Gerade Deutschland muss der Ukraine Waffen liefern!

Die Bundesegierung weigert sich nicht zuletzt mit dem Verweis auf die deutsche Geschichte, der Ukraine Waffen zu ihrer Verteidigung zu liefern. Gemeint ist damit offenbar, dass Deutschland angesichts der Verbrechen des Nationalsozialismus, und namentlich des völkermörderischen deutschen Wütens in der Sowjetunion, zu besonderer Zurückhaltung auf militärischem Gebiet verpflichtet sei.

Doch dieses Argument dokumentiert in Wahrheit nur die Geschichtvergessenheit der deutschen politischen Elite, statt dass es von einem wirklichen Verantwortungsbewusstsein im Umgang mit der NS-Vergangenheit zeugen würde. Denn wenn es eine Lehre aus der Ausbreitung von Faschismus und Nationalsozialismus mit all ihren vernichtenden Konsequenzen im vergangenen Jahrhundert gibt, dann lautet sie, dass Demokratien bewaffnet und verteidigungsbereit sein müssen, um sich rechtzeitig gegen die Aggression autoritärer und totalitärer Mächte zu Wehr setzen zu können. Und dass es die Pflicht der großen Demokratien ist – wenn sie schon nicht direkt intervenieren -, schwächeren Nationen die militärische Ausstattung zukommen zu lassen, die es ihnen ermöglicht, ihre Freiheit und Unabhängigkeit zu verteidigen. Wenn Deutschland diese Unterstützung nun ausgerechnet einem eng befreundeten demokratischen Staat in der europäischen Nachbarschaft verweigert, handelt es nicht dem moralischen Imperativ gemäß, dem es sich aufgrund seiner NS-Vergangenheit angeblich verpflichtet fühlt, sondern verkehrt diesen geradewegs in sein Gegenteil.

Denn das Versäumnis, rechtzeitig aufzurüsten und potenzielle Opfer der totalitären Aggression militärisch zu unterstützen, war ein Hauptmerkmal jener verhängnisvollen Appeasement-Politik, die Hitler die Bahn für seinen Eroberungs- und Vernichtungskrieg frei machte. Zu den schwersten historischen Fehlern der Westmächte in den 1930er Jahren gehörte es, dass sie gegenüber der bedrohten Spanischen Republik eine Politik der „Nichteinmischung“ betrieben und ein Waffenembargo verhängten, das in erster Linie die demokratisch gewählte Regierung in Madrid traf. Sie ebneten damit Franco den Weg zum Sieg im Bürgerkrieg von 1936 bis 1939 und ermöglichten es NS-Deutschland, an der Seite des Caudillos einen mörderischen Testlauf für den großen Krieg ab 1939 durchzuführen. Vor der Niederlage der repubikanischen Kräfte hatten sie diese zudem in die Abhängigkeit von der Sowjetunion getrieben, die mit Waffenlieferungen und der Entsendung von Militärpersonal (sowie von jeder Menge Geheimdienstagenten, die Linksabweichler verfolgten) in die Lücke stieß, die sich durch die westliche Abstinenz aufgetan hatte.

Falsche Lehren aus der Geschichte

Neben der Preisgabe der Tschechoslowakei stellte das Heraushalten des Westens aus dem Spanischen Bürgerkrieg eines der entscheidenden Signale an Hitler dar, die ihn davon überzeugten, dass er von den westlichen Demokratien keine ernsthafte Gegenwehr zu erwarten habe. Hätten die USA unter Franklin D. Roosevelt diesen verhängnisvollen Neutralitätskurs auch nach 1939 fortgesetzt und Großbritannien in den Jahren 1940/41, als es allein gegen Hitler stand, nicht massiv mit Waffen und anderen Hilfsgütern beliefert, hätte dieses seinen Widerstand gegen die NS-Kriegsmaschinerie nicht so lange durchhalten können, bis die Vereinigten Staaten schließlich selbst in den Krieg eintraten. Dasselbe gilt übrigens auch für die Rote Armee, die den deutschen Invasoren ohne die umfassende Lieferung von Kriegsmaterial und Lebensmitteln durch die USA seit Ende 1941 kaum hätte standhalten können. Dabei musste Roosevelt diese Hilfsleistungen gegen eine in der US-Öffentlichkeit dominante isolationistische und abstentionistische Stimmung durchsetzen. Ohne Roosevelts Entschlossenheit und den von ihm in die Wege geleiteten Waffenlieferungen aus den USA, hätte Hitlerdeutschland mit hoher Wahrscheinlichkeit den Krieg gewonnen. Kurz: Auf die Waffen kam es an, Es ist schon seltsam, dass gerade die Kräfte, die sich hierzulande am vehementesten auf den Antifaschismus berufen, diese historische Erkenntnis nicht wahrhaben wollen.

Heute aber ist Deutschland eine der größten und stärksten Demokratien der Welt, und es obliegt nun ihm, in die historischen Fußstapfen der USA zu Zeiten Roosevelts zu treten. Es ist jetzt selbst eines der mächtigen demokratischen Staaten, von denen sich schwächere Nationen Schutz erhoffen. Das festzustellen bedeutet übrigens in keiner Weise, Putin auf eine Stufe mit Hitler zu stellen und die Dimension des NS-Vernichtungskrieg mit dem Gewaltpotenzial von Putins Neo-Imperialismus gleichzsetzen. Doch den ukrainischen Zivilisten, die demnächst Opfer verheerender Bombardements nach dem Muster des Vorgehens der russischen Luftwaffe in Syrien werden könnten, weil ihrem Land adäquate Luftabwehrsysteme fehlen, dürfte dieser historische Unterschied für den Augenblick ziemlich egal sein.

Es mag ehrenwert klingen, wenn sich die deutsche Politik in Erinnerung an die sowjetischen Opfer des deutschen Überfalls gerade gegenüber Russland zu besonderer Zurückhaltung in militärischen Dingen angehalten sieht. Sie übergeht dabei jedoch großzügig, dass die Sowjetunion eben nicht nur aus Russland bestand. Vielmehr waren die Ukraine und Belarus die beiden Nationen innerhalb des Sowjetstaats, die unter der NS-Besatzung bei weitem am meisten zu leiden und die mit Abstand meisten Opfer zu beklagen hatte. Die Ukraine verlor etwa die Hälfte ihrer Bevölkerung, und ihr Territorium war zu einhundert Prozent der mörderischen NS-Okkupation ausgesetzt – das Russlands dagegen nur zu drei bis fünf Prozent. Nicht zum Zweck einer sinnlosen Opferaufrechnung ist es wichtig, sich dies vor Augen zu führen. Sich die Dimension von Tod und Verwüstung zu vergegenwärtig, die Deutschland einst über die Ukraine gebracht hat, unterstreicht vielmehr, wie objektiv zynisch es ist, heute ausgerechnet mit dem Hinweis auf die deutsche Geschichte Mittel zu verweigern, die ukrainische Leben schützen können. Gerade aufgrund seiner Vergangenheit ist Deutschland in besonderer Weise dazu verpflichtet, alles zu tun, um neues grauenvolles Unheil von der Ukraine abzuwenden. Und das bedeutet eben nicht zuletzt, ihre Verteidigungs- und Abschreckungskraft effektiv zu stärken.

Wofür die Ukraine Waffen braucht

Dabei schlägt die deutsche eherne Maxime, keine Waffen „in Krisengebiete“ zu liefern, im Falle der Ukraine in empörenden Widersinn um. Denn die Ukraine ist in keiner Weise verantwortlich für den Ausbruch jener „Krise“, die Berlin jetzt als Vorwand dafür dient, ihr Hilfe zu verweigern. Verursacher und Betreiber dieser „Krise“ ist vielmehr alleine der Aggressor Russland. Folgt man der der deutschen Rüstungsexportlogik in die letzte Konsequenz, bräuchte ein Aggressor nur eine bewaffnete „Krise“ vom Zaun brechen und ein Land mit einer Invasion bedrohen, um eine Belieferung seines Opfers mit Waffen zu seiner Verteidigung unmöglich zu machen. Vollends verlogen wird die Weigerung Berlins, der Ukraine Waffen zur Verfügung zu stellen, wenn man bedenkt, dass Deutschland zu den größten Rüstungsexporteuren der Welt gehört und keine Hemmungen zeigt, sein Kriegsgerät selbst an finsterste Autokratien zu verkaufen. Zudem hat es durchaus auch bereits Ausnahmen von dem deutschen „Keine-Waffen-in Krisengebiete“-Dogma gegeben. So hat die Bundesregierung die kurdischen Peschmerga in ihrem Krieg gegen den IS vollkommen zu Recht mit umfangreichem Kriegsgerät unterstützt. Warum aber enthält sie der akut in ihrer Freiheit und Unabhängigkeit bedrohten Ukraine vor, was sie den kurdischen Freiheitskämpfern gewährte?

Gewiss dürfte niemandem wohl bei dem Gedanken sein, dass möglicherweise russische Soldaten durch deutsche Waffen getötet werden könnten. Doch die Verantwortung dafür, dass dies Realität werden könnte, liegt allein bei dem Regime Wladimir Putins. Weder Deutschland noch der gesamte demokratischen Westen haben die geringste Absicht oder irgendein Interesse daran, Krieg gegen Russland zu führen oder es mit Krieg zu bedrohen. Im Gegenteil: Kaum etwas wünscht man sich in den westlichen Demokratien sehnlicher, als Russland irgendwann endlich im Kreis der gleichberechtigten, friedlich und konstruktiv mit seinen Nachbarn kooperierenden demokratischen Nationen begrüßen zu können. Westliche Waffen, die an die Ukraine geliefert werden, dienen ausschließlich dem Zweck, den Angriff des vom Putinismus beherrschten Russland auf das Land und sein Recht auf demokratische Souveränität abzuschrecken oder abzuwehren. Verzichtet Putin auf die Aggression gegen die Ukraine, werden diese Waffen niemals zum Einsatz kommen. Er allein hat es in der Hand, die Opfer zu vermeiden, die seine verschärfte kriegerische Aggression kosten würde – und zwar auch die russischen.

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Putins Krieg: Erst die Ukraine, dann der ganze Westen

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

1 Kommentar

  • Wieder ein ausgezeichneter Artikel. Ich glaube, die Tatsache, daß Deutschland 2008 der Ukraine und Georgien den Nato-Beitritt verweigert hat sowie ihr wiederholt Waffenlieferung verweigert, deutet auf gewisse mentale Defizite Deutschlands hin. Nämlich, daß es das Recht anderer Nationen auf Selbstbestimmung nicht respektiert, zumindest das der Ukraine und Georgiens. Ich halte es daher auch für nicht ausgemacht, daß Deutschland einem nun wahrscheinlicher werdenden Antrag Finnlands oder Schwedens zustimmen würde. Das ist möglicherweise auch eine Sorge der USA. Ich würde ein Fragezeichen machen hinter einer Charakterisierung Deutschlands als starke Demokratie. Denn das Recht auf Selbstbestimmung ist ein zentrales, unveräusserliches und universelles Recht, das jede starke Demokratie uneingeschränkt für Anderen zugestehen muss, aus innerer Überzeugung.. Deutschland tut dies jedoch nicht, wie der USA-Experte Stephan-Götz Richter in einem Interview mit t-online meint („Scholz wirkt auf Biden wie ein Naivling“, 07.02.2022).

    Zusammen mit dem Veto gegen einen NATO-Beitritt läuft die Verweigerung von Waffenlieferung laut Experten Heribert Münkler „auf die Billigung ihres Status als Einflussgebiet Russlands hinaus“ (zeit.de „Deutsche Sonderwege“, 29.01.2022). Was wiederum auf den mangelnden bis fehlenden Respekt Deutschlands für das Recht auf Selbstbestimmung anderer Nationen verweist. Nach Friedrich Oertel ist das „mangelnde Gefühl für die ‚liberalitas’ des von innen her souveränen Menschen“ (Friedrich Oertel, Brief an Thomas Mann v. 16. Februar 1947) ein bleibendes Element des deutschen Nationalcharakters, das -übertragen auf die deutsche Sicht auf das Selbstbestimmungsrecht anderer Nationen- möglicherweise das deutsche mentale Defizit erklären hilft.

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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