Dr. Mabuse lebt. Oder: Wie das Verbrechen die Macht ergreift

Heutige autokratische Systeme atmen den Ungeist der legendären Filmfigur aus Fritz Langs Kinoklassiker. Dr. Mabuses Wahnsinn hat Methode: Es droht die Weltherrschaft des Verbrechens.

Dr. Mabuse ist eine fiktionale Figur. Seine literarische Existenz verdankt er einem weitgehend vergessenen Schriftsteller, zu epochalem Ruhm gelangte sein Name jedoch mit der Verfilmung des Romanstoffs durch den bedeutenden österreichisch-deutschen Regisseur Fritz Lang. Dessen 1933 fertiggestellter Kinoklassiker „Das Testament des Dr. Mabuse“, den das soeben an die Macht gelangten NS-Regime umgehend verbieten ließ, machte das wahnsinnige Verbrechergenie zu einer ikonografischen Gestalt des 20. Jahrhunderts.

Heute könnte man jedoch fast glauben, Dr. Mabuse habe die Scheinwelt der bewegten Bilder verlassen und greife als realgeschichtlicher Akteur in die Gegenwart ein. Denn der Verwirklichung seiner Vision, der Weltherrschaft des Verbrechens, sind wir aktuell bedrohlich nahe gerückt.

In Fritz Langs legendärem Kriminalfilm ist Dr. Mabuse Insasse einer Irrenanstalt, wo er wie besessen Pläne für die monströsesten und abwegigsten Verbrechen niederschreibt. Ein geheimnisvolles Netzwerk von Kriminellen führt die von ihm erdachten Untaten aus. Dabei sollen nach Mabuses Willen diese Verbrechen der Öffentlichkeit derartig sinnlos und willkürlich erscheinen, dass niemand ihren Urheber und dessen dahinter steckenden Plan erahnt. Als die Polizei Mabuse dennoch auf die Spur kommt, muss sie feststellen, dass er plötzlich gestorben ist. Die unheimliche Verbrechenswelle aber geht auch ohne ihn weiter. Es stellt sich heraus, dass der kriminelle Ungeist Mabuses auf den Direktor der psychiatrischen Klinik übergegangen ist, in der er als Patient einsaß. Der Mann, der den irren Mabuse heilen sollte, führt jetzt selbst dessen zerstörerisches Vermächtnis fort.

Putins Mafia-Staat hat das Verbrechen institutionalisiert

In den neuen Formen autoritärer Herrschaft ist das „Prinzip Mabuse“ heute auf unheimliche Weise präsent. Allen voran geht dabei Putins Mafia-Staat. In ihm sind die – geheimdienstlich gesteuerten ­ – staatlichen Institutionen und die organisierte Kriminalität zu einer symbiotischen Einheit verschmolzen. Die Verbrechen, die diese neuartige Struktur begeht, erscheinen nicht selten so dreist und unglaublich, dass die an der Zweckrationalität orientierte Logik ihnen nicht mehr folgen kann. So bezweifeln Teile der westlichen Öffentlichkeit, dass die Giftmordanschläge auf Skripal und Nawalny oder der Mord an einem tschetschenischen Dissidenten in einem öffentlichen Park mitten in Berlin tatsächlich direkt vom Kreml angeordnet worden sein könnten.

Den Skeptikern leuchtet nicht ein, welchen praktischen Nutzen solche abenteuerliche Aktionen für die russische Führung haben könnten, riskiert sie damit doch nicht zuletzt erhebliche internationale Verwicklungen. Sie begreifen nicht, dass es den Auftraggebern bei derartigen Operationen primär darum geht, die Allmacht und Allgegenwart des Verbrechens zu demonstrieren. So sollen die westlichen Gesellschaften an dessen „Normalität“  gewöhnt und ihre moralische Widerstandskraft dagegen zermürbt werden.

Gleichzeitig überschwemmen die Desinformationsapparate des Mafia-Staats die internationale Öffentlichkeit mit fiktiven Versionen der Wirklichkeit, in der systematischen Absicht, die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen Wahn und Vernunft auszulöschen. Auf welch fruchtbaren Boden dies fällt, kann man derzeit an westlichen Corona-Leugnern beobachten: Unzählige von ihnen glauben an irrwitzige Horrormärchen wie das, Bill Gates betreibe unterirdische Laboratorien, in denen Kindern das Blut abgezapft werde.

Unterdessen imitiert Donald Trump in den USA die Methode Putins, indem er die offene Missachtung der demokratischen Institutionen und das Dauerbombardement der Öffentlichkeit mit haltlosen Lügen und Erfindungen auf die Spitze treibt. Durch Trump, den nach dem Ende seiner Präsidentschaft zahlreiche Strafverfahren erwarten, ist Mabuses Idee, das Verbrechen durch seine Steigerung in die entfesselte Irrationalität zu tarnen, bis in die Chefetage der Führungsmacht der freien Welt vorgedrungen. Dass dies möglich war, bedeutet für die amerikanische Demokratie eine auch über Trumps Amtszeit hinaus bleibende Schädigung. Und mit der von Viktor Orban in Ungarn installierten Kleptokratie hat das Mabuse-Prinzip auch die EU erreicht. Wie in der Geschichte von Dr. Mabuse ist der Geist der Gesetzlosigkeit auf jene übergesprungen, die ihn bekämpfen sollten.

Ideologie bemäntelt kriminelle Bereicherung

Bei der Herausbildung kleptokratischer Autokratien spielt es längst kaum mehr eine Rolle, ob sie sich dabei ein „linkes“, „rechtes“ oder anders gefärbtes ideologisches Mäntelchen umhängen. Ob in Maduros Venezuela, in Ortegas Nicaragua, in Lukaschenkos Belarus, in Dutertes Philippinen oder in Kim Jong-uns Nordkorea – der Zweck der Bemächtigung staatlicher Gewalt durch autokratische Anführer ist die Ausplünderung der Ressourcen ihrer Länder zu ihrer persönlichen Bereicherung, an der sie die ihnen ergebenen Günstlinge im Staats-, Justiz-, und Repressionsapparat teilhaben lassen. Auch hinter der ideologischen Fassade des Islamismus verbergen sich weitgespannte kriminelle Strukturen. Seien es die Taliban, die iranischen Revolutionsgarden oder Hamas und Hisbollah – sie alle sind namhafte Player im internationalen Drogen- und Waffenhandel.

Schon in den „klassischen“ totalitären Systemen tobte sich hinter dem Schleier der Ideologie die Raffgier ihrer Nomenklatura aus. Doch Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus legten noch Wert darauf, ihrer Weltanschauung den Anstrich eines in sich geschlossenen, streng (pseudo-) wissenschaftlich begründeten Denksystems zu geben. Heutige Autokraten dagegen brechen sich aus den Ideologien beliebig jene Versatzstücke heraus, die ihnen zur Bemäntelung und Verrätselung ihrer kriminellen Ambitionen passend erscheinen. Eine Ausnahme bildet allenfalls das totalitäre China, dessen Führung sich wieder verstärkt auf die Dogmatik des Marxismus-Leninismus beruft. Mit dem Buchstaben dieser Ideologie hat die staatskapitalistische Willkürherrschaft der chinesischen Machthaber jedoch nur noch wenig zu tun. Übernommen haben sie allerdings das Kerngebot der kommunistischen Staatslehre: die totale Gleichschaltung und Überwachung der Gesellschaft.

Die verbrecherischen Aktivitäten zeitgenössischer Autokratien zielen jedoch längst nicht mehr darauf, einer verheißenen vollkommenen Welt gewaltsam zum Durchbruch zu verhelfen. Ihr tieferer Sinn liegt vielmehr darin, alle Werte und Normen zu diskreditieren und zu zerstören, die der grenzenlosen Legitimierung des Verbrechens im Wege stehen. Doktor Mabuse ist der Mann der Stunde.

Der Text ist auch auf ukrainisch als Kolumne in Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua) erschienen. Hier der Link. Bei dem deutschen Text handelt es sich um eine leicht überarbeitete und erweiterte Fassung.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

3 Kommentare

  • Per aspera ad astra? Der Artikel beschreibt das ganz gut. Das Ziel macht es notwendig, dass man die Bastionen des Rechtsstaats, die Institutionen, die Gewaltenteilung, die Rule of Law … schleift. Der ursprüngliche Dr. Mabuse Roman sah genau dies vor. Man bedient sich des Verbrauchens um eine bessere Welt zu schaffen. In der Verfilmung von Fritz Lang fällt dieser Aspekt dann unter den Teppich. Da ist Mabuse dann nur das hochintelligente Genie, der nur das Böse will, um Macht zu erlangen.
    Damit trug das Buch, nicht der Film dazu bei Gewalt zu Erlangung hehrer Ziele zu legitimieren, wenn man diese Ziele denn für erstrebenswert hielt.
    Aber im freiheitlich demokratischen Staat ist es der Weg, der die Ziele legitimiert, nicht umgekehrt. Man muss sich an die Regeln halten, halten wollen, wenn man das summum bonum communis erreichen will. Leider sind immer weniger Menschen bereit diesen Weg zu gehen. Sie beklagen sich über Politiker, die ihren Erwartungen nicht gerecht werden. Diese oftmals übersteigerte Erwartungshaltung führt zwangsläufig zu Enttäuschungen. Man träumt dann wieder von Führern, die hart auftreten und keine Rücksicht auf rechtsstaatliche Gepflogenheiten nehmen.
    Trump mag zwar die Wahl verloren haben, gleichzeitig lässt er aber keine Gelegenheit aus, die Gerichte dafür verantwortlich zu machen, die sich seinem Willen nicht beugten. Er untergräbt damit gezielt die Unabhängigkeit der Gerichte. Er, der Nichtjurist, behaupte einfach, dass der Supreme Court ein fatales Fehlurteil gefällt hätte, weil es sich seinen Wünschen nicht beugte. Und Zigmillionen Wähler glauben ihm dies. Die Gerichte haben in der Sache jedoch absolut korrekt gehandelt. Klagen, ohne Beweise wiesen zurück. So funktioniert halt nun einmal Rechtsstaat, aber nicht der „Rechts-„Staat den Trump sich wünscht. In dessen Vorstellung steht der Präsident über Recht und Gesetz.
    Jemand hat dies mal auf die schöne Formel gebracht: „Rule by Law“ statt „Rule of Law“. Die Gesetze haben um den Anschein von Willkür zu vermeiden dann nur noch den Auftrag eine Scheinlegalität zu erzeugen.. Soll ja niemand behaupten können, es hätten die Urteile keine rechtliche Grundlage.
    In Russland, der VR China und sonstigen Autokratien hat dieses Vorgehen Methode. Beunruhigend ist, dass viele das ziemlich in Ordnung finden. Mit dem Argument, man dürfe niemanden die eigenen Wertvorstellungen aufnötigen, verteidigt man diese „Rule by Law“ und stellt damit universelle Werte und Rechte in Abrede.

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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