Wenn „Frieden“ zu einem gefährlichen Wort wird

Die Überzeugung, dass nichts wichtiger sei als der Frieden, hat in Deutschland den Rang eines unantastbaren Glaubensbekenntnisses. Und so viel ist daran ja auch wahr: Kein vernünftiger Mensch würde sich jemals Krieg wünschen, und alles zu tun, um den Frieden zu erhalten, ist ein grundlegender Imperativ der demokratischen Zivilisation. Demgemäß basiert die Gemeinschaft der europäischen Demokratien auf der Maxime, dass die Anwendung kriegerischer Gewalt kein Mittel der Konfliktlösung sein darf. Speziell in Deutschland mit seiner verheerenden kriegerischen Vergangenheit ist die heutige hohe Wertschätzung des Friedens zweifelsohne eine kostbare Errungenschaft.  

Doch gerade, weil das Wort „Frieden“ bei allen Menschen guten Willens einen solch unbestritten positiven Klang hat, eignet es sich wie kaum ein anderes für den propagandistischen Missbrauch durch Kräfte, die ganz anderes im Sinne haben als die gewaltfreie Regelung der menschlichen Verhältnisse. „Krieg ist Frieden“, lautet eine der Leitsätze des totalitären Systems, das George Orwell in seinem Roman „1984“ beschrieben hat. Orwells Beobachtung, dass der totalitären Gleichschaltung die rhetorische Aneignung hoher humanitärer Ideale und die Umkehrung ihrer Bedeutung ins Gegenteil vorausgehen, gehört zu den tiefsten Einsichten in die Abgründe des 20. Jahrhunderts.

Gerade in Deutschland, das sich gerne damit rühmt, die richtigen Lehren aus seiner dunklen Vergangenheit gezogen zu haben, scheint diese Erkenntnis jedoch kaum noch präsent. Nur wenige erinnern sich daran, dass sich die Nationalsozialisten in den ersten Jahren ihrer Herrschaft als inbrünstige Verteidiger des Weltfriedens ausgaben, um die westliche Öffentlichkeit über ihre wahren Absichten zu täuschen.

Goebbels gab den Friedensfreund

„Käme ein Krieg, er wäre das größte Unglück für die Welt“, heuchelte Propagandaminister Joseph Goebbels 1933 mit tief besorgter Miene in die Kamera, „und wie er ausgehen mag – sowohl die Sieger als die Besiegten würden nur schwerstes Unglück und Not dadurch ernten können.“ Mit dieser verlogenen „Friedens“-Rhetorik gelang es der NS-Propaganda, den Westen derartig einzulullen, dass er auf rechtzeitige Aufrüstung verzichtete und Hitler die „friedliche“ Annexion Österreichs, des Sudetenlandes und schließlich des übrigen tschechischen Gebiets ungestraft durchgehen ließ. Persönlichkeiten wie Winston Churchill, die früh vor fatalen Illusionen in Hitlers vermeintliche Friedensbereitschaft warnten, wurden von der NS-Propaganda als „Kriegshetzer“ denunziert. Die verständliche Sehnsucht der westlichen Demokratien nach Erhaltung des Friedens führte zur Verleugnung und damit zur Vergrößerung der realen Kriegsgefahr.

Noch konsequenter als das NS-Regime machte der sowjetische Totalitarismus den Ruf nach „Frieden“ zum Kernstück seiner ideologischen Vernebelungsstrategie. Ob es der Pakt mit Hitler 1939 mit der daraus folgende Annexion Ostpolens und des Baltikums oder ob es die Niederschlagung der Aufstände in Ungarn 1956 und Prag 1968 sowie der Bau der Berliner Mauer 1961 war – stets gaben die kommunistischen Führer ihre Gewaltpolitik als „Friedenssicherung“ gegen die vermeintlichen finsteren Kriegsabsichten des westlichen „Imperialismus“ aus.

Während des Kalten Kriegs initiierten und steuerten die Kommunisten in der westlichen Welt „Friedensbewegungen“, um die Verteidigungsbereitschaft der Demokratien zu unterminieren. Gewiss waren damals bei weitem nicht alle Friedensdemonstranten Anhänger oder Sympathisanten des Sowjetregimes. Doch weil ihnen der demagogische Charakter der kommunistischen Friedensrhetorik nicht bewusst war, durchschauten viele von ihnen nicht, dass ihre guten Absichten für Propagandazwecke missbraucht wurden. Auch die deutsche Entspannungspolitik der 1970er und 1980er Jahre tappte zunehmend in diese Falle. So fixiert war sie darauf, im Interesse der Friedenssicherung den Status Quo in Europa zu bewahren, dass führenden Köpfen dieser Annäherungspolitik wie Egon Bahr die Erhebung der Solidarnosc gegen die kommunistische Diktatur in Polen schließlich als Gefahr für den Weltfrieden erschien.

Ermutigung des Aggressors

Leider aber sind diese Zusammenhänge einem Großteil der deutschen Öffentlichkeit insgesamt nicht ausreichend bewusst. So spekulieren Propagandisten Putins und Anhänger einer Beschwichtigungspolitik gegenüber dem neuen Kreml-Autoritarismus nicht ohne Erfolg auf diffuse Kriegsängste und pazifistische Reflexe in weiten Teilen der Bevölkerung. Demagogisch machen sie die angeblich zu harte Haltung des Westens für die Verschlechterung der Beziehungen zu Moskau verantwortlich und warnen davor, einen „Krieg zu provozieren“ – als sei es nicht Putins Russland, das ihn in der Ukraine und in anderen Teilen der Welt schon längst mit äußerster Brutalität führt.

Von diesem verzerrten Friedensbegriff ist auch die aktuelle deutsche Politik gegenüber der Ukraine affiziert. Um zu einer Friedenlösung im Donbass zu kommen, setzt Berlin die ukrainische Regierung zunehmend unter Druck, sich der sogenannten „Steinmeier-Formel“ zu beugen, die in der Konsequenz Moskau die dauerhafte Kontrolle über die von ihm besetzten Gebiete in der Ostukraine sichern würde. Und unter der Maßgabe, den Frieden nicht zusätzlich zu gefähren, gilt die Lieferung von Defensivwaffen an die Ukraine – und schon gar ihre Aufnahme in die Nato – in der deutschen Poltik parteiübergreifend als ein striktes Tabu. (Eine tendenzielle Ausnahme stellen dabei lediglich die Grünen dar.) Darin kommt eine unterschwellige Äquidistanzhaltung zum Ausdruck, die den Unterschied zwischen Aggressor und Aggressionsopfer verwischt. Wer einen falsch verstandenen Begriff von Frieden verabsolutiert, sichert diesen nicht, sondern läuft Gefahr, Aggression zu belohnen und kriegerische Mächte zu weiteren gewaltsamen Übergriffen zu ermutigen.

Angesichts des gewaltsamen Bruchs der europäischen Friedensordnung durch Putins Russland an diese Zusammenhänge zu erinnern, heißt nicht, den russischen Staatschef mit Hitler oder Stalin gleichzusetzen. Geschichte wiederholt sich nie in derselben Weise. Doch die historische Lehre, dass Gutgläubigkeit und Nachgiebigkeit gegenüber Aggressoren die Gefahr eines Krieges nicht vermindert, sondern im Gegenteil erhöht, bleibt auch unter den heutigen veränderten Umständen unvermindert gültig.

Religion des Friedens?

Auch andere antidemokratische Ideologien nutzen bevorzugt die Strahlkraft des Schlagworts „Frieden“, um ihre aggressiven Ziele zu tarnen. So verbreiten radikale muslimische Organisationen mit Vorliebe die Parole, der Islam sei eine „Religion des Friedens“. Sie versuchen damit den Eindruck zu erwecken, islamistische Gewalttaten hätten mit ihnen und den authentischen Inhalten ihres Glaubens nichts zu tun. In Deutschland führt dies dazu, dass Organisationen, die den Muslimbrüdern oder anderen extremistischen Kräften des politischen Islam nahestehen, von der Regierung als Kooperationspartner bei der „Integration“ muslimischer Bürger anerkannt werden – obwohl diese Gruppierungen in Wahrheit langfristig die Unterwerfung der westlichen Gesellschaften unter einen totalitär ausgelegten Islam anstreben.

Wem die Doppeldeutigkeit des Rufs nach „Frieden“ nicht bewusst ist, der droht auf Gewaltideologen hereinzufallen, die ihn allein zum Zweck der Täuschung im Munde führen. Den Frieden tatsächlich verteidigen kann nur, wer allen Feinden von Demokratie und Menschenrechten mit Konsequenz und  Stärke entgegentritt.

Der Text ist die überarbeitete und erweiterte Fassung einer Kolumne, die zuerst auf ukrainisch hier und auf deutsch hier erschienen ist.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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