Vor 35 Jahren brach der Historiker Ernst Nolte den „Historikerstreit“ vom Zaun. Seine Kritiker sahen in seinem Bestreben, den Holocaust historisch zu „kontextualisieren“, zu Recht den massiven Versuch einer Relativierung des singulären Menschheitsverbrechens und somit deutscher historischer Schuld. Doch Noltes Hauptkontrahent Jürgen Habermas offenbarte in seiner Kritik seinerseits blinde Flecken im deutschen Nachkriegs- Geschichtsbewusstsein. Der „Historikerstreit“, der zugleich die letzte große Selbstverständigungsdebatte der alten Bundesrepublik war, zog sich über ein gutes Jahr hin. Tatsächlich aber hat er bis heute kein Ende gefunden.
Denn nicht nur haben die Bestrebungen von rechts außen, die deutsche Nationalidentität von der Bürde eines einzigartigen Verbrechens zu entlasten, massiv zugenommen. Wesentlichen Anteil daran hat der Aufstieg der AfD, deren Anführer Alexander Gauland mit seiner Äußerung, die zwölf Jahre Nationalsozialismus seien nur ein „Vogelschiss“ in einer tausendjährigen erfolgreichen deutschen Geschichte, diesbezüglich exemplarisch die Schleusen geöffnet hat. Die Singularität des Holocaust wird neuerdings auch verstärkt von links, vonseiten der „postkolonialen“ Geschichtstheorie, in Frage gestellt. Die Fixierung auf das Gedenken an den NS-Judenmord, so lautet ihr Vorwurf, gehe auf Kosten der Aufarbeitung der Verbrechen des europäischen Kolonialismus. Zuletzt polemisierte der australische „Postkolonialismus“-Historiker A. Dirk Moses gegen das Holocaust-Gedenken als eine deutsche „Gedenkreligion“ – eine Formel, die fatal an die rechtsradikale Parole vom deutschen „Schuldkult“ erinnert. Beunruhigend ist aber auch eine verstärkt zu beobachtende Tendenz zur Vereinnahmung und Instrumentalisierung der Holocaust-Erinnerung für nationalistische und neoimperiale Zwecke, wie sie vor allem in der geschichtspolitischen Propaganda des Putin-Regimes zum Ausdruck kommt.
Zu Hintergründen und Zusammenhängen des „Historikerstreits“ hier – in leicht überarbeiteter Fassung – noch einmal mein Text, der vor fünf Jahren zum 30. Jahrestag von dessen Beginn in der „Welt“ erschienen ist:
.In seinem Aufsatz mit dem Titel „Die Vergangenheit, die nicht vergehen will“, führte der Historiker Ernst Nolte seine suggestive Methode geradezu prototypisch vor. Seine Thesen, die auf nichts weniger hinausliefen als eine grundlegende Revision des Umgangs mit der NS-Vergangenheit, der sich in der Bundesrepublik durchgesetzt hatte, verkleidete er in suggestive Fragen, die den Eindruck erwecken sollten, nicht er selbst habe sie in gezielter Absicht ersonnen. Vielmehr müssten sie sich jedem ernsthaften Forscher gleichsam objektiv aufdrängen, der nicht von „volkspädagogischen“ Vorurteilen über die deutsche Schuld, sprich von der geistigen „Reeducation“ der Deutschen nach 1945 durch die West-Alliierten verblendet sei.
Die entscheidende Passus im Text von Ernst Nolte, der am 6. Juni 1986, in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ erschienen ist, lautete wie folgt: „Aber gleichwohl muss die folgende Frage als zulässig, ja unvermeidbar erscheinen: Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine ‚asiatische‘ Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer ‚asiatischen‘ Tat betrachteten? War nicht der ‚Archipel Gulag‘ ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der Klassenmord der Bolschewiki das logische und faktische Prius des Rassenmords der Nationalsozialisten?“
Nolte begnügte sich also nicht damit, in Abrede zu stellen, dass die NS-Judenvernichtung eine in der Geschichte präzedenzlose verbrecherische Dimension besaß. Dies hatte er wenige Zeilen zuvor getan, als er die Behauptung aufstellte, „mit alleiniger Ausnahme des technischen Vorgangs der Vergasung“ seien alle Gräuel, die der Nationalsozialismus verübte, bereits zuvor von anderen praktiziert worden,
Überschießende Angstreaktion?
Den entscheidenden Punkt, dass die Singularität des Holocaust keineswegs primär in der Art der Vernichtung, sondern in dem mit mörderischer Konsequenz ins Werk gesetzten Beschluss des NS-Regimes bestand, eine nach wahnhaften Rassekategorien genau definierte Menschengruppe bis auf das letzte Individuum planmäßig vom Erdboden zu tilgen, ließ Nolte hinter seinen rhetorischen Verwirrungsmanövern verschwinden. Nur so konnte er seiner Insinuation eine scheinbare Plausibilität verleihen, der Holocaust sei nicht nur nicht originär, sondern auch eine Art überschießende Angstreaktion auf vorgängige Verbrechen und somit in irgendeinem verborgenen Kern sogar begreiflich gewesen.
Noltes Thesen provozierten eine heftige Antwort des Sozialphilosophen Jürgen Habermas, die wenig später in der „Zeit“ erschien und als Auftakt dessen gilt, was als „Historikerstreit“ in die jüngste deutsche Geistesgeschichte eingegangen ist. In den Annalen wird die Dauer dieses Historikerstreits , in dem sich zahlreiche hochrangige Vertreter der Zunft in teils erbitterter Konfrontation zu Wort meldeten, auf rund ein Jahr bemessen.
Doch hat dieser Streit überhaupt je ein Ende gefunden? Trifft die Feststellung, dass die deutsche Vergangenheit nicht vergehen wolle, nicht auch auf die Frage- und Frontstellungen zu, von denen die Auseinandersetzungen über die Einordnung der NS-Vergangenheit in der alten Bundesrepublik geprägt waren? In gewandelter Form bestimmen sie nämlich bis heute die deutsche Debatte über den historischen Stellenwert des Holocausts und des Nationalsozialismus.
Habermas sah eine „Nato-Philosophie“
In seiner scharfen Replik, die nicht nur Nolte, sondern auch anderen Historikern wie Andreas Hillgruber und Klaus Hildebrand galt, konstruierte Habermas 1986 mit geübter ideologiekritischer Verve eine neokonservative Formation. Diese ziele darauf, die Deutschen von der besonderen historischen Verantwortung zu befreien, die ihnen durch die Erkenntnis der Einzigartigkeit deutscher Verbrechen auferlegt wurde. Als geistige Grundlage dieser Formation machte Habermas eigenartigerweise „eine deutsch-national eingefärbte Nato-Philosophie“ aus – als gälten realiter der deutsch-nationalen Rechten nicht gerade Institutionen wie die Nato als Manifestationen der vermeintlichen Zwangseingliederung Deutschlands in Strukturen eines von den USA kommandierten Westens.H
Die „vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens“ aber nannte Habermas in seiner Polemik „die große intellektuelle Leistung unserer Nachkriegszeit, auf die gerade meine Generation stolz sein könnte“. Den militärischen Schutz gegen den sowjetischen Totalitarismus freilich erkannte Habermas offenbar nicht als Teil dieser „Kultur“ an. Die Einsicht in die Singularität des Holocausts hingegen erschien bei ihm als unabdingbare Voraussetzung für die von ihm verteidigte Einbettung der Bundesrepublik in den Westen.
Gegen die angebliche Absicht „neokonservativer“ Historiker, eine von den dunklen Flecken der Vergangenheit gereinigte staatsoffizielle Geschichtsversion zu stiften, formulierte Habermas somit jedoch seinerseits ein verbindliches bundesrepublikanisches Geschichtsnarrativ, das mit der Anerkennung einzigartiger deutscher Schuld beginnt und mit der Kanalisation deutschen Nationalbewusstseins in einen „Verfassungspatriotismus“ endet.
Nationalapologie und Entlastung
Den Kontrahenten des Historikerstreits der Achtzigerjahre war so gemeinsam, dass sie den Holocaust primär in Bezug auf seine Bedeutung für das Selbstverständnis der Deutschen betrachteten. Habermas’ Befürchtung, Nolte und die anderen von ihm kritisierten Historiker könnten eine „nationalapologetische“ Geschichtsschreibung durchsetzen, die den Deutschen als Entlastung von der singulären Schuld des Holocaust dient, hat sich indes in der folgenden Debatte nicht bewahrheitet. Die deutsche Vereinigung 1990 hat den in den 80er-Jahren entstandenen staatspolitischen Konsens, nach dem die Ausrottung des europäischen Judentums keinem anderen Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts gleichgesetzt werden dürfe, sogar noch gefestigt.
Dieser Konsens war im Laufe des Jahrzehnts vor der Vereinigung zur einer Art Markenzeichen für die demokratische Läuterung Deutschlands geworden. Statt die Konfrontation mit ihrer Vergangenheit wie in den ersten Nachkriegsjahrzehnten als etwas von außen Aufgedrängtes zu betrachten, hatte sich auch unter der konservativ-liberalen Regierung unter Helmut Kohl die Erkenntnis durchgesetzt, dass das offensive Bekenntnis zur historischen Verantwortung der Deutschen das Ansehen der Bundesrepublik in der Welt enorm mehrte – und die deutsche „Aufarbeitung“ der Vergangenheit so zu einer Art Exportschlager werden konnte. Die Vereinigung Deutschlands vervollständigte zudem die von Habermas begrüßte Westbindung, indem sie auch den vorher kommunistischen Teil des Landes in die transatlantischen Strukturen integrierte.
Es war jedoch ausgerechnet Habermas, der sich der anbahnenden staatlichen Einheit gegenüber skeptisch zeigte. Auschwitz wurde nun von manchen Linksliberalen als historisches Argument gegen einen einigen, demokratischen deutschen Nationalstaat angeführt. Dass die Erinnerung an den Holocaust als ultimativem negativen Geschichtszeichen nicht nur für das vereinte Deutschland, sondern auch für das sich einigende Europa zum konstitutiven Maßstab wurde, führte diese Position jedoch ad absurdum.
Moralisches Abseits
Ernst Nolte, der sich auf immer abwegigere und anrüchigere Positionen wie die versteifte, Hitler habe das „Weltjudentum“ mit einer gewissen Berechtigung als einen Kriegsgegner betrachten müssen, geriet dagegen in den Jahren nach der Vereinigung immer weiter ins intellektuelle wie moralische Abseits. Der Versuch einer „Neuen Rechten“, Anfang der 90er-Jahre, den Nationalsozialismus als ein Phänomen der Modernegeschichte zu „normalisieren“ und die Westbindung zugunsten einer „selbstbewussten Nation“ infrage zu stellen, war zwar spektakulär, blieb aber zunächst weitgehend wirkungslos. Heute jedoch müssen wir feststellen, dass dem Versuch einer Revision der tiefen Einbettung Deutschlands in das westlich-liberale Gesellschaftsmodell eine massive Renaissance beschieden ist – die jedoch an der akademischen Welt vorbei erfolgt.
Bannerträger dieser antiwestlichen Offensive sind nicht Fachhistoriker, sondern rechtspopulistische Wortführer und Publizisten wie Alexander Gauland, die dazu, wie zuvor Nolte, auf die Relativierung der Bedeutung des Holocaust für das moderne deutsche Nationalbewusstsein zielen. In einem Interview in der „Zeit“ 2016 kam Gauland schnell zur Sache. „Ich glaube, dass Auschwitz, auch als Symbol, viel in uns zerstört hat“, meinte er im Blick auf eine vermeintlich preisgegebene deutsche Identität. „Die Nazis“, erklärte er weiter, hätten „viele Dinge berührt, die durch diese Berührung plötzlich nicht mehr sagbar wurden. Der Nationalstolz, den jeder Engländer, jeder Franzose empfindet, ist doch bei uns enorm hinterfragt, nach dem Motto: ‚Dürfen wir das eigentlich noch sagen?‘“
Gaulands Bemerkungen laufen auf die in rechtsnationalen Kreisen gängige Anklage hinaus, den Deutschen werde von einer despotischen „politischen Korrektheit“ der unbefangene Zugang zu ihrem wesenhaften Sosein versperrt. Um das zu ändern, pflegen Kader der völkisch-nationalistischen AfD, deren Fraktionsführer im Bundestag Gauland ist, eine Strategie gezielter „Enttabuisierung“ von historisch diskreditierten Reizworten. Mit einer Lust, die an die von Kindern in der analen Phase erinnert, in den eigenen Exkrementen zu wühlen, rufen sie „verbotene“ Worte aus wie „Volksgemeinschaft“ oder schreien heraus, dass die Deutschen endlich „erwachen“ mögen
Was sie damit jedoch vollziehen, ist kein realer Wiederanschluss an eine dem deutschen Volk angeblich geraubte historischen Tradition, sondern im Gegenteil: der letzte Schritt in die Auslöschung historischen Bewusstseins. Spekuliert die auf tagespolitische Provokation zielende Wiederbelebung von Reizworten, die mit guten Gründen aus dem modernen Sprachgebrauch verschwundenen sind, doch darauf, dass die furchtbaren Kontexte, in denen sie einst standen, in der von „posthistorischer“ Beliebigkeit geprägten Gesellschaft heute weitgehend vergessen sind
Lücken in der Aufarbeitung
Die deutsche Geschichtswissenschaft hat sich große Verdienste bei der umfassenden Erforschung des Holocaust und der NS-Verbrechen insgesamt erworben. Doch stellt sich heute heraus, dass sie dabei in gewisser Weise in einem national zentrierten Horizont verharrte. Jüngste Werke wie Timothy Snyders „Bloodlands“, das die osteuropäischen Erfahrungen im Klammergriff zwischen Sowjettotalitarismus und nationalsozialistischem Vernichtungskrieg in die Beschreibung der Unheilsgeschichte des 20. Jahrhunderts zu integrieren versucht, haben deutlich gemacht, wie wenig diese Perspektive in die Betrachtungen deutscher Historiker eingegangen war.
Mit einer gewissen Ratlosigkeit stehen sie daher heute dem Wiederaufleben nationaler Selbstheroisierung in der Geschichtspolitik verschiedener europäischer Länder gegenüber. Diese Tendenz zur Renationalisierung der Historie macht sich den namentlich in Osteuropa verbreiteten Eindruck zunutze, die jeweiligen nationalen Leidensgeschichten seien nicht ausreichend in das gesamteuropäische Geschichtsgedenken eingeflossen. Dass an diesem Vorwurf durchaus etwas dran ist, erwies sich zuletzt drastisch am Beispiel der Ukraine. Anlässlich der Aggression von Putins Russlands gegen das souveräne Nachbarland tat sich in der deutschen Öffentlichkeit ein Abgrund an Unkenntnis über die ukrainische Geschichte auf, wenn nicht die Existenz der Ukraine als Nation überhaupt in Zweifel gezogen wurde.
Wie verkürzt die vermeintlich so gründliche deutsche Vergangenheitsaufarbeitung tatsächlich gewesen ist, manifestiert sich etwa in der hierzulande ständig zu hörenden Phrase, man müsse Russland gegenüber eine besonders sensible Zurückhaltung an den Tag legen, da es doch von Nazideutschland überfallen wurde. Dass aber gerade die ukrainische Nation, die heute Opfer neoimperialen russischen Expansionsstreben ist, eines der Hauptopfer des NS-Vernichtungskriegs gegen die Sowjetunion war, wird dabei schlicht ignoriert. Die Vorstellung, die deutsche Lesart von Nationalsozialismus und Holocaust sei auch die universell gültige, erweist sich so als voreilig. Es gilt erst noch, in sie zahlreiche bislang ausgeblendete Aspekte der europäischen Unheilsgeschichte des 20. Jahrhunderts einzuarbeiten. Die wissenschaftlich untermauerte Erkenntnis, dass der Holocaust ein singuläres Menschheitsverbrechen war, bleibt davon indes unberührt – auch wenn Revisionisten aller Couleur zu gerne daran rütteln möchten.