Eichmann. Wie die „Banalität des Bösen“ banalisiert wurde

Vor 60 Jahren, am 11. April 1961, begann in Jerusalem der Prozess gegen Adolf Eichmann, den Organisator der NS-Judenvernichtung. In der jungen Bundesrepublik löste der Prozess einen das deutsche Nationalbewusstsein in den Grundfesten erschütternden Schock aus. Hannah Arendts These von der „Banalität des Bösen“ diente der Nachkriegsgeneration dazu, es wieder zu befestigen. Doch Arendts Formel taugt in Wahrheit nicht zu einer falschen Universalisierung des Holocaust.

Der Eichmann-Prozess hatte in Israel und Deutschland eine zunächst erstaunlich parallele Wirkung, die im Ergebnis jedoch gegenläufig war. Erstmals kamen durch das Tribunal unerträgliche Einzelheiten über das Grauen der NS-Vernichtungsmaschinerie vor einer breiten Weltöffentlichkeit zur Sprache. Von diesen Schrecken hatte man in beiden Ländern aus unterschiedlichen Gründen möglichst wenig wissen wollen. Im Land der Täter – das Deutschland damals noch im Wortsinne war – gab es offensichtliche Gründe, das ganze Ausmaß der Verbrechen des NS-Regimes und der Verstrickung großer Teile der deutschen Gesellschaft im Verborgenen zu halten. Zu sehr schien die junge Bundesrepublik auf die Mitarbeit von Vollstreckern und Handlangern des NS-Systems beim Aufbau des neuen Staats angewiesen zu sein.

Doch die allzu intensive Beschäftigung mit dem Holocaust passte zunächst auch in Israel nicht ins Konzept. Der jüdische Staat, nahezu zeitgleich mit der Bundesrepublik gegründet, musste sich ähnlich wie diese erst einmal ein positives Selbstbild erschaffen, das in die Zukunft wies – was den Bruch mit einer potenziell handlungslähmenden Vergangenheit einschloss. So konzentrierte sich die Identitätsbildung des jungen Staates Israel auf das Ideal des kampfbereiten, wagemutigen Pioniers, das ein neues, starkes und selbstbewusstes Judentum begründen sollte und im Kontrast zu der jahrtausendealten jüdischen Opfergeschichte stand. Die Erinnerung an die fast vollständige Ausrottung der jüdischen Bevölkerung Europas, die ihrer Entrechtung, Entmenschlichung und schließlichen Auslöschung wehrlos ausgeliefert war, musste daher zunächst in den Hintergrund gedrängt werden.

Der Prozess gegen Eichmann änderte dies auf erschütternde Weise. Der Augenblick, in dem ein führender Organisator der NS-Mordmaschinerie vor einem israelischen Gericht „Haltung annahm“, wie es ein Prozessbeteiligter formulierte, unterstrich dramatisch die Notwendigkeit eines eigenständigen, starken jüdischen Staates als existenzielle Garantie für das jüdische Volk. Die Aussagen der überlebenden Zeugen der Shoa vor Gericht ließen Schmerz und Verzweiflung über die Ohnmacht der Vergangenheit mit voller Wucht aufbrechen. Indem die Untaten eines der wichtigsten Administratoren der Judenvernichtung jedoch von einem souveränen israelischen Gericht abgeurteilt wurden, konnte die entsetzliche Vergangenheit in das Selbstbild einer sich aus unsäglichem Leid erhebenden, verteidigungsbereiten jüdischen Nation integriert werden.

Rationalisierung des Unfassbaren

Auch in Deutschland bedeuteten die Enthüllungen des Eichmann-Prozesses das Ende des effektiven Beschweigens der Abgründe der jüngsten Vergangenheit. Insbesondere in großen Teilen der ersten Nachkriegsgeneration, die sich selbst nicht schuldig gemacht hatte, lösten sie bodenlose Erschütterung aus – nicht nur wegen der schockartig vor Augen geführten Tatsache, dass solche Verbrechen überhaupt möglich waren, sondern auch angesichts der Erkenntnis, welche ungeheure Bürde von Schuld und Scham den jüngeren Deutschen damit von der Vätergeneration aufgeschultert worden war. Der Eichmann-Prozess gab so den Bestrebungen mächtigen Auftrieb, nun auch von deutscher Seite aus die Verfolgung von NS-Untaten endlich intensiver zu betreiben. Vom Eichmann-Prozess führte eine direkte Linie zum Frankfurter Auschwitz-Prozess, der Ende 1963 begann und die Ära einer systematischen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit einläutete (die auf juristischer Ebene gleichwohl auf beschämende Weise unzureichend blieb).

Während das Aufbrechen der Erinnerung in Israel also letztlich zur Affirmation der jüdischen Nationalidee führte, stellte sie in Deutschland jede Art von Rekonstruktion eines handhabbaren nationalen Selbstgefühls in Frage. Mit der Erschütterung stellte sich deshalb sogleich auch das Bedürfnis nach einer Rationalisierung des schlechthin Unfassbaren ein. Denn nur eine universell verallgemeinerbare Erklärung für die nie dagewesene Dimension des Verbrechens versprach Entlastung von der niederschmetternden Aussicht, als Angehöriger einer Nation weiterleben zu müssen, deren Name für ein einmaliges, in letzter Instanz ebenso unbegreifliches wie unsühnbares Menschheitsverbrechen stand. Nur wenn man eine überhistorische, allgemein gültige Ursache für das Entsetzliche identifizieren konnte, die bis in die Gegenwart hineinwirkte, konnte man mit der Abtragung der unermesslichen Schuld und Scham beginnen – nämlich durch die Bekämpfung dieser vermeintlichen Ursache als Vorbeugung einer möglichen Wiederholung der Vergangenheit.

In dieser Konstellation fand Hannah Arendts Formel von der „Banalität des Bösen“ in Deutschland starken Widerhall. Während Arendts Prozessbericht „Eichmann in Jerusalem„, dem diese Formel entnommen war, in Israel und der jüdischen Welt wegen der angeblichen Kälte ihres Tonfalls sowie mancher zumindest missverständlicher Äußerungen über die Verstrickung der Judenräte auf heftige Ablehnung stieß, bot das Konstrukt einer „Banalität des Bösen“ für die deutsche Selbstverständigungsdebatte einige Vorteile. Es widersprach zum einen jener Dämonisierung der NS-Täter, die nach dem Krieg zur Exkulpierung des „deutschen Volkes“ gedient hatte. Eichmann war, das schien Arendts Formel zu sagen, eben keine abartige Ausnahme, sondern eine Durchschnittspersönlichkeit, die erst im Kontext eines auf Vernichtung ausgelegten Apparats die in ihr schlummernde Mordenergie freisetzte.

Steckt in allen ein Eichmann?

Dieses Bild entsprach der Wahrnehmung, dass zahlreiche NS-Täter nunmehr als unauffällige, scheinbar zu braven Demokraten gewandelte Bürger in der friedfertigen Bundesrepublik lebten. Das Postulat einer „Banalität des Bösen“ schien jedoch auch an eine in der bundesdeutschen Intelligenz – und zwar links wie rechts – weit verbreitete kulturkritische Skepsis gegenüber einer vermeintlich allmächtigen technischen Rationalität anschließbar zu sein, die den Menschen auf eine Funktion im Räderwerk reduzierte. Wenn eine „banale“ Person wie Eichmann zum skrupellosen Organisator eines gigantischen Massenmordes aufsteigen konnte, so würden sich unter vergleichbaren Umständen wohl zahllose neue „Eichmänner“ finden. Auf diese Weise banalisiert, konnte Eichmann in der linken Gesellschaftskritik nun zum Prototypen des „autoritären Charakters“ und zur Negativschablone einer antirepressiven Pädagogik werden.

Derartiges freilich hatte Hannah Arendt mit ihrer Feststellung einer „Banalität des Bösen“ ausdrücklich nicht im Sinn gehabt. Ihre Intention war nicht, die persönliche Schuld Eichmanns wie die Besonderheit des NS-Verbrechens hinter einer anonymen Maschinerie verselbstständigter technischer Rationalität verschwinden zu lassen. Bald nach dem Erscheinen ihres Buches stellte sie richtig, sie habe keineswegs sagen wollen, dass in „jedem von uns ein Eichmann“ stecke. Sie habe mit ihrer Formel vielmehr eine radikale Form der „Dummheit“ gemeint, die unfähig sei, in menschlich verallgemeinerbaren moralischen Kategorien zu denken.

Hannah Arendt musste sich nun vermehrt dagegen zur Wehr setzen, dass ihre Gedanken über die „Banalität des Bösen“ in der deutschen Debatte ihrerseits systematisch banalisiert wurden. So vertrat ausgerechnet Hans Magnus Enzensberger, einer der klügsten Köpfe unter den deutschen Intellektuellen seiner Zeit, 1964 die These, im Zeitalter atomarer Massenvernichtungswaffen seien Politik und Verbrechen zu einer Einheit verschmolzen. Nicht, dass Deutsche dieses Menschheitsverbrechen realisiert hätten, sondern dass es in der Form des Atomkriegs überall wiederholt werden könne, sei an Auschwitz das am meisten Beunruhigende.

Arendt kontra Enzensberger

Hannah Arendt warf ihm daraufhin in einem offenen Brief „Escapismus“ vor, lasse er doch das Spezifische der NS-Verbrechen „in der Sauce des Allgemeinen untergehen“ und so das Besondere deutscher Schuld in einem vagen Allgemeinen aufgehen. Eine falsche Universalisierung von Auschwitz lasse vergessen, dass es sich bei der Judenvernichtung um ein einzigartiges und spezifisch deutsches Verbrechen gehandelt hatte. Dieses habe, so Arendt, insofern ja gerade einen partikularen Charakter gehabt, als es nun einmal von einem bestimmten Land, nämlich Deutschland, ausging und sich gezielt gegen die Juden als einer einzelnen, als einzige zur Ausrottung bestimmten Menschengruppe richtete.

Ungeachtet dieser Einwände verfestigte sich das Bild vom „banalen“ Eichmann hierzulande jedoch unaufhaltsam zu einem Klischee, mit dem jedwede bürokratische Mittäterschaft an tatsächlichen oder vermeintlichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Verbindung gebracht wurde. Auf besonders plakative Weise kam diese Verkürzung in Heiner Kipphardts 1983 uraufgeführten Schauspiel „Bruder Eichmann“ zum Ausdruck. Im zahlreichen „Analogieszenen“ suggeriert Kipphardt, Vorgänge wie der Abwurf der Atombombe in Hiroshima, der Krieg in Vietnam, der Umgang mit den RAF-Terroristen in Stammheim oder mit Asylbewerbern in der Bundesrepublik, aber auch die Entwicklung von Gen-Technologie drückten das Fortleben eines „Prinzips Eichmann“ aus. In jeden Funktionsträger der US-Administration, in jeden Biochemiker der Lebensmittelindustrie und Beamten der deutschen Ausländerbehörden konnten friedensbewegte und öko-alternative Zivilisationsskeptiker nun Eichmanns Antlitz des Bösen hineinprojizieren. Bald schon sollte diese Entlastung von der Spezifik deutscher Schuld in eine obsessiv betriebene „Israel-Kritik“ münden, die dem jüdischen Staat nun seinerseits unterstellte, „Eichmänner“ hervorzubringen.

Der Abgrund der sich mit dem Eichmann-Prozess aufgetan hatte, war so mit dem Schutt einer banalisierten Modernekritik wieder zugeschüttet – und das kurzzeitig ins Wanken geratene deutsche Selbstbewusstsein damit erfolgreich restabilisiert worden.

Der Text ist die überarbeitete und ergänzte Fassung meines Artikel, der im April 2011 in der „Welt“ erschienen ist.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

2 Kommentare

  • Die Banalität des Bösen beruht auf jenem Opportunismus, der von Moral und Ethik nichts wissen will. Eichmann hätte durchaus auch bei der Bundesbahn erfolgreich Karriere machen können, wenn er den zwanzig Jahre später geboren worden wäre. Sich in jedermanns Dienst zu begeben um sich die eigenen Fähigkeiten zu beweisen, nicht danach zu fragen, wem und welcher Sache man da eigentlich dient, ist das Problem.
    Kippbardt und Co. drehten den Spieß einfach um. Sie fragen so wenig wie Eichmann nach der Moral, die einer Handlung steckt, sondern versuchten uns weiszumachen, dass wir so wenig, wie Eichmann ein Gewissen hätten. Damit wird jegliche Wertorientierung in Frage gestellt. Ob ich zur Waffe greife um jemanden zu überfallen oder um mich zu verteidigen macht für sie keinen Unterschied.

    • Wie sich inzwischen erwiesen hat, war Eichmann nicht der gesinnungslose Funktionsträger, als den er sich vor Gericht selbst darzustellen versucht hat, um dem Todesurteil zu entgehen, sondern ein überzeugter, fanatischer Antisemit. Tonbandaufnahmen des Journalisten Willem Sassen aus den späten 50er Jahren dokumentieren, dass Eichmann die Judenvernichtung bis zuletzt für eine historische Großtat hielt und nur bedauerte, dass er sie nicht zu Ende führen konnte. Diesen entscheidenden Anteil der Ideologie als Motiv für das Handeln totalitärer Mörder hat Hannah Arendt in ihrer Theorie unterschätzt oder doch zumindest nicht hinreichend deutlich gemacht. Das macht ihre Thesen bis heute angreifbar. Man tut ihr jedoch Unrecht, wenn man ihre Formel von der „Banalität des Bösen“ mit der Banalisierung Eichmanns zu einer Art Allerweltstäter identifiziert, der unter jeglichen Umständen gleichermaßen effektiv funktioniert hätte.

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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