Der Westen muss Putin endlich aktiv abschrecken

Dass russische Truppen von der Grenze zur Ukraine abgezogen werden, bedeutet keine dauerhafte Entwarnung. Der Westen muss endlich eine langfristige Strategie zur Abschreckung Putins und Eindämmung seiner Gewaltpolitik entwickeln. In Deutschland aber folgt man nach wie vor einer anderen Logik.

Die russische Truppenkonzentration auf der annektierten Krim und an der ukrainischen Grenze und die damit verbundene Drohung einer offenen Invasion der Ukraine hat auch die deutsche Russlandpolitik auf den Prüfstand gestellt. Von ihrer bisherigen vorsichtigen bis ambivalenten Haltung gegenüber Moskau ist die deutsche Bundesregierung jedoch trotz der jüngsten Eskalation nicht abgewichen – ebenso wenig wie angesichts des drohenden Todes von Alexej Nawalny in der russischen Lagerhaft. Weder hat Berlin – und mit ihm die EU – neue Sanktionen gegen den Kreml verhängt, noch ihm auch nur konkrete Strafmaßnahmen für den Fall einer weiteren Verschärfung seiner militärischen Aggression gegen die Ukraine angedroht. Namentlich an der Fertigstellung der umstrittenen russisch-deutschen Gaspipeline Nord Stream 2 hält die deutsche Regierung unbeirrt fest.

Dass Moskau inzwischen angekündigt hat, seine Truppen teilweise zurückzuziehen und der befürchtete Großangriff auf die Ukraine somit vorerst nicht stattfindet, verbucht Berlin nunmehr als Bestätigung seiner zurückhaltenden Politik, die es vermeidet, zu starken Druck auf Putins Russland auszuüben. In einem Interview warnte Außenminister Heiko Maas vergangenen Sonntag vor einem  Konfrontationskurs gegenüber Moskau und erklärte, die EU und der Westen insgesamt hätten dem Kreml in der aktuellen Krise auch ohne Sanktionsdrohungen ausreichend ihre Entschlossenheit demonstriert.

Über Kritiker, die eine schärfere Linie gegenüber Putin fordern, äußerte sich Maas scharf abwertend. Man müsse aufhören, den „vielen Schlaubergern“ nachzulaufen, die „immer härtere Maßnahmen“ gegen Russland verlangten.  Deutschland könne  kein Interesse daran haben, sich „in dieses Konfrontationsgeschrei einzureihen. Wir wollen einen Dialog und eine gute Nachbarschaft mit Russland.“ Er glaube im übrigen nicht, dass weitere Sanktionen etwa dem inhaftierten Alexej Nawalny wirklich nutzten  – „im Gegenteil“. Auch der Aussage von US-Präsident Biden, dass Putin ein Mörder sei, wollte sich Maas ausdrücklich nicht anschließen.

Was bezweckte Putin wirklich?

Zudem malte Maas indirekt die Gefahr eines kriegerischen Konflikts zwischen Russland und dem Westen an die Wand. „Letztlich kann doch keiner ein Interesse daran haben“, sagte er, „dass aus permanenten Provokationen irgendwann ernsthafte Auseinandersetzungen werden – schon gar nicht hier in Europa“. Die Tatsache, dass dieser kriegerische Ernstfall für die Ukraine, die ja immerhin auch in Europa liegt, schon längst eingetreten ist, blendete der Außenminister aus dieser Betrachtung aus.

Es trifft zwar zu, dass USA, EU und Nato zumindest verbal geschlossen auf die Drohungen Putins geantwortet haben. Sollte Putin gehofft haben, an diesem Punkt einen Keil in das westliche Bündnis zu treiben, ist er damit gescheitert. Doch in Wahrheit bleibt es Spekulation, warum der Kreml-Herrscher für den Moment auf eine massive Militäraktion gegen die Ukraine verzichtet hat und was genau er mit seinem Truppenaufmarsch bezweckte. Womöglich zielte er von vorneherein nur darauf, der Ukraine ebenso wie dem Westen Angst einzujagen, um von ihnen größere Zugeständnisse in den Verhandlungen über den Donbass zu erpressen. Vielleicht genügt es ihm auch vorerst als Machtdemonstration, dass ihn sowohl der US-Präsident als auch der ukrainische Präsident öffentlich um ein persönliches Treffen gebeten haben.

Klar ist jedenfalls: Auch wenn es vorerst zu keiner offenen russischen Invasion der Ukraine kommt, wird Moskau von seinem Ziel, die demokratische Ukraine zu zerstören, nicht abrücken. Wann und in welchem Ausmaß es für dieses Ziel zu verschärften militärischen Mitteln greifen oder inwieweit es sich primär auf die Destabilisierung des Landes durch Unterwanderung, Korrumpierung und Desinformation verlegen wird, kann niemand voraussagen. Westliche Politik müsste jedoch auf alle Eventualitäten vorbereitet sein – und das heißt: auch auf den äußersten Ernstfall. Will man dem Kreml nicht auf Dauer die Eskalationsdominanz überlassen, muss man ihn durch wirksame Maßnahmen und die glaubhafte Ankündigung klar definierter Konsequenzen von weiteren Aggressionsakten abschrecken, statt immer nur kurzfristig auf Putins jeweils neueste Drehung an der Gewaltschraube zu reagieren.

Der Westen muss proaktiv werden

Es ist daher überfällig, dass der Westen endlich von einem reaktiven zu einem präventiven, Ansatz übergeht und eine langfristige  Strategie zur proaktiven Eindämmung der russischen Aggressionspolitik entwickelt. Treffend schreiben die ukrainischen Politikexperten Vadym Denysenko, Ihor Popov, Ihor Tyshkevych und Ilya Kusa auf der Website des „Atlantic Council“: „Derzeit ist noch lange nicht klar, ob der verkündete Rückzug Russlands die riesigen Mengen an militärischer Ausrüstung umfassen wird, die in der Nähe der ukrainischen Grenze konzentriert sind. Auch wenn die unmittelbare Gefahr tatsächlich vorüber ist, ist es Wladimir Putins Frühlings-Säbelrasseln gelungen, eine klare und unmissverständliche Botschaft an Kiew zu senden, dass Moskau eine militärische Lösung seines ukrainischen Problems noch nicht ausgeschlossen hat. (…) Ein Großteil dieser potenziellen zukünftigen Invasionstruppe bleibt in Position und bereit zum Handeln. Beim nächsten Mal wird Putin in der Lage sein, auf die unschätzbaren Erfahrungen zurückzugreifen, die die russischen Streitkräfte während ihrer jüngsten Mobilisierung gesammelt haben. Um ein potenziell katastrophales militärisches Szenario zu vermeiden, müssen die Ukraine und die internationalen Verbündeten des Landes jetzt rasch Schritte unternehmen, um den Kreml abzuschrecken.“

Dies ist umso dringlicher, als die Bedrohung durch Putins Russland im Kontext einer zunehmenden Kooperation autoritärer Mächte bei der Verfolgung ihrer aggressiven Absichten zu sehen ist. Zur selben Zeit, da Russland den militärischen Druck auf die Ukraine erhöht, trifft, wie der Politikwissenschaftler Joachim Krause feststellt, „China Anstalten, das ´Taiwan-Problem´ militärisch zu lösen – entweder durch eine maritime Blockade der Insel, durch gezielte Angriffe auf wichtige politische Institutionen und Militäreinrichtungen oder gar durch eine militärische Invasion zu Wasser und zu Luft.“ Das dürfte kein Zufall sein, vermutet Krause. „Hier wird ein Muster deutlich, auf das Militärexperten schon seit langem hinweisen: die Gefahr, dass Moskau und Peking in Absprache miteinander und zur gleichen Zeit regionale Krisen in ihrem Umfeld durch militärische Interventionen lösen wollen.“

Dass sich der deutsche Außenminister jüngst mit solch heftig denunziatorischen Worten wie „Konfrontationsgeschrei“ gegen den Ansatz gewendet hat, dieser sich abzeichnenden geschlossenen Front gegen die westlichen Demokratien mit mehr Härte zu begegnen, zeigt jedoch, dass Berlin nach wie vor einer entgegengesetzten Logik folgt. Die jüngste massive russische Gewaltdrohung gegen die Ukraine bestätigt maßgebliche deutsche Politiker eher in ihrer Überzeugung, dass man den Kreml nicht noch mehr „provozieren“ dürfe und statt dessen verstärkt nach Verbindendem im deutsch-russischen Verhältnis suchen müsse. Die Gefahr ist real, dass eine solche potenzielle Annäherung auf Kosten der Ukraine und damit der Sache der Demokratie in Europa insgesamt gehen wird

Grüne fordern mehr Härte   

Die einzige deutsche Partei, die sich dieser Logik der Beschwichtigung tendenziell widersetzt, sind derzeit die Grünen. Ihre frisch gekürte Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock forderte jüngst einmal mehr, den Druck auf Moskau mittels neuer Sanktionen zu erhöhen und Nord Stream 2 „die politische Unterstützung zu entziehen.“ Sie bejahte zudem die „Perspektive einer Ukraine in der EU und in der Nato“, auch wenn sie Schritte dorthin als vorerst nicht realistisch bezeichnete. Und auch dazu, Waffenlieferungen an die Ukraine zu befürworten, kann sie sich nicht durchringen Doch immerhin ist die legitime Forderung der Ukraine nach militärischer Integration in das westliche Bündnis für Baerbock und andere führende Grüne, anders als in Deutschland zumeist üblich, kein Tabuthema mehr.

Heiko Maas hingegen, der zu Anfang seiner Amtszeit noch als Befürworter einer festeren Position gegenüber dem Kreml galt, gleicht sich zunehmend der in der SPD dominierenden wohlwollenden Haltung gegenüber Russland an. Dabei erinnert seine Formel von der erwünschten „guten Nachbarschaft“ mit Russland fatal an die Terminologie Gerhard Schröders, der stets von Russland als großem europäischen „Nachbarn“ zu sprechen pflegt, obwohl zwischen der deutschen und der russischen Grenze bekanntlich souveräne osteuropäische Staaten liegen.

Doch auch von dem CDU-Kanzlerkandidaten Armin Laschet ist für den Fall, dass er im Herbst zum Nachfolger Angela Merkels als Regierungschef gewählt werden sollte, keine Verschärfung des Kurses gegenüber Moskau zu erwarten. Im Gegenteil: Laschet ist in den vergangenen Jahren wiederholt durch seine Nähe zu weltpolitischen Positionen des Kreml aufgefallen. Putin dürfte das mit Genugtuung registriert haben.

Der Text ist die erweiterte und bearbeitete deutsche Fassung meiner aktuellen Kolumne im ukrainischen Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

1 Kommentar

  • Menschenrechte sind für die Grünen nicht verhandelbar und dies nicht erst seit eben, sondern schon seit Jahren. Jene welche die ganze Zeit um Verständnis für die Aggressoren werben interessieren diese nicht, sondern ziehen es vor diese dem Kommerz zu opfern. Bedauerlich, aber wahr.
    Wenn wir etwas in den letzten Jahren gelernt haben sollten, dann dies: Handel führt nicht automatisch zum Wandel. Mit diesem Handel finanzieren wir die Unterdrückung, die Kriege welche gegen die freie Welt geführt werden. Könnte man wissen, wollen viele aber nicht. So richtig scheint diese Erkenntnis bis dato nur bei den Grünen Fuß gefasst zu haben.
    In der Aussen- und Sicherheitspolitik entscheidet sich unsere langfristige Zukunft. Sie sollte Teil der Staatsräson bilden, da von entscheidender strategischer Bedeutung. Adenauer verstand dies und integrierte die Bundesrepublik konsequent in den Westen.

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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