Warum Israels Platz an der Seite der Ukraine ist

Die Islamische Republik Iran beliefert Russland mit Kamikazedrohnen und Raketen für seinen Ausrottungsfeldzug gegen die Ukraine. Damit ist offenbar geworden, dass Mokau und Teheran eine symbiotische Kriegsallianz bilden – und Israel und die Ukraine somit einem gemeinsamen Feind gegenüberstehen, der es auf Vernichtung abgesehen hat: Russland auf die der Ukraine, der Iran auf die Israels. Klar ist damit auch, dass alles, was Russland schwächt, zugleich seinen engen Verbündeten Iran schwächt. Dennoch tut sich Jerusalem weiterhin schwer damit, daraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen und Kyjiw mit dringend benötigten Waffen zu beliefern.

Mit dem bevostehende Regierungswechsel in Israel infolge des Wahlsiegs von Ex-Premier Benjamin Netanjahu ist nun sogar die zuletzt deutlich voranschreitende Annäherung zwischen dem jüdischen Staat und der durch den russischen Aggressor in ihrer Existenz bedrohten Ukraine in Frage gestellt. Netanjahu hatte während seiner Amtszeit intensive Beziehungen zu Wladimir Putin gepflegt, die zum Teil weit über das durch machtpolitischen Pragmatismus gebotene Maß hinausging. So wurde Putin bei seinem Besuch in Israel anlässlich seiner Rede zum Holocaust-Gedenktag 2020 in der Gedenkstätte Jad Vashem von Netanjahu als bevorzugter, privilegierter Staatsgast hofiert und belobigt. Gleichsam mit den Weihen des israelischen Regierungschefs durfte der Kreml-Herrscher in Jad Vashem unwidersprochen seine geschichtsrevisionistische Legende von der vermeintlich makellos antinazistischen Sowjetunion ausbreiten und das heutige Russland als den legitimen Erben dieser Tradition anpreisen.

Netanjahu pflegte sich seines guten Drahts zu Putin sogar regelrecht zu rühmen. Wie er sich angesichts des russischen genozidalen Kriegs gegen die Ukraine jetzt, als wahrscheinlicher neuer Regierungschef, gegenüber Moskau positionieren wird, ist unklar. Kein gutes Zeichen ist jedenfalls. dass ihm seine langjährige Putin-Nähe bei seiner Wählerschaft nicht geschadet zu haben scheint. Andererseits ist nur schwer vorstellbat, wie Netanjahu freundliche Beziehungen zu einer Macht aufrechterhalten will, die mit Israels schlimmstem Todfeind im engsten Bunde steht. Zu Recht hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kürzlich darauf hingewiesen, dass Russland dem iranischen Regime im Gegenzug für dessen Unterstützung seines Terrorkriegs in der Ukraine bei der Entwicklung von Atomwaffen behilflich sein dürfte.

Wütender Kreml

Dabei haben sich die ukrainisch-israelischen Beziehungen jüngst deutlich intensiviert. Vorvergangene Woche gab Präsident Selenskyj die Aufnahme von geheimdienstlicher Kooperation zwischen beiden Ländern bekannt. Er sei zufrieden mit dieser Entwicklung und sehe „Schritte nach vorne“, erwartet aber laut „Jerusalem Post“ noch mehr Zusammenarbeit, „weil Israel ein Staat ist, der im Detail weiß, was Krieg und Tragödie sind, und weil die israelische Gesellschaft die Ukrainer voll und ganz unterstützt.“ Er wünsche sich, dass sich die Beziehungen zwischen den Regierungen in Jerusalem und Kyjiw ebenso warmherzig gestalten wie die zwischen ihren Gesellschaften.

Konkret geht es um von der Ukraine mit großer Dringlichkeit erbetene israelische Waffenlieferungen, die ihr Jerusalem bisher verweigert. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba hat kürzlich eine formelle Anfrage an Jerusalem nach Raketenabwehrsystemen gerichtet und diese in einem Telefonat mit Premierminister Yair Lapid wiederholt. Israels Verteidigungsminister Benny Gantz aber genehmigte nur die Bereitstellung von Frühwarnsystemen vor Raketenangriffen, nicht aber die von Abwehrwaffen.

Bereits das hat wütende Reaktionen und wüste Drohungen vonseiten des Kreml hervorgerufen. So gab einer von Putins fanatischsten Hasspredigern, der Ex-Präsident Dimitri Medwedew, Israel auf extrem aggressive Weise zu verstehen, Waffenlieferungen an die Ukraine würden „alle zwischenstaatlichen Beziehungen zwischen unseren Ländern zerstören“ . Von derartigen Drohungen hat sich Israel doch aber noch nie einschüchtern lassen – warum sollte es jetzt damit anfangen? Sie sollten den israelischen Sicherheitspolitikern vielmehr dahin gehend zu denken geben, was solche „zwischenstaatliche Beziehungen“, die auf derart herrisch-erpresserische Weise zur Disposition gestellt werden, eigentlich überhaupt wert sind.

Gewachsene Rolle Israels

Die bisherige israelische Zurückhaltung hat indes zwei Gründe: einen prinzipiellen und einen taktischen. Schon immer ist die Außenpolitik des jüdischen Staats dem Grundsatz gefolgt, sich aus globalen Konflikten herauszuhalten, die nicht unmittelbar die eigenen Sicherheitsinteressen berühren. Es ist die außenpolitische Haltung eines von Todfeinden belagerten und seit seiner Gründung in seiner Existenz bedrohten Staats, der sich gezwungen sieht, allgemeine moralische Maximen hinter die Erfordernisse seines unmittelbaren Überlebens zurückzustellen. In diesem Sinne kooperierte Israel auch mit fragwürdigen Partnern wie dem damaligen rassistischen Südafrika, um von ihm Uran für seine nukleare Bewaffnung zu erhalten – die sich dann als ultimative Überlebensgarantie für den jüdischen Staat erwiesen hat.

Doch befindet sich Israel tatsächlich noch in derselben Situation wie damals? Die Friedenvereinbarungen mit arabischen Staaten haben die Akzeptanz des jüdischen Staats im Nahen Osten deutlich erhöht und seine Sicherheitslage erheblich verbessert. Sogar mit dem in weiten Teilen von der Hisbollah dominierten Libanon hat Jerusalem kürzlich ein historisches Abkommen zur gemeinsamen Förderung der Gasvorkommen vor der Küste beider Länder geschlossen. Die herausragende Bedeutung Israels für die Zukunftsentwicklung des Nahen Ostens wird in der gesamten Region zunehmend anerkant. Vor diesem Hintergrund könnte es sich Israel durchaus leisten, sich selbstbewusst auch in weltpolitischen Grundsatzfragen stärker zu Wort zu melden, die nicht unmittelbar – aber sehr wohl langfristig – seine Sicherheitsinteressen tangieren.

Akut existenziell bedroht wird Israel einzig noch von der Islamischen Republik Iran sowie ihren Vasallen und Stellvetretertruppen in der Region. Dies ist, nicht nur wegen der nuklaren Ambitionen Teherans, allerdings eine enorme Bedrohung. Umso widersinniger wäre es da, wenn sich Israel dauerhaft an das Wohlwollen ausgerechnet jener Macht binden sollte, die als mächtigster Unterstützer und Protektor des Iran und seines eliminatorisch antisemitischen Regimes agiert.

Der primäre taktische Grund für Israels Zurückhaltung gegenüber der Ukraine ist, dass es unter allen Umständen eine direkte Konfrontation mit Russland auf dem syrischen Schlachtfeld vermeiden will. Mit dem Kreml hat Jerusalem einen Konflikvermeidungsmechanismus ausgehandelt, der es der israelischen Luftwaffe ermöglicht, iranische Ziele in Syrien anzugreifen, ohne mit der dortigen massiven russischen Militärpräsenz ins Gehege zu kommen. Doch mit dem faktischen Kriegseintritts des Iran auf russischer Seite stellt sich verstärkt die Frage, wie verlässlich derartige Zusagen des mittlerweile wild um sich schlagenden Aggressorstaats Russland noch sind.

Kreml-Antisemitismus

Putins früher gerne zur Schau gestellte Judenfreundlichkeit sollte man jedenfalls auf keinen Fall als Garantie dafür nehmen, dass sie auf Dauer eingehalten werden. Die antisemitischen Ausfälle seines außenpolitischen Kettenhunds Lawrow haben unlängst den wahren judenfeindlichen Kern des putinistischen Regimes und seiner Ideologie offenbart. Und nach Festsellung der Europäischen Agentur für Grundrechte hat der russische Angriffskrieg die Verbreitung des Antisemitismus in Europa weiter angeheizt. Die Propagandisten und Desinformationskrieger des Kreml sind eifrig dabei, ihn zu schüren.

Überdies: Hat Israel wirklich Grund, sich allzu sehr vor potenziellen russischen Angriffen an der syrischen Front zu fürchten? Russland hat in den vergangenen Monaten einen Großteil seiner militärischen Kräfte aus Syrien abgezogen, und angesichts fortgesetzter erheblicher Verluste in der Ukraine dorthin verlegt. In dieser Situation ist nur schwer vorstellbar, dass sich Moskau auf einen offenen kriegerischen Konflikt mit Israel einlassen würde. Zumal die militärischen Erfolge der Ukraine den Mythos von der überwältigenden Schlagkraft der russischen Armee massiv erschüttert hat. Da darf man davon ausgehen, dass es auch die – weitaus besser als die Ukraine ausgerüsteten – israelischen Streitkräfte mit Putins Truppen aufnehmen könnten. Und zu guter Letzt: Israel als Atommacht kann vom Kreml nicht ohne weiteres mittels nuklearer Drohungen erpresst werden.

Der jüdische Staat steht nun vor einer strategischen Grundsatzentscheidung: Soll er an seiner Taktik festhalten, Konflikten mit Russland möglichst aus dem Weg zu gehen – und sich damit tendenziell von Moskaus Willkür abhängig machen? Oder soll er der Zerstörung der globalen Ordnung und des internationalen Rechts durch den Terrorstaat Russland sowie dem russischen Vorherrschaftsstreben im Nahen Osten offensiv entgegentreten? Die Antwort dürfte nach Abwägung aller Faktoren klar sein. Es gilt, was Israels Diasporaminister Nachmann Schai vor einigen Wochen anlässlich der Waffenlieferungen Irans an Russland getwittert hat: „Die Zweifel darüber, wo Israel in diesem blutigen Konflikt stehen sollte, sind vorbei. Es gibt keinen Platz mehr für Selbstgerechtigkeit. Es ist an der Zeit, dass wir der Ukraine militärische Hilfe leisten, wie es die USA und die NATO tun.“

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

3 Kommentare

  • Zuerst vielen Dank für Ihren Beitrag in der NZZ vom Samstag. Ich bewahre ihn auf. Und um an Ihr Mail zu kommen habe den obigen Beitrag“Israels Platz“ gelesen. Meinen zweiten grossen Dank.

  • Es mag Gründe geben, warum der sich als Politologe aufspielende Literaturexperte Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien, Spanien, Ungarn scheinbar nicht schätzt, aber die USA, GB, Ukraine usw. besonders liebt. Diese Gründe sollten aber besser geheim bleiben.

    • Ach ja? Welches dunkles Geheimnis mag wohl dahinter stecken? Dass ich von der CIA, der Atlantikbrücke, den Bilderbergern, den Weisen von Zion und/oder anderen finsteren Verschwörungsmächten bezahlt werde? Schön wär´s!

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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