Die Forderung nach dem Verbot religiös begründeter Gesichtsverhüllung im öffentlichen Raum ist berechtigt. Zwar hat die aktuelle Schweizer Volksinitiative für ein solches Verbot ohne Zweifel etwas politisch Maliziöses. Denn Kräfte wie die rechtsnationale Schweizerische Volkspartei (SVP) benutzen diese Initiative, um fremdenfeindliche Ängste und Affekte zu schüren und das Schreckbild einer angeblich unmittelbar bevorstehenden „Islamisierung des Abendlands“ an die Wand zu malen. Doch das ändert nichts daran, dass sich das Verbot der Vollverschleierung in der Sache mit einem urliberalen .Anliegen deckt. Bedauerlich ist, dass diese Forderung antiliberalen Demagogen überlassen wird, statt von den Verfechtern der offenen, pluralistischen Gesellschaft offensiv zu ihrer eigenen gemacht zu werden.
Bereits 2014 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg eine Klage gegen das Verbot der Vollverschleierung in Frankreich abgewiesen. Das war eine klare Bekräftigung des Rechts des säkularen demokratischen Staates, die Grundregeln des Zusammenlebens seiner Bürger gegen die Anmaßungen eines religiösen, in diesem Fall islamischen Fundamentalismus zu verteidigen.
Auslöschung weiblicher Identität
Dass die Verteidiger von Burka und Nikab sich dazu versteigen, die Vollverschleierung – und damit die symbolische Auslöschung weiblicher Identität und Individualität – als ein individuelles Menschenrecht zu reklamieren, folgt einer pervertierten Interpretation des Sinns eines solchen Rechts.
Seit langem arbeiten islamische Ideologen daran, die Menschenrechte zu einem Schutzmantel für die Zwangsdurchsetzung des Alleingeltungsanspruches religiöser Gebote umzudeuten. Auf internationaler Ebene versuchen islamische Staaten seit Jahrzehnten, den Begriff des Menschenrechts selbst auf den Kopf zu stellen, indem sie schlimmste Verstöße gegen die Menschenwürde zu einem schützenswerten Kulturgut erklären und daraus ein „kulturelles Menschenrecht“ konstruieren. Als Verletzer von Menschenrechten stehen nach dieser dreisten Umdeutung nicht Regime und Ideologien da, die zum Beispiel Steinigung oder Auspeitschung wegen vermeintlichen Ehebruchs praktizieren , sondern Kritiker, die solche unmenschlichen Praktiken anprangern.
Nun besitzt die freie Religionsausübung im demokratischen Rechtsstaat tatsächlich einen hohen Rang. Doch sie findet ihre Grenze da, wo sie die für alle Bürger gleichermaßen verbürgte Menschenwürde verletzt. Menschenrechte schützen die Einzelnen nicht nur vor der Willkür des Staates, sondern auch vor der übermächtiger religiöser oder „kultureller“ Kollektive. Diese Prinzipien wollen islamische Ideologen systematisch verwirren. Deshalb geben sie die Vollverschleierung, die zur Stigmatisierung und Ausgrenzung der Frau aus dem öffentlichen Raum ersonnenen wurde, als „Privatangelegenheit“ aus.
Zwangsuniformierung als „kulturelle Vielfalt“?
Die Unterwerfung der Frau unter religiös verfügte Unterdrückungspraktiken soll so als Ausdruck freier Entscheidung oder als ein Bekenntnis zu einer „kulturellen Eigenheit“ erscheinen. Aus der Zwangsuniformierung von Frauen soll auf diese Weise ein Fanal für „kulturelle Vielfalt“ gemacht werden. Doch auf diese Verdrehung von für sie essenzieller Werte in ihr Gegenteil. dürfen demokratische Gesellschaften nicht hereinfallen.
Dass sich Menschen gegenseitig ins Gesicht sehen können, ist in freiheitlichen Gesellschaften nicht nur aus Gründen der amtlichen Identifizierbarkeit einer Person unverzichtbar. Es ist auch die erste Voraussetzung für zivilisierte Kommunikation und unbefangenen Austausch unter gleichgestellten Bürgern – und damit für jeglichen demokratischen Diskurs. Das Argument, ein Verhüllungsverbot sei überflüssig, weil man in Europa nur eine sehr geringe Anzahl von verschleierten Frauen in der Öffentlichkeit antreffe, ist daher nicht überzeugend. Es kommt hier nicht auf die Quantität von Verstößen gegen die Menschenwürde an, sondern auf die grundsätzliche Feststellung, dass die religiös dekretierte Gesichtsverhüllung von Frauen einen Verstoß gegen die Menschenwürde darstellt.
Nebenbei bemerkt: Dass in der Schweiz über das Verbot der Gesichtsverhüllung ausgerechnet zu einem Zeitpunkt abgestimmt wird, da pandemiebedingt in bestimmten öffentlichen Bereichen eine Maskenpflicht herrscht, mag auf den ersten Blick kurios wirken. Doch auch wenn diese Koinzidenz von den Gegnern des Verhüllungsverbots genüsslich satirisch ausgeschlachtet wird: Sie hat mit der Sache nicht das Geringste zu tun. Die temporäre Maskenpflicht dient dem Schutz der Gesundheit, Davon kann bei der Vollverschleierung keine Rede sein. Ein derartiges Argument wird nicht einmal von ihren Verteidigern erhoben.
Auch muss das Verbot der Vollverschleierung von anderen gegen eine vermeintliche „Islamisierung des Abendlands“ gerichteten Maßnahmen unterschieden werden, die tatsächlich eine Verletzung der Religionsfreiheit darstellen. Eine solche ist etwa das Verbot des Baus von Minaretten, das in der Schweiz vor einigen Jahren per Volkabstimmung durchgesetzt wurde. Der Bau eines Minaretts stellt an sich noch keine Bedrohung der Demokratie und für sich genommen keine Einschränkung der Rechte anderer dar. Frauen im öffentlichen Raum das Gesicht zu rauben, tut dies hingegen sehr wohl.