Tian’anmen: Prototyp für das antidemokratische Rollback

Am 4. Juni jährt sich die blutige Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung auf dem Tian’anmen-Platz in Peking zum 32. Mal. In der VR China ebenso wie jetzt auch im gleichgeschalteten Hongkong ist jede Erinnerung an das auf Befehl der Partei-und Staatsführung von der chinesischen Armee an den protestierenden Studenten verübte Massaker streng verboten. Umso wichtiger ist es, alles zu tun, um dieses epochale Verbrechen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen – zumal es auch für den Westen schmerzliche Lehren bereithält.

Denn die Methode Tian’anmen ist zum Vorbild für heutige Autokraten geworden, die sich mit dem Aufstand großer Teile, wenn nicht der Mehrheit ihrer Gesellschaften konfrontiert sehen. Die Erfahrung von damals lehrt sie, dass sie selbst breiteste Massenbewegungen auslöschen können, wenn sie nur ruchlos genug, mit entfesselter Repression gegen sie vorgehen – und so lange sie keine ernsthafte Reaktion des Westens darauf zu befürchten haben. In der VR China waren 1989 auf dem Höhepunkt der Bewegung Millionen Bürger auf der Straße, um demokratische Reformen zu fordern – bis das Regime beschloss, den Protest mit extremer Gewalt niederzuschlagen.

Ihre totalitäre Alleinherrschaft hat die Kommunistische Partei Chinas damit auf Jahrzehnte hinaus gesichert und immer weiter perfektioniert. Mit der gewaltsamen Gleichschaltung Hongkongs hat Peking jüngst seine ganze Entschlossenheit und Skrupellosigkeit bei der Behauptung und Ausweitung seiner Macht demonstriert. Von der vor Jahresfrist noch in voller Blüte stehenden Demokratiebewegung Hongkongs ist so gut wie nichts übrig geblieben. Als nächste Opfer seiner Expansionsgelüste hat das Regime nun das demokratische Taiwan ins Visier genommen, dem es unverhohlen mit Invasion droht.

Nachahmer hat das Beispiel Tian’anmen in der jüngeren Vergangenheit zuhauf gefunden. So gelang es 2009 dem iranischen Regime, die damalige massenhafte Erhebung gegen die Fälschung der Präsidentenwahl mittels extremer Gewaltanwendung regelrecht zu pulverisieren. Von einer Opposition, die die Mullah-Herrschaft ernsthaft gefährden könnte, kann im Iran seitdem keine Rede mehr sein. Gegenwärtig wird diese Methode des Machterhalts durch die totale Eliminierung demokratischen Widerstands von dem belarusischen Diktator Lukaschenko praktiziert – unter Anleitung seines Schutzherren Wladimir Putin. Der hatte bereits in Venezuela Regie geführt, als sich der Kleptokrat Maduro aus fast schon aussichtsloser Position gegen die, eine große Mehrheit der Gesellschaft repräsentierende, Demokratiebewegung des Landes behauptete. In Syrien hat Putins Russland für den Erhalt der Macht des Diktators Assad gemeinsam mit seinem Verbündeten Iran ein ganzes Land in Schutt und Asche gelegt. Auch hier galt: Dem demokratischen Willen der Bevölkerung dürfe kein Fußbreit an Zugeständnissen gemacht werden, bis er unter den Schlägen des Regimes erlahmt oder gänzlich ausgelöscht ist.

Versagen des Westens

Das Tian’anmenMassaker zog für das chinesische Regime keine nennenswerten Konsequenzen vonseiten des Westens nach sich. Über dem kurz darauf folgenden Zusammenbruch des Sowjetsystems begann es in der Erinnerung der Weltöffentlichkeit bald zu verblassen. Da in China in den 1990er Jahren mit voller Wucht der staatskapitalistische Entwicklungsboom einsetzte, waren im Westen viele Politiker, Wirtschaftslenker und Polit-Analysten im Westen bald geneigt, die mit brutaler Repression durchgesetzte Stabilisierung der kommunistischen Diktatur als eine notwendige Voraussetzung für das explodierende Wirtschaftswachstum des Landes zu akzeptieren.

Autoritative Stimmen wie die von Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidts bescheinigten dem Pekinger Regime zudem, an die ethischen Ordnungsideale des Konfuzianismus anzuknüpfen und damit authentischer Ausdruck einer uralten chinesischen Kulturtradition zu sein. Westliche Besserwisserei in Sachen Menschenrechten und Demokratie habe vor dieser altehrwürdigen Machtstruktur zu verstummen. Die Aussicht, auf dem riesigen chinesischen Markt enorme Profite machen zu können, tat ein übriges, um derartigen kulturrelativistischen Beweihräucherungen der totalitären Diktatur in den westlichen ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Eliten eine breite Resonanz zu sichern.

Im übrigen redete man sich im Westen ein, der kommunistische Totalitarismus in China werde in dem Maße, wie sich im Land Produktivität und Wohlstand ausbreiteten, auf die Dauer auch politisch aufweichen und sich „liberalisieren“. Dass China unter der Herrschaft einer kommunistischen Einparteiendiktatur blieb, wurde angesichts des Verschwindens des Kommunismus in Europa lediglich als eine Verzögerung des vorgezeichneten „Laufs der Geschichte“ interpretiert. So groß war das Vertrauen in die Wandlungsfähigkeit der kommunistischen Führung, dass Großbritannien mit Rückendeckung der anderen westlichen Demokratie seine Kronkolonie in die Hände der VR China übergab – unter der Maßgabe, dass die Machthaber in Peking ihm fünfzig Jahre lang einen demokratischen Sonderzustand garantieren würden. Bis dahin, so lautete das dahinter steckende Kalkül, werde sich auch die Volkrepublik China im Ganzen ohnehin längst den Werten und Normen der freien Welt angeglichen haben.

Fatale Langzeitfolgen

Alle diese historischen Fehleinschätzungen haben fatale Langzeitfolgen gezeitigt. Weit davon entfernt, sich zu humanisieren und freiheitlich zu reformieren, ist das zur Supermacht erstarkte China zum aggressiven Herausforderer der Demokratien weltweit geworden – mit dem Ziel, sie global durch das eigene Herrschaftsmodell zu ersetzen. Unter der Herrschaft des Putin-Regimes eifert auch Russland diesem Prinzip der aktiven Bekämpfung und Unterminierung der demokratischen Idee rund um den Erdball nach. In Und im Gefolge dieser führenden autoritären Mächte sehen sich auch andere Autokratien rund um die Welt, von Venezuela bis Myanmar, von Nicaragua bis Syrien, ermutigt, mit neuem Selbstbewusstsein jegliche demokratische Regung im Keim zu ersticken.

Die wichtigste Lehre aus dem Tian’anmen-Massaker lautet somit: Lässt die demokratische Welt zu, dass autokratische Herrscher ihre Bevölkerung drangsalieren und massakrieren, weil sie elementare Menschen- und Bürgerrechte einfordert, wird sie unweigerlich bald selbst zum Ziel von deren aggressivem Vernichtungswillen. Die westlichen Demokratien müssen das endlich begreifen und im eigenen Selbsterhaltungsinteresse die notwendigen Konsequenzen daraus ziehen – wenn es dafür nicht schon zu spät ist.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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