Kreml-Desinformationskrieg: Methode Ablenkung

Der folgende Text ist ein Auszug aus meinem Essay, der am 2.11.2022 unter dem Titel „Das Dauefeuer der Desinformation“ auf der Website der Zeitschrift Internationale Politik erschienen ist. Er befasst sich mit den Methoden des Kreml im Desinformationskrieg und ihren deutschen Multiplikatoren. Den vollständigen Essay finden Sie hier.

Je heftigere Rückschläge das russische Regime bei seinem Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine einstecken muss, desto intensiver konzentriert es sich darauf, die westlichen Gesellschaften mittels Desinformation zu unterminieren und zu spalten – um sie so von der Unterstützung für das überfallene Land abzubringen. Diese Techniken müssen in ihrer ganzen Dimension als integraler Bestandteil der kriegerischen Aggression gegen die liberalen Demokratien begriffen werden. (…)

Doch beschränkt sich der russische Desinformationskrieg keineswegs auf die Fabrikation und Verbreitung von dreisten Propagandalügen. Freie Erfindungen wie die, in der Ukraine herrschten Nazis, die russischsprachige Bürger verfolgten und ermordeten, oder die USA entwickelten in Geheimlaboren in der Ukraine Chemiewaffen, die gegen Russland eingesetzt werden sollten, werden im Westen zwar von erschreckend vielen Menschen geglaubt, nicht jedoch von der Mehrheit. Diese muss daher durch subtilere Bewusstseinsmanipulationen beeinflusst werden

Die deutsche Bandera-Obsession

Als äußerst wirksam erweist sich dabei das Anzetteln und Befeuern von Ablenkungsdebatten. Auf einer Tagung im estnischen Tallinn machten dies kürzlich der ukrainische Historiker Andrij Portnov und der deutsche Politikwissenschaftler Andreas Umland am Beispiel der in deutschen Medien massiv thematisierten Rolle des ukrainischen Nationalistenführers Stepan Bandera im Zweiten Weltkrieg deutlich. Die beiden Experten beklagten übereinstimmend, dass sie kaum eine Interviewanfrage deutscher Medien ohne das Anliegen erreicht, sie möchten zur historischen und aktuellen Bedeutung Banderas Stellung nehmen.

Bandera ist von der russischen Propaganda zum Prototypen des ukrainischen Nazi-Kollaborateurs erkoren worden, und alle Kräfte, die für eine unabhängige Ukraine einstehen, gelten in der Terminologie des Kreml als „Banderisten“. Nun stimmt es zwar, dass es in der Ukraine vielfach ein verklärtes Bild von Bandera als Verkörperung des ukrainischen Widerstands sowohl gegen die nationalsozialistischen als auch die sowjetische Besatzungsmacht gibt. In der historischen Forschung wird dagegen darüber gestritten, ob und in welchem Ausmaß von Bandera angeführte Nationalisten an antijüdischen Pogromen, wenn nicht sogar am Holocaust beteiligt waren. Gesichert scheint indes, dass er selbst in den 1930er Jahren eine autoritäre Staatsidee mit faschistischen Zügen und antisemitischer Grundierung vertreten hat.

Doch für die Bewertung des gegenwärtigen Angriffskriegs gegen die Ukraine ist die Frage nach der historischen Einordnung Banderas vollständig ohne Belang. Auch diejenigen Ukrainerinnen und Ukrainer, die zu seiner Idealisierung neigen, teilen in ihrer überwältigenden Mehrheit nicht die Ideologie, für die er stand. Alle maßgeblichen politischen Kräfte der Ukraine – in der Regierung wie in der Opposition – bekennen sich eindeutig zu den Werten der pluralistischen Demokratie. Was es mit Bandera genau auf sich hatte, wird von unabhängigen Historikern in einer freien wissenschaftlichen Auseinandersetzung näher zu klären sein. Dabei wird sich die Ukraine – wie viele andere demokratische Nationen – gewiss auch blinden Flecken in der Aufarbeitung ihrer Geschichte stellen müssen. Ihr dies aber ausgerechnet in einer Situation abzuverlangen, in der sie selbst Opfer eines brutalen Ausrottungskriegs ist, ist unanständig und zynisch.

Kollaborateure im Desinformationskrieg

Dass sich die deutsche Öffentlichkeit gleichwohl derart obsessiv und selbstgerecht mit dem einstigen ukrainischen Nationalistenführer beschäftigt, stellt aber an sich schon einen Erfolg für die Desinformationskrieger des Kremls dar. Wenn hierzulande mehr über Bandera als über Massaker wie in Butscha gesprochen wird, haben sie ein wichtiges Ziel erreicht. Die Wissenschaftler Portnov und Umland bezeichnen diese zwanghafte Fixierung auf das Thema Bandera als „toxisch“: Was immer dazu gesagt, wie differenziert auch über die Rolle Banderas in der ukrainischen Geschichte Auskunft gegeben wird – im Publikum bleibt am Ende der Eindruck hängen, die Ukraine habe irgendwie ein Faschismusproblem, das dringend der Erörterung bedürfe. Um dieser Falle zu entgehen, lehnen Portnov und Umland inzwischen Interviewanfragen ab, die sich auf Bandera beziehen. Was freilich wenig nützt: Irgendein anderer Experte, der sein tatsächliches oder angebliches Wissen über den legendären ukrainischen Nationalisten ausbreiten will, findet sich allemal.

Bestens auf die Methode der ablenkenden Desinformation verstehen sich jene prominenten Vertreter der intellektuellen Elite – oder dem, was man in Deutschland dafür hält -, die seit dem russischen Überfall auf die Ukraine nicht müde werden, von der Bundesregierung Zurückhaltung bei der Unterstützung der Ukraine mit Waffen zu fordern. In besonderer Weise profilieren sich dabei der Soziologe Harald Welzer und der fälschlich als Philosoph bezeichnete Bestsellerautor Richard David Precht. Unermüdlich haben sie in den vergangenen Monaten ihre Medienpräsenz genutzt, um Waffenlieferungen an die Ukraine in Frage zu stellen.

Nachdem sie damit nur mäßigen Erfolg hatten – die deutsche Unterstützung der Ukraine mit militärischem Gerät hat in den vergangenen Monaten deutlich zu- statt abgenommen –, haben sich Welzer und Precht nunmehr auf die Metaebene einer Fundamentalkritik der Medien verlegt und bezichtigen diese der Einseitigkeit und des Meinungskonformismus. Sie betrachten es dabei allen Ernstes als anstößig, dass sich (einer Formulierung Welzers zufolge) in Deutschland  „alle permanent aufgefordert“ fühlten, „die Perspektive der angegriffenen Ukrainerinnen und Ukrainer zu übernehmen“.

Precht und Welzer im Kreml-Sprech

Ein groteskerer Vorwurf als der mangelnder Beachtung durch die Medien aus dem Mund von Autoren, die Dauergäste in TV-Talkshows sind, und vor deren Präsenz in Funk, Fernsehen, Internet und Printmedien man sich kaum retten kann, ist kaum vorstellbar. Precht verfügt sogar über ein eigenes Gesprächsformat im ZDF. Insbesondere er wird von Medien nach wie vor als ein origineller Denker gehandelt und hofiert. Seine Kritiker halten ihn dagegen für einen narzisstischen Poseur und pseudointellektuellen Scharlatan, der sich umso extensiver zu gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Fragen einlässt, je weniger er von der Sache versteht – und haben für diese Beurteilung reichlich Evidenz auf ihrer Seite.

Selten wird aber auch von ihnen thematisiert, dass Prechts Wortmeldungen zu Russland und der Ukraine nicht bloßer Ahnungslosigkeit oder „nonkonformistischer“ Geltungssucht geschuldet sind. Vielmehr hat er sich bereits seit der Krim-Annexion und der russischen Invasion der Ostukraine 2014 konstant als eifriger Apologet des Kremls und Lautsprecher der russischen Kriegspropaganda betätigt hat, die er bis in die Formulierungen hinein identisch repliziert. Wenn er etwa gegen deutsche Waffenlieferungen den Einwand bemüht, wir „verlängerten“ damit nur den Krieg, hält er sich wortwörtlich an das Textbuch, das in Reden Putins und Lawrows vorgegeben wurde.

Statt als eine unabhängige „Meinung“ oder gar als „Expertise“, die ihn für seine Dauerpräsenz in deutschen Medien qualifizieren würde, sollten Prechts Einlassungen zu Russlands Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine in gleicher Weise bewertet werden wie entsprechende Beiträge von Russia Today oder Sputnik. Dass dies nicht geschieht, zeigt, wie unbedarft die deutsche Öffentlichkeit den Techniken der Steuerung ihrer Debatten durch die Desinformationsspezialisten des Kremls noch immer gegenübersteht.

Mehr zum russischen Desinformationskrieg: Desinformation: So steuert der Keml deutsche Debatten

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

1 Kommentar

  • „Seine Kritiker halten ihn dagegen für einen narzisstischen Poseur und pseudointellektuellen Scharlatan, der sich umso extensiver zu gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Fragen einlässt, je weniger er von der Sache versteht“
    Besten Dank, Herr Herzinger für den Beitrag, für obige Pointierung ein Extradanke.

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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