Enzensberger: Schneisen ins Gestrüpp des Selbstbetrugs

Hans Magnus Enzensberger ist tot. Das ist ein schwerer Verlust für die deutsche Literatur ebenso wie für das intellektuelle Leben der Republik. Ich habe Enzensberger für seine überragenden stlistischen Fähigkeiten ebenso wie für seine kompromisslose gedankliche Schärfe bewundert – und mich gerade deshalb an seinen Thesen immer wieder gerieben. Für mich war Enzensberger der bedutendste deutsche Prosaist und Lyriker der Nachkriegszeit. Seine Lakonie konterkarierte aufs Trefflichste jenen Hang zum Seelen- und Innerlichkeitskitsch, der in Deutschland allzu oft noch immer als unverzichtbares Merkmal wahrer Literatur betrachtet wird. Zum Gedenken an Enzensberger hier noch einmal (leicht modifiziert) meine 2006 in der „Welt“ erschienene Rezension seines Essays „Schreckens Männer – Versuch über den radikalen Verlierer“, in der ich eine Gesamteinschätzung seiner intellektuellen Statur als „Altmeister der Desillusionierung“ zu formulieren versucht habe.

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Von allen rätselhaften Wesen ist uns der Selbstmordattentäter das unbegreiflichste. Hilflos versuchen die Experten, für sein wahnwitziges Verhalten eine rationale Erklärung zu finden. Handelt er aus Verzweiflung über Armut und Unterdrückung? Womöglich hat ihm die Gesellschaft zuwenig Anerkennung gezollt? Vielleicht ist er aber auch nur Opfer einer Gehirnwäsche geworden?

Wenn sich die professionellen Gesellschaftstheoretiker rettungslos in ihren vergeblichen soziologischen und psychologischen Deutungsversuchen verstrickt haben, schlägt die Stunde von Hans Magnus Enzensberger. Seit Jahrzehnten ist er der unerreichte Spezialist für das Abräumen von Illusionen. Mit elegantem Schwung und messerscharfen, lakonischen Sätzen haut er Schneisen ins Gestrüpp des intellektuellen Selbstbetrugs. Zurück bleibt nichts als eine kahle Lichtung. Aber immerhin ist der Blick wieder frei. Damit ist Enzensbergers Arbeit getan. Das Aussäen neuer Hoffnungspflänzchen müssen andere übernehmen.

Denn hinter der Gestalt des todessüchtigen Märtyrers hat der Altmeister der Desillusionierung in seinem jüngsten, furiosen Essay einen Typus ausgemacht, gegen den kein Kraut gewachsen sei: den radikalen Verlierer. Dessen Existenz widerlege einen Irrtum, auf den unsere Zivilisation ihre Hoffnung gegründet hat, die Welt befrieden zu können: daß dem Menschen der Selbsterhaltungstrieb angeboren sei. „Offenbar“, spottet Enzensberger, „ist es nicht so weit her mit dem Selbsterhaltungstrieb. Dafür spricht schon allein die bemerkenswerte, kultur- und epochenübergreifende Vorliebe der Spezies für den Selbstmord. Kein Tabu und keine Strafandrohung haben die Menschen davon abhalten können, sich das Leben zu nehmen.“

Äußerstes Zestörungspotenzial

Doch der radikale Verlierer ist weit mehr als ein Selbstmörder. Er ist auch weit mehr als ein gewöhnlicher Verlierer. Von diesen, meint Enzensberger, produziert der globalisierte Kapitalismus eine wachsende Zahl. Doch um zur lebenden Zeitbombe zu werden, muß ein Verlierer seine Rolle voll akzeptiert haben, „er muß sich sagen: Ich bin ein Verlierer und sonst nichts.“

Danach zieht sich der radikale Verlierer ganz in seine Phantasmen zurück. Er will sich nicht mehr helfen lassen, wird untherapierbar. Er mutiert zum „Schläfer“, der sich äußerlich nichts anmerken läßt, aber auf den Moment der großen, blutigen Abrechnung wartet. Er steigert sich in die Vorstellung von Verschwörungen hinein, die er für seine Lage verantwortlich macht. Doch gleichzeitig nagt in ihm der Zweifel, ob nicht doch er ganz allein die Schuld an seinem Los trägt. Aus diesem Dilemma, das sich zum Teufelskreis steigert, bezieht der radikale Verlierer seine Kraft. Das explosive Gemisch aus Minderwertigkeitsgefühl, Größenwahn und Rachegelüsten entlädt sich schließlich, so formuliert Enzensberger, in einem Akt der „Fusion von Zerstörung und Selbstzerstörung, Aggression und Autosuggestion“. Dann zieht der bis dahin unscheinbare Zeitgenosse los und tötet etwa in seiner Schule eine möglichst große Zahl von Schülern und Lehrern, bevor er sich selbst die Kugel gibt. Dieses Ende ist dann die Erfüllung seines Lebenstraums.

Eigentlich ist der radikale Verlierer laut Enzensberger ein extrem isolierter Einzelgänger. Sein äußerstes Zerstörungspotential entfalte sich jedoch erst, wenn er sich einem Kollektiv anschließt, das seinen Wunsch nach totaler Vernichtung teilt. Historisch sieht Enzensberger im Nationalsozialismus die schlimmste Ausprägung eines solchen Kollektivs von ausrottungswütigen Massen- und Selbstmördern. Hitlers Vernichtungswahn machte am Ende auch vor dem eigenen Volk nicht halt: „Unter ungeheuren Opfern hat er erreicht, was er wollte: er hat verloren.“

Bequemer Verliererstatus

Heute haben sich islamische Ideologen in die Zwangsvorstellung hineingesteigert, der ewige Verlierer zu sein. Und tatsächlich bleibt die arabische Welt seit Jahrzehnten ökonomisch und kulturell hinter der Entwicklung des größten Teils der restlichen Welt zurück. Die Schuld daran wird fast manisch bei anderen gesucht, bevorzugt beim Westen. So kann man sich bequem im Verliererstatus einrichten. Der islamistische Terror, schlußfolgert Enzensberger, ziehe daraus die verheerende Konsequenz, auch den Rest der Welt zum Verlierer zu machen.

Enzensbergers Versuch, eine große globale Herausforderung wie den entfesselten Terror aus einer Tätertypologie heraus zu deuten, ist so gewagt wie verführerisch. Keinem anderen Autor deutscher Sprache gelingt es wie ihm, mit derart glasklaren, apodiktischen Sätzen eine solche suggestive Überzeugungskraft zu entwickeln. Wer seine Sätze liest, hat unwillkürlich den Eindruck, daß sie den Kern der Sache treffen. Das wirkliche Nachdenken darüber, ob denn so weit voneinander entfernte Phänomene wie der Amoklauf und die Dauerkrise der islamischen Zivilisation tatsächlich einen so engen Zusammenhang bilden, wie Enzensberger nahelegt, beginnt erst später.

Enzensbergers Meisterschaft in der politischen Essayistik beruht auf der Fähigkeit, einen einzigen Grundgedanken immer neu zu variieren. Er lautet: Die zivilisatorische Sicherheit, in der wir uns wiegen, ist trügerisch. Der Firnis der Zivilisation ist dünn, darunter lauern unerschöpfliche Kräfte der Zerstörung, die in immer neuen Masken ans Tageslicht dringen. Der Versuch, sie in unsere aufgeklärten Diskurse zu integrieren, ist vergeblich. Allenfalls lassen sich diese unheimlichen Kräfte unter größten Mühen eindämmen. Denn die Gewalt, mit der wir konfrontiert sind, ist grund- und sinnlos, verfolgt die Zerstörung um ihrer selbst willen.

Am Abgrund der Gegenwart

Dieses Grundmotiv tauchte bereits in Enzensbergers Essay „Aussichten auf den Bürgerkrieg“ von 1993 auf. Damals erkannte er im Vandalismus der Vorstädte und in rassistischen Schlägertruppen in Ostdeutschland die Vorboten eines „molekularen Bürgerkriegs“, der nicht mehr um ideologische Inhalte, sondern aus reinem Selbstzweck geführt werde. 1991 war es Saddam Hussein als „Wiedergänger Hitlers“, den Enzensberger als Inkarnation des puren Vernichtungsprinzips ausgemacht hatte – eine von vielen Vorläuferfiguren dessen, was Enzensberger jetzt als den „radikalen Verlierer“ definiert hat.

Im Grunde läßt sich Enzensbergers skeptischer Blick auf die Überlebenschancen der Zivilisation als Leitmotiv seines Denkens bis zu den Anfängen seines Schaffens zurückverfolgen. Nur in der kurzen, revolutionär bewegten Phase der späten 1960er Jahren ließ er sich zu emphatischen Erwartungen einer besseren Welt hinreißen. Seitdem reagiert er auf die Herolde des Positiven allergisch.

Aber Enzensberger gehört auch nicht zu der Schar der Kulturpessimisten, die mit Kassandrarufen über den „Untergang der Werte“ Bestseller auf Bestseller landen. Was er von seinen Lesern verlangt, ist viel: am Anblick der Abgründe der Gegenwart nicht zu verzweifeln oder nach wohlfeilen Auswegen zu rufen, sondern ihn mit kühlem Blut auszuhalten. Wer das schafft, wird von dem großen Stilisten Hans Magnus Enzensberger mit einem Feuerwerk von Geistesblitzen belohnt, die in der deutschen Intellektuellenlandschaft ihresgleichen suchen.

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Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

1 Kommentar

  • Lieber Herr Herzinger auch auf Seite 61 in den „Endzeit-Propheten“(1997) mein derzeitiger Honigtopf, „reiben“Sie sich an H.M. Enzensberger und zeichnen einen großen Bogen, der, wie ich geneigt bin zu denken, mit prophetischer Klarheit auf unsere Gegenwart trifft. Ihre schöne Würdigung empfiehlt sich auch als scharfe Linse, die, wenn man den Blick vom Süden in den Nord-Osten schwenkt, Putin als „Schreckensmann und radikalen Verlierer“ sichtbar macht.
    Wer sehen kann, der sehe….
    Ich danke Ihnen für diesen Beitrag

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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