„Friedensfreunde“ als Handlanger des Völkermords

Ausgerechnet am 3. Oktober, dem Tag der deutschen Einheit, bekundeten in Berlin Zehntausende Anhänger der Kreml-Propagandalautsprecherin Sahra Wagenknecht ihren Hass gegen die NATO, den freien Westen im Ganzen und die Ukraine und Israel im Besonderen – unter dem Deckmantel einer Demonstration „für den Frieden“. Eine von dem ukrainischen Verein Vitsche organisierte Gegenkundgebung stand unter dem treffenden Motto: „Euer Frieden ist unser Todesurteil“. Mehrere Rednerinnen und Redner brachten dort ihre Unterstützung für den ukrainischen Verteidigungskrieg sowie für die demokratischen Freiheitsbwegungen in anderen vom Aggressor Russland bedrohten Nationen wie Moldau, Georgien und Armenien zum Ausdruck.

Auch ich sprach zu den Teilnehmern der Vitsche-Kundgebung. Im folgenden der Wortlaut meiner Rede (auf Video hier zu sehen und zu hören):

Wer gegen Waffenlieferungen an die Ukraine demonstriert, tritt nicht für den Frieden ein, sondern macht sich – bewusst oder aus sträflicher Naivität – zum Handlanger des völkermörderischen Vernichtungskrieg Russlands gegen eine souveräne, friedliebende und demokratische Nation mitten in Europa.

In nie dagewesenem Ausmaß flutet das russische Regime gegenwärtig die westliche, und an vorderster Stelle die deutsche Öffentlichkeit mit Desinformation, um eine „Antikriegsstimmung“ zu erzeugen. Dahinter verbirgt sich nichts anderes als eine zynische  Täter-Opfer-Umkehr: Mithilfe von Kreml-Agenturen wie AfD und BSW soll der westlichen Öffentlichkeit weisgemacht werden, der russische Aggressor warte nur darauf, dass die Ukraine endlich die Waffen niederlegt, damit er dann sein wahres friedliebendes Gesicht zeigen könne. Gegen dieses Lügenkonstrukt gilt es festzuhalten: Niemand wünscht den Frieden mehr herbei als die Ukrainerinnen und Ukrainer, und niemand verabscheut den Krieg mehr als jene, die die Ukraine nicht wehrlos der bestialischen Vernichtungswut des russischen Terrorstaats ausliefern wollen.

Verlogene „Friedensfreunde“

Doch gerade, weil das Wort „Frieden“ bei allen Menschen guten Willens einen solch unbestritten positiven Klang hat, eignet es sich wie kaum ein anderes für den propagandistischen Missbrauch durch Kräfte, die ganz anderes im Sinne haben als die gewaltfreie Regelung der menschlichen Verhältnisse. „Krieg ist Frieden“, lautet eine der Leitsätze des totalitären Systems, das George Orwell in seinem Roman „1984“ beschrieben hat. Orwells Beobachtung, dass der totalitären Gleichschaltung die rhetorische Aneignung hoher humanitärer Ideale und die Umkehrung ihrer Bedeutung ins Gegenteil vorausgehen, gehört zu den tiefsten Einsichten in die Abgründe des 20. Jahrhunderts.

„Euer Frieden ist unser Todesurteil“: Demo für den Sieg der Ukraine am 3.10. an der Siegessäule in Berlin

Nur wenige erinnern sich daran, dass sich die Nationalsozialisten in den ersten Jahren ihrer Herrschaft als inbrünstige Verteidiger des Weltfriedens ausgaben, um die westliche Öffentlichkeit über ihre wahren Absichten zu täuschen. „Käme ein Krieg, er wäre das größte Unglück für die Welt“, heuchelte etwa Propagandaminister Joseph Goebbels 1933 mit tief besorgter Unschuldsmiene in die Kamera. Mit dieser verlogenen „Friedens“-Rhetorik gelang es der NS-Propaganda, den Westen derartig einzulullen, dass er auf rechtzeitige Aufrüstung verzichtete und Hitler die „friedliche“ Annexion Österreichs, des Sudetenlandes und schließlich des übrigen tschechischen Staatsgebiets ungestraft durchgehen ließ. Persönlichkeiten wie Winston Churchill, die früh vor fatalen Illusionen in Hitlers vermeintliche Friedensbereitschaft warnten, wurden von der NS-Propaganda als „Kriegshetzer“ denunziert. Die berechtigte Sehnsucht der westlichen Demokratien nach Erhaltung des Friedens führte zur Verleugnung und damit zur Vergrößerung der realen Kriegsgefahr.

Noch konsequenter als das NS-Regime machte der sowjetische Totalitarismus den Ruf nach „Frieden“ zum Kernstück seiner ideologischen Vernebelungsstrategie. Ob es der Pakt mit Hitler 1939 mit der daraus folgenden Annexion Ostpolens und des Baltikums oder ob es die Niederschlagung der Aufstände in Ungarn 1956 und Prag 1968 sowie der Bau der Berliner Mauer 1961 war – stets gaben die kommunistischen Führer ihre Gewaltpolitik als „Friedenssicherung“ gegen die vermeintlichen finsteren Kriegsabsichten des westlichen „Imperialismus“ aus.

Einsteins Einsicht

Während des Kalten Kriegs initiierten und steuerten die Kommunisten in der westlichen Welt „Friedensbewegungen“, um die Verteidigungsbereitschaft der Demokratien zu unterminieren. Gewiss waren damals bei weitem nicht alle Friedensdemonstranten Sympathisanten des Sowjetregimes. Doch weil ihnen der demagogische Charakter der kommunistischen Friedensrhetorik nicht bewusst war, durchschauten viele von ihnen nicht, dass ihre guten Absichten für Propagandazwecke missbraucht wurden. 

Wem die Doppelbödigkeit des Rufs nach „Frieden“ nicht bewusst ist, der droht auf Gewaltideologen hereinzufallen, die ihn allein zum Zweck der Täuschung im Munde führen. Den Frieden tatsächlich verteidigen kann nur, wer allen Feinden von Demokratie und Menschenrechten mit konsequenter Stärke entgegentritt. Und das muss heute heißen, der Ukraine sämtliche Waffen bereitzustellen, die sie benötigt, um den Aggressor von ihrem gesamten Territorium zu vertreiben. Der einzige Weg zum Frieden ist der Sieg der Ukraine!

In diesem Sinne schließe ich mit den Worten eines wahrhaften Pazifisten. Angesichts der nationalsozialistischen Barbarei erklärte Albert Einstein: „Bis 1933 habe ich mich für die Verweigerung des Militärdienstes eingesetzt. Als aber der Faschismus aufkam, erkannte ich, dass dieser Standpunkt nicht aufrechtzuerhalten war, wenn nicht die Macht der Welt in die Hände der schlimmsten Feinde der Menschheit geraten soll. Gegen organisierte Macht gibt es nur organisierte Macht; ich sehe kein anderes Mittel, so sehr ich es auch bedaure.“

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Slava Ukraini!

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

Schreiben Sie mir

Sie können mich problemlos auf allen gängigen Social-Media-Plattformen erreichen. Folgen Sie mir und verpassen Sie keinen Beitrag.

Kontakt