit undurchsichtigem Hintergrund gehandelt hat. Nicht auszuschließen ist sogar, dass es darum ging, Prigoschin und seine Terrortruppe nach Belarus zu lotsen, von wo aus sie demnächst die Ukraine im Westen angreifen könnten – mit Stoßrichtung Kyjiw.

Auch wenn viele Kommentatoren jetzt einen Autoritäts- oder zumindes Imageverlust Putins diagnostizieren, weil er sich Prigoschin nur durch einen faulen Kompromiss vom Hals habe halten können – es ist davon auszugehen, dass die putinistische Militärhierarchie mit der Entfernung des überambitionierten Quertreibers von der russischen Bühne erst einmal gestrafft und damit eher gestärkt aus dieser obskuren Episode hervorgegangen ist.

Nichts wäre indes erfreulicher, als wenn sich die diversen Fraktionen des russischen Verbrecherregimes gegenseitig zerfleischen und nachhaltig dezimieren würden. Doch darf man sich keinen übertriebenen Erwartungen hingeben, dass sich der Aggressorstaat auf diese Weise selbst zerlegen könnte. Die russische „Putsch“-Farce war auch eine Lehrstück über die Leichtgläubigkeit der westlichen Öffentlichkeit, mit der sie auf die Verwirrspiele und Täuschungsmanöver des russischen Machtapparats hereinzufallen pflegen. Nicht zuletzt mancher eilig auf den Bildschirm geufene Experte hat sich am Samstag mit voreiligen Prognosen über eine potenziell tödliche Krise des Regimes zu weit aus dem Fenster gelehnt.

Lassen wir uns also durch tatsächliche und vermeintliche Bandenkriege innerhalb des putinistischen Herrschaftssystems nicht davon ablenken, dass nur eines den völkermörderischen russischen Aggressionskrieg gegen die Ukraine beenden und die westliche Welt vor einem weiteren Vordringen der Kreml-Kriegsmaschinerie in allen ihren Facetten bewahren kann: die vollständige militärische Niederlage des moskowitischen Terrorstaats in seiner Gesamtheit. Darauf, diese so bald wie möglich herbeizuführen, müssen sich alle Anstrengungen der freien Welt konzentrieren.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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