Der Tod der Freiheit in Hongkong ist ein düsteres Vorzeichen für die westlichen Demokratien

Das kommunistische Regime der Volksrepublik China hat Hongkong buchstäblich über Nacht seiner totalitären Herrschaft unterworfen. Es hat damit drastisch seine Entschlossenheit bewiesen, internationales Recht mit Füßen zu treten, wenn es seinem aggressiven Vormachtstreben im Wege steht.

Peking hat auf diese Weise zugleich den Westen einem Test unterzogen, wie weit von ihm noch ernsthafter Widerstand gegen das autoritäre Rollback in der Weltpolitik zu erwarten ist. Für alle, die weltweit nach wie vor auf die Unterstützung der westlichen Demokratien im Kampf für Menschenrechte und Demokratie hoffen, fällt das Ergebnis dieses Tests bestürzend aus – vor allem, was die Reaktion Europas betrifft.

Die USA haben auf Pekings Aggression immerhin mit Sanktionen geantwortet, die vom Kongress mit seltener überparteilicher Einmütigkeit beschlossen und von Präsident Trump übernommen wurden. Doch angesichts einer bis zum Autismus selbstbezogenen, chronisch sprunghaften und auf Spaltung statt Führung des Westens angelegten US-Außenpolitik unter Trump ist es mehr als zweifelhaft, ob Washington eine breite internationale Abwehrfront gegen das chinesische Vormachtstreben zu schmieden in der Lage ist – beziehungsweise, ob es das überhaupt beabsichtigt. Trumps Konfliktkurs gegenüber China folgt eher dem Schema einer „klassischen“ Großmächtekonfrontation im Stil des 19. Jahrhunderts, die der übrigen Welt nur die Rolle des staunenden und bangenden Zuschauers übrig lässt.

Großbritannien, das seine ehemalige Kronkolonie 1997 an die Volksrepublik China ausgeliefert hat, stellt als Reaktion auf den Bruch des damals getroffenen Abkommens über den Sonderstatus Honkongs dessen Einwohnern die Einbürgerung ins Vereinigte Königreich in Aussicht. Aber auch, wenn dies sofort den Zorn der totalitären Machthaber in Peking hervorgerufen hat, drückt diese große, aber eben doch nur reaktive Geste eher Hilflosigkeit als Stärke aus – das implizite Eingeständnis nämlich, dass die Briten am Vollzug der Gleichschaltung der bisherigen „Sonderverwaltungszone“ nichts ändern können. Hatten sich die Ideologen des Brexit Fantasien darüber hingegeben, wie der Bruch mit der EU Großbritannien in eine politische und ökonomische Weltmachtrolle zurück katapultieren werde, wird ihm in Hongkong jetzt auf brutale Weise seine ganze Irrelevanz und Ohnmacht vorgeführt. Und nachdem sich London Pekings Wirtschaftsmacht lange Zeit regelrecht an den Hals geworfen hat, wirkt die aktuelle Kehrtwende zu einer tendenziell konfrontativen Linie improvisiert und planlos. Zerplatzt sind jedenfalls erst einmal britische Träume, durch die Befreiung aus den „Fesseln“ der vermeintlichen EU-Zwangswirtschaft stünde dem Vereinigten Königreich nun ein goldenes Zeitalter schwunghaften Freihandels mit Fernost bevor.

EINFÜHLUNG HILFT BEI AUTORITÄREN REGIMEN NICHT WEITER

Doch die EU selbst sieht im Konflikt um Hongkong noch weit schlechter und kläglicher aus als das überrumpelte Großbritannien. Die kleinlauten Ermahnungen, die sie in Sachen Hongkong in Richtung Peking sendet, werden dort kaum eine andere Wirkung hervorrufen, als das chinesische Regime darin zu bestätigen, dass es bei der Verfolgung seiner Vorherrschaftsambitionen auf die Europäer keine Rücksicht mehr nehmen muss. Was Berlin betrifft, so hat es bezeichnenderweise als bisher schärfste diplomatische Waffe den chinesischen Botschafter in Berlin zum Gespräch „eingeladen“ („einbestellen“ hätte den Matadoren des „konstruktiven Dialogs“ im Auswärtigen Amt wohl zu konfrontativ geklungen) , um ihm darin seine tiefe „Besorgnis“ über die Vernichtung der Freiheit Honkongs zu erläutern.

Was derartiges gutes Zureden bei den chinesischen Machthabern bewirkt, hat Peking kurz darauf demonstriert, als es im UN-Sicherheitsrat im Schulterschluss mit Russland per Veto die Fortsetzung der internationalen Syrien-Hilfslieferungen blockierte. Am Ende kam es zu einem „Kompromiss“ auf der Basis eines deutsch-belgischen Resolutionsentwurfs, der von Außenminister Heiko Maas schönfärberisch (oder muss man sagen: zynisch?) als „eine gute Nachricht für Millionen von syrischen Männern, Frauen und Kindern“ verkauft wurde. In Wahrheit kam die Einigung einer Kapitulation vor den erpresserischen Forderungen Russlands gleich – setzte sich Moskau doch mit seiner Absicht durch, nur noch einen Grenzübergang für die Hilfslieferungen offen zu halten. Das Zugeständnis, dass der Übergang dafür ein ganzes statt nur ein halbes Jahr geöffnet bleiben darf, ist dem Kreml nicht allzu schwer gefallen.

Denn durch die Schließung eines der Grenzübergänge für die internationalen Hilfslieferungen ist die Versorgung eines großen Teils der in Idlib eingeschlossenen Syrer akut gefährdet. Der Sicherheitsrat, in dem Deutschland derzeit den Vorsitz führt, hat damit der von Moskau und seinen Komplizen in Teheran und Damaskus betriebenen – und von China unterstützten – Politik des Aushungerns Idlibs und der Vertreibung seiner Bevölkerung Vorschub geleistet, wenn nicht faktisch sein Plazet gegeben.

Der Fall zeigt exemplarisch, was die deutsche Außenpolitik unter erfolgreicher Diplomatie versteht. Während sich die autoritären Mächte beim Schaffen vollendeter Tatsachen keinerlei Zurückhaltung auferlegen, müht sich Berlin um Kompromisse, die auch den Interessen der Aggressoren Rechnung tragen, um sie weiterhin in einer imaginären globalen Verantwortungsgemeinschaft zu halten. Der alte Leitsatz der deutschen Entspannungspolitik, man habe sich beim Aushandeln von Vereinbarungen mit systemfremden Mächten auch in die Interessenlage der Gegenseite einzufühlen, gerät so zunehmend zum Patentrezept für vorauseilendes Zurückweichen vor autoritären Regimen. Diese erwidern die Bereitschaft zur Einfühlung in den Anderen nämlich in keiner Weise.

Bei dieser Gelegenheit zeigt sich auch, wie abwegig die Vorstellung hiesiger Beschwichtiger gegenüber Moskau ist, man müsse die strategischen Gemeinsamkeiten mit Russland stärken, um ein Gegengewicht zu Peking herzustellen. Die Realität ist: Putins Russland und Xis China ziehen effektiv an einem Strang, wenn es um das Zurückdrängen westlichen Einflusses und um die Zerstörung der Grundlagen einer liberalen Weltordnung geht.

FÜR EINEN MULTILATERALISMUS DER DEMOKRATIEN

Die hierzulande rituell wiederholte Beteuerung, man dürfe sich unter keinen Umständen auf einen „neuen Kalten Krieg“ einlassen, erweist sich angesichts dieser Tatsachen als Chiffre für eine hartnäckige Realitätsflucht. Sie täuscht über die Erkenntnis hinweg, dass der „multilaterale“ Ansatz, der keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen demokratischen und autoritären Mächten macht, gescheitert ist. Ersetzt werden müsste er durch einen erneuerten Multikulturalismus der Demokratien, die in der Konfrontation mit den verstärkt auftrumpfenden autoritären Mächten fester zusammenzurücken gezwungen sind, wollen sie in ihr bestehen.

Dazu ist es unerlässlich, zwei Arten von Multilateralismus zu unterscheiden (siehe dazu auch hier.)Einmal gibt es das multilaterale Vorgehen von Staaten mit gemeinsamen Werten und Normen. Diese Form des Multilateralismus ist die Essenz dessen, was seit 1945 als westliche Wertegemeinschaft bezeichnet wird. Sie zu vernachlässigen heißt, den Kern nicht nur des westlichen Bündnisses, sondern der Identität der freien demokratischen Welt an sich zu beschädigen. Anders sieht es mit einem Multilateralismus aus, der Vereinbarungen demokratischer Nationen mit nicht demokratischen Staaten und autoritären Mächten beinhaltet. Diese Variante multilateraler Praxis kann nicht prinzipieller Natur sein, sondern muss an streng definierte und überprüfbare Bedingungen geknüpft werden. In der Rhetorik und Praxis der deutschen Außenpolitik wird dieser Unterschied jedoch systematisch verwischt.

Dringend nötig wäre heute eine neue politische Struktur, in der sich die Demokratien weltweit koordinieren und in ihrer Handlungsweise miteinander abstimmen können – etwa in Form eines globalen Rats der Demokratien, der auch als Fraktion in den UN auftreten könnte. Voraussetzung für eine derartige Renaissance des demokratischen Elements in der Weltpolitik ist jedoch eine grundlegende Rückbesinnung der demokratischen Gesellschaften auf die existenzielle Bedeutung ihrer Werte – und eine Schärfung des Bewusstseins dafür, was diese fundamental von den „Werten“ autoritärer Mächte unterscheidet. Gelingt diese innere Erneuerung nicht, droht den Demokratien weltweit über kurz oder lang das Schicksal Hongkongs.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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