Taiwans Freiheit und das ukrainische Fanal

Ukraine und Taiwan – die Verteidigung beider Länder hat für den Westen mehr als nur eine globalstrategische Dimension. Beide stehen für die sich weltweit zuspitzende Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Autoritarismus. Hat das chinesische Regime, wie dies bei Putin Anfang 2022 der Fall war, die Invasion Taiwans bereits längst beschlossen? Eine Analyse – und ein Gespräch zur aktuellen Bedrohungslage sowie der besonderen Situation Taiwans: mit Jhy-Wey Shieh, dem Botschafter Taiwans, der sich aber nicht so nennen darf.

Der Text ist zuerst hier erschienen: Zeitschrift Internationale Politik, 26.4.2023

Das Szenario erinnert auf gespenstische Weise an die Wochen und Monate vor dem 24. Februar 2022. Wie damals bei Wladimir Putin in Moskau, so sprachen zuletzt führende westliche Staatenlenker bei Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping in Peking vor, um nicht zuletzt seine Absichten bezüglich Taiwans zu eruieren und ihn zu Deeskalation und Kooperation zu bewegen.

Das chinesische Regime aber beantwortet dies mit der aggressiven Demonstration militärischer Stärke und Entschlossenheit zur kriegerischen Durchsetzung seines anmaßenden Anspruchs auf die vermeintliche „abtrünnige Provinz“ Taiwan. Dabei ist Taiwan in Wahrheit niemals Teil der Volksrepublik China gewesen.

Kaum hatten die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der französische Staatspräsident Emmanuel Macron Anfang April ihre Visite in Peking beendet, führte das chinesische Militär neuerliche massive Angriffsmanöver vor den Küsten Taiwans durch, mit denen die Inselrepublik eingeschüchtert und der Westen abgeschreckt werden sollten.

Europas Kakophonie

Unter den Europäern herrscht Kakophonie, wenn es um die adäquate Reaktion auf Chinas wachsende Aggressivität geht. Während die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock bei ihrem kürzlichen China-Besuch deutlich Position bezog und dem Regime die gültigen Normen des internationalen Rechts vorhielt, ließ sich Macron von Chinas starkem Mann bereitwillig umgarnen. Um Xi für sich einzunehmen, fiel Macron sogar dem transatlantischen Bündnispartner in den Rücken, indem er – in bizarrem Gleichklang mit der chinesischen Propaganda – erklärte, die Europäer dürften nicht zu „Vasallenstaaten“ der USA werden und sich namentlich im Konflikt um Taiwan nicht zu „Mitläufern“ degradieren lassen.

Im Namen einer „europäischen Souveränität“ Washington die Solidarität bei der Verteidigung Taiwans zu verweigern, weil sich die eigenen Interessen in diesem geopolitischen Raum nicht mit denen der USA deckten, zeugt freilich von einiger Chuzpe. Schließlich sind es umgekehrt die Vereinigten Staaten, die bei der militärischen Befähigung der Ukraine zu ihrem Verteidigungskrieg gegen Russland mit Abstand die Hauptlast tragen, weil sich Europa, das von der russischen Bedrohung in weit höherem Maße betroffen ist, seiner Verantwortung allein einmal mehr nicht gewachsen zeigt.

Wie die Verteidigung der Ukraine hat die Taiwans für den Westen insgesamt mehr als nur eine rein globalstrategische Dimension. Diese Konfrontationen stehen exemplarisch für die sich weltweit zuspitzende Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Autoritarismus. Taiwan und die Ukraine halten die vorderste Frontlinie des Abwehrkampfs der demokratischen Zivilisation gegen die zunehmend expansiven antiwestlichen und antidemokratischen Mächte China und Russland.

Westliche Selbstaufgabe?

Nachdem der Westen bereits die brutale Gleichschaltung Hongkongs durch das Pekinger Regime weitgehend untätig hingenommen hat, wäre die Preisgabe Taiwans – einer stabilen, lebendigen Demokratie, die ein Leuchtfeuer der Freiheit auf dem asiatischen Kontinent darstellt – ein weiteres, noch dunkleres Zeichen für die drohende Selbstaufgabe der freien Welt.

Wird Peking mit seinem Überfall auf Taiwan ernst machen? Hat das chinesische Regime, wie dies bei Putin Anfang 2022 der Fall war, die Invasion bereits längst beschlossen? Und was wären die Konsequenzen für den Westen und die ganze Welt? Hier sollte die Expertise der unmittelbar Betroffenen weiterhelfen.

Jhy-Wey Shieh hat darauf ziemlich klare Antworten. Er ist seit 2016 Botschafter Taiwans in Deutschland, darf sich aber offiziell nicht so nennen, sondern muss als Repräsentant der „Taipeh-Vertretung“ firmieren. Denn die westlichen Demokratien halten sich weiter an die Ein-China-Politik, die ihnen die staatliche Anerkennung Taiwans untersagt. Shieh will diesen anachronistischen Zustand nicht ohne Weiteres hinnehmen. Auf seine Visitenkarte hat er sich, zusätzlich zur formalen Bezeichnung seines Amtes, das er von 2005 bis 2007 schon einmal innehatte, in Goldbuchstaben das Wort „Taiwan“ drucken lassen.

Mit Shieh hat die Inselrepublik einen intellektuell versierten wie unkonventionellen Kopf als Ansprechpartner für die deutsche Politik und Öffentlichkeit. Er ist kein Karrierediplomat, sondern von Haus aus Professor der Germanistik und daher ein exzellenter Kenner deutscher Literatur und Kulturgeschichte. Er hat sich im Widerstand gegen die Kuomintang-Diktatur und nach deren Ende 1987 in verschiedenen Funktionen für die rasch aufblühende taiwanische Demokratie engagiert. Früher betätigte sich der 68-Jährige zudem als Liedermacher und sogar als Rapper, wofür er heute zu seinem Bedauern keine Zeit mehr findet.

Im Gespräch äußert er sich nicht nur zur aktuellen Bedrohungslage, sondern auch zu den historischen und kulturellen Hintergründen der besonderen Situation Taiwans – und zu dem engen Verhältnis seines Landes zur Ukraine.

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Frage: Für wie wahrscheinlich halten Sie die Invasion Taiwans durch China?

Jhy-Wey Shieh: Der chinesische Angriff ist keine Frage mehr des Ob, sondern nur noch des Wann und Wie. Wenn man sieht, wie gewaltig China aufrüstet, und wenn man hört, was Xi Jinping in seinen jüngsten Reden dazu gesagt hat, kann an seiner Absicht kein Zweifel bestehen – von den jüngsten aggressiven chinesischen Manövern rund um Taiwan ganz abgesehen. In einer Rede im vergangenen Oktober hat Xi die „großartige Wiedergeburt der chinesischen Nation“ verkündet, und im März dieses Jahres hat er diese „Wiedergeburt“ unmittelbar an die „Wiedervereinigung“ mit Taiwan geknüpft. Und er hat das Militär und die Gesellschaft offen dazu aufgerufen, sich für einen Krieg bereit zu halten, wobei er explizit die USA als Gegner nannte. Wir Taiwaner sind davon in höchstem Maße alarmiert.

Wie sollte sich der Westen, sollten sich die USA und Europa darauf vorbereiten?

Es ist hier in Deutschland und Europa jetzt immer die Rede davon, man müsse aus den Fehlern der Politik gegenüber Russland lernen. Vor dem 24. Februar 2022 war eindeutig zu erkennen, dass die russische Invasion der gesamten Ukraine unmittelbar bevorsteht. Doch in der Politik und den Medien wollte man dies nicht wahrhaben und spielte die Gefahr bis zuletzt herunter. Weil man selbst keinen Krieg will, weigerte man sich zu glauben, dass er Wirklichkeit wird. Dieses Wunschdenken darf sich gegenüber China nicht wiederholen. Ein führender US-General hat kürzlich erklärt, ein Krieg zwischen den USA und China sei unvermeidlich – und er werde womöglich schon 2025 ausbrechen. Man kann darüber spekulieren, ob dies zutrifft, aber man muss unbedingt darauf gefasst sein.

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China und Russland Seite an Seite

Von einer realistischen Einschätzung der Gefahr, die von Chinas expansivem Kurs ausgeht, scheint die deutsche Öffentlichkeit jedoch noch immer weit entfernt. So wurde hierzulande in den vergangenen Monaten eifrig die Vorstellung kultiviert, China strebe mit seinem „Friedensplan“ für die Ukraine tatsächlich so etwas wie eine „Vermittlerrolle“ zwischen dem Aggressor und seinem Opfer an.

Doch in seinen Abschiedsworten am Ende seines Moskau-Besuchs im März sprach Xi Jinping unverblümt aus, was er in Wahrheit im Sinn hat: gemeinsam mit Moskau die auf westlichen Werten gegründete liberale Weltordnung zu eliminieren. Das meinte Xi, als er seinem „lieben Freund“ Putin zurief, er solle stark bleiben, stünden doch in der Welt „Veränderungen bevor wie seit einhundert Jahren nicht mehr“. Das tönte der chinesische Diktator auch an, als er bei seinem Treffen mit Macron und von der Leyen in Peking die EU zu „strategischer Autonomie“ aufforderte. Seine Forderung, die Beendigung des Ukraine-Kriegs müsse mit dem Aufbau eines „ausgewogenen europäischen Sicherheitsrahmens“ einhergehen, besagt verklausuliert dasselbe wie Russlands Formulierung nach einem Europa ohne USA und NATO – das heißt: unter Moskaus Vorherrschaft.

Xi Jinpings totalitäres China will keinen „gerechten Frieden“, sondern steht in Wirklichkeit voll und ganz hinter Putins Krieg. Die Art und Weise aber, wie Peking von Teilen der deutschen und europäischen Öffentlichkeit eine potenziell konstruktive Rationalität bei der Friedenssicherung zugeschrieben wird, erinnert fatal an die Beharrlichkeit, mit der sich unsere Eliten jahrzehntelang Putins Russland schöngemalt haben.

Europa scheint uneins und ratlos, wie es auf den zu erwartenden chinesischen Angriff auf Taiwan reagieren sollte und könnte. Alles hängt somit davon ab, wie die Antwort der USA und ihrer Verbündeten im pazifischen Raum ausfallen würde.

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Frage: Glauben Sie, dass die USA direkt militärisch eingreifen werden, wenn China Taiwan überfällt? Oder wird sich Washington, wie gegenüber der Ukraine, auf Waffenlieferungen beschränken?

Jhy-Wey Shieh: Die Situation ist hier anders als im Fall der Ukraine. Die USA sind seit 1950 im westpazifischen Raum ununterbrochen präsent, in Japan, Südkorea, den Philippinen, auf Guam und in den letzten Jahren gar in indopazifischen Gewässern. Die Staaten dieser Region sind wirtschaftlich eng mit dem Rest der Welt verflochten. Würde China die Kontrolle über Taiwan gewinnen, wäre etwa der japanische Export blockiert, der zu großen Teilen über die Seewege an Taiwan vorbei erfolgt. Im Unterschied zum russischen Angriff auf die Ukraine wäre der chinesische Überfall auf Taiwan somit ein Stoß mitten in diesen gemeinsamen Wirtschaftsraum hinein. Im Fall der Ukraine kann die NATO noch eine rote Linie ziehen und sagen: Erst wenn Mitgliedstaaten der westlichen Allianz direkt angegriffen werden, schlagen wir militärisch zurück. Für Taiwan gilt das nicht. Anders als die Ukraine für die NATO ist Taiwan für die indopazifischen Anrainerstaaten nicht nur ein befreundeter Nachbar, sondern ein Familienmitglied, sozusagen ein Teil ihres Körpers. Wir haben ein Sprichwort, das besagt: „Wenn die Lippen wegfallen, frieren die Zähne dahinter.“ Wir sind diesem Bild gemäß die Lippen, Japan steht für die Zähne.

Präsident Biden hat ein direktes militärisches Engagement der USA aber offengelassen. Dennoch sind Sie sicher, dass es stattfinden wird?

Ja. Denn die USA haben zusammen mit Japan, das seine Verteidigungskraft massiv verstärkt hat, und den Philippinen, wo die Amerikaner jetzt die Zahl ihrer Militärstützpunkte erhöhen, seit Jahren intensive Vorbereitungen dafür getroffen. Der vor zwei Jahren erneuerte amerikanisch-japanische Sicherheitspakt beschränkt die Beistandsverpflichtung der USA nicht nur auf einen direkten Angriff auf Japan, sondern bezieht auch aggressive Akte um Japan herum ein – gemeint ist damit der drohende Angriff auf Taiwan, auch wenn dies nicht explizit benannt wird. Würde China Taiwan einnehmen, stünde es damit nicht vor der Tür der indopazifischen strategischen Allianz, es hätte damit bereits die Türschwelle überschritten.

Könnte sich Taiwan denn notfalls mit westlicher Waffenhilfe erfolgreich selbst verteidigen?

Nein, alleine nicht. Da muss man leider ganz klar sagen, dass die chinesische Übermacht viel zu groß ist. Aber Taiwan ist bereit, sich bis aufs Äußerste zur Wehr zu setzen. Selbst wenn es Chinas Angriff nur zwei bis drei Tage standhalten könnte, würde dies den USA und unseren anderen Verbündeten einen Zeitgewinn für ihren Gegenschlag verschaffen. Auf keinen Fall werden wir uns ergeben, denn wir wissen, dass das chinesische Regime ohne Erbarmen gegen uns vorgehen würde. Es stünden uns dann Säuberungen bevor, die massenhafte Exekutionen, Inhaftierungen und Umerziehung umfassen und mit der vollständigen Gleichschaltung Taiwans im Sinne des totalitären Herrschaftssystems Chinas enden würden.

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Taiwans Empathie für die Ukraine

Solchen Terror haben die Ukrainerinnen und Ukrainer vonseiten der russischen Invasoren bereits jetzt zu erleiden. Dementsprechend groß ist die Empathie, mit der ihr Widerstand in Taiwan verfolgt wird. Die ukrainische Parlamentsabgeordnete Kira Rudik zeigte sich nach einer Taiwan-Reise Ende 2022 beeindruckt davon, „dass das taiwanische Volk von der russischen Invasion in der Ukraine und dem Heldentum des ukrainischen Volkes tief bewegt“ sei. „Es gab große Sympathie für die Ukraine und großes Interesse an unseren Erfahrungen, die viele eindeutig als wichtige Erkenntnisse für Taiwan selbst sehen.“

Umgekehrt hätten die Ukrainerinnen und Ukrainer in dem Jahr seit Beginn des russischen Überfalls auf die gesamte Ukraine „gelernt, auf wen sie sich wirklich als Freunde verlassen können. Taiwan hat sich zu einem wichtigen asiatischen Verbündeten entwickelt und gewährt der Ukraine zu einer Zeit starke Unterstützung, in der andere Länder der Region es vorgezogen haben, eine eher neutrale Haltung einzunehmen.“ Jhy-Wey Shiehs Antworten bestätigen diese Eindrücke.

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Frage: Welche Bedeutung hat der erfolgreiche Widerstand der Ukraine gegen die russischen Invasoren für Taiwan? Wartet Xi den Kriegsverlauf ab, um sich für den Fall eines Sieges der Ukraine mit den eigenen Angriffsplänen zurückzuhalten?

Jhy-Wey Shieh: Theoretisch ist das natürlich möglich. Aber so wie ich die chinesischen Kommunisten einschätze, glaube ich eher an das Gegenteil: Xi studiert und analysiert die Fehler und Schwachstellen des russischen Angriffskriegs, um daraus für seine eigene Invasion zu lernen. Zu glauben, dass sich China durch einen ukrainischen Sieg von einer Aggression abhalten lässt, wäre wieder ein Wunschdenken. Darauf können wir Taiwaner uns nicht verlassen. Dennoch ist es von großer Bedeutung, dass es der Ukraine mit westlicher Hilfe auf so bewundernswerte Weise gelungen ist, die Russen zurückzudrängen.  Dies beinhaltet eine wichtige Lehre, die auch auf die Bedrohung durch China anwendbar ist: Wenn man konzentriert und geeint auf die Aggression einer bösartigen Macht reagiert, zahlt sich das aus.

Wie eng fühlt sich Taiwan mit der Ukraine verbunden? Was tut Taiwan praktisch, um die Ukraine zu unterstützen?

Die Verbundenheit ist sehr eng. Schon eine Woche nach dem Beginn der Invasion am 24. Februar haben wir 28 Tonnen an Medikamenten zur Verfügung gestellt und über Deutschland und Polen in die Ukraine geschickt. Und aus der Zivilgesellschaft sind spontan Millionen an Spendengeldern und tonnenweise Hilfsgüter zusammengekommen. Taiwan gehört zu den Staaten, die am schnellsten Hilfe für das überfallene Land organisiert haben. Und jüngst hat unser Parlament einen Etat von umgerechnet 60 Millionen Euro für die Ukraine bewilligt, die vor allem ihrem Wiederaufbau zugutekommen sollen. Wir unterstützen übrigens auch Polen und andere Länder finanziell, die besonders viele ukrainische Flüchtlinge aufgenommen haben. Diese starke Solidarität der Taiwaner wächst aus dem Empfinden, mit der Ukraine in einer Schicksalsgemeinschaft zu stehen. Durch den Angriff auf sie fühlen wir uns mit angegriffen.

Die Ukraine ist angesichts der russischen Aggression als Nation geeint wie nie zuvor. Aber wie einig sind die Politik und Gesellschaft Taiwans in ihrer Haltung gegenüber China tatsächlich? Es gibt doch auch Kräfte, die eher auf Kooperation mit dem Regime in Peking setzen …

Da haben Sie leider recht. Die Kuomintang (KMT), einst die Partei des Diktators Chiang Kai-shek, hat sich ihrem früheren Todfeind, dem kommunistischen Regime in Peking, das sie nach Taiwan gejagt hatte, angenähert. Die Basis dafür ist ihr gemeinsamer chinesischer Nationalismus, aus dem sie die Denunziation des Unabhängigkeitsstrebens Taiwans als Separatismus ableiten. Das wurde deutlich, als der Parteichef der KMT zu seiner Wahl im vergangenen Jahr ein Glückwunschschreiben von Xi Jinping erhielt, in dem dieser das gute Verhältnis zwischen China und Taiwan während der Regierungszeit der KMT bis 2016 lobte. In seinem Dankesbrief an Xi stimmte der Parteichef dem nicht nur zu; er erklärte sogar, Peking und die Kuomintang müssten gemeinsam die separatistischen Tendenzen in Taiwan bekämpfen. Und das geschah, während China Taiwan mit Manövern vor seinen Küsten und Überflügen von Kampfjets einzuschüchtern versuchte!

Die KMT stellt also die Nation über die Demokratie?

Ich will nicht bezweifeln, dass auch sie Menschenrechte und Demokratie anerkennt. Aber ich fürchte, sie hat bis heute nicht vollständig verinnerlicht, wie weit sich Taiwan demokratisiert hat. Für etwa 80 Prozent der Taiwaner, und gewiss für die unter 40, ist an den hart erkämpften Errungenschaften der taiwanischen Demokratie nicht zu rütteln. Doch auch 20 Prozent, die das anders sehen, sind ein Problem, wenn viele von ihnen einflussreiche Positionen in Staat und Gesellschaft besetzen.

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Bekenntnis zur Demokratie

Nicht nur die akute Bedrohung durch aggressive feindselige Nachbarn bindet indes die Ukraine und Taiwan aneinander. Beide wollen unwiderruflich kein Objekt imperialer Mächte mehr sein, die ihnen gewaltsam nicht nur das Recht auf Staatlichkeit, sondern auch die pure Existenz einer eigenen nationalen Identität absprechen. Dabei ist das Bekenntnis zur Demokratie heute konstitutiv für ihre Selbstfindung als Nation. Beim Aufbau einer stabilen rechtsstaatlichen und pluralistischen demokratischen Ordnung ist Taiwan der Ukraine bereits ein ganzes Stück voraus und kann für sie in diesem Sinne wegweisend sein.

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Frage: Wie hat es Taiwan von einer Diktatur zu einer funktionierenden Demokratie geschafft, die weltweit als vorbildlich gelten kann?

Jhy-Wey Shieh: Das hat viel mit der besonderen historischen Erfahrung der Taiwaner zu tun. Von 1895 bis 1945 stand Taiwan unter japanischer Fremdherrschaft. Die Taiwaner sollten gewaltsam zu Japanern gemacht werden, allerdings nur zu solchen zweiter Klasse. Die Diktatur Chiang Kai-sheks wiederum wollte ihnen alles Japanische austreiben und man verlangte nun von ihnen, Chinesen zu sein. Das Ausmaß des Terrors, mit dem dies unter der KMT-Diktatur und jahrzehntelangem Kriegsrecht durchgesetzt werden sollte, ist bis heute nicht vollständig aufgearbeitet. Vom Ende der japanischen Kolonisierung hatten sich die Taiwaner Befreiung erhofft, doch stattdessen gerieten sie unter eine neue Fremdherrschaft, kamen sozusagen vom Regen in die Traufe.

All das hat in den Taiwanern einen tiefsitzenden Widerstandsgeist erzeugt, der sie dazu befähigte, schließlich die Demokratie zu erkämpfen, um sie dann immer weiter zu festigen und auszubauen. Nachdem sie fast zwei Jahrhunderte lang in unterschiedliche nationale Identitäten gepresst wurden, ermöglicht es ihnen nur die Demokratie, endlich selbst zu entscheiden, wer und was sie sein wollen. Und das heißt für die überwältigende Mehrheit von ihnen heute: nichts anderes als Taiwaner.

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Befreiung von der Furcht

Der Botschafter, der offiziell keiner sein darf, hat noch einen Rat an die Deutschen:  Sie sollten nicht in Angst vor einem Zerwürfnis mit China erstarren, als wäre das der Weltuntergang. Ganz in der Tradition der deutschen Klassik ist Jhy-Wey Shieh überzeugt, dass die Kraft des Ideellen materielle Zwänge und die scheinbare Übermacht der Gewaltherrschaft überwinden kann. „In Friedrich Schillers ´Wilhelm Tell´“, sagt er, „ruft Tells Sohn seinem Großvater, der den Landvogt Gessler um Gnade anfleht, zu: ´Großvater, knie nicht vor dem falschen Mann!´ Ich bin überzeugt davon: In dem Augenblick, da man sich entschlossen hat, nicht in die Knie zu gehen, hat man eigentlich schon die Oberhand gewonnen.“

Das hätte auch ein Ukrainer oder eine Ukrainerin sagen können, deren Widerstand gegen die russische Invasion noch Anfang vergangenen Jahres kaum ein westlicher Experte Erfolgsaussichten eingeräumt hatte. Das Wissen darum, dass der erste Schritt in die Freiheit die Befreiung von der Furcht ist, macht eine essenzielle Gemeinsamkeit aus, die Taiwan und die Ukraine verbindet. Daran sollten sich alle, die ihre eigene demokratische Lebensweise verteidigen wollen, ein Beispiel nehmen.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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