Der vieldeutige Jude und die Abgründe der „Israelkritik“

Wo enden legitime Einwände gegen tatsächliche oder vermeintliche Verfehlungen der israelischen Regierungspolitik, und wo beginnt die affektive oder absichtsvolle Stimmungsmache gegen Juden und ihren Staat? Wo schlägt „Israelkritik“ in Antisemitismus um?

Diese Fragen, über die derzeit einmal mehr heftig gestritten wird, führen geradewegs zu den blinden Flecken und Abgründen der westlichen Zivilisation. Ihre Beantwortung beginnt mit dem Eingeständnis, dass selbst ein mustergültiger Demokrat nicht gegen stereotype Projektionsbilder immun ist, die sich an „den Juden“ festmachen. Und sie setzt die Einsicht voraus, dass das Wissen über das Judentum und die ideellen und historischen Grundlagen des Staates Israel in unserer vermeintlich so aufgeklärten und von den Verirrungen der düsteren Vergangenheit geläuterten modernen Gesellschaft weit geringer und viel weniger tief verankert ist, als es die offizielle Erinnerungs- und Geschichtsaufarbeitungskultur suggeriert.

Das gilt nicht etwa nur für die „Stammtische“, sondern nicht weniger für die sogenannten gebildeten Schichten. Dieses Wissen wird nach wie vor von Klischees und Stereotypen überlagert, die sich dann als besonders schwer zu identifizieren erweisen und gegen die oft gerade dann besonders schwer zu argumentieren ist, wenn sie im guten Gewissen der besten moralischen Absichten geäußert werden.

Keine abzuschließende Definition von Identität

Schon bei den scheinbar einfachsten Fragen bricht in Gesprächen über Israel oft heftige Verwirrung aus. Was ist „das Judentum“ überhaupt, was macht seine Identität aus? Ist es „eine Religionsgemeinschaft“ wie eine ebenso gängige wie klischeehafte Wendung lautet? Tatsächlich gibt es auch unter den Juden zahlreiche Atheisten und Agnostiker, und sie hören damit doch nicht auf, Juden zu sein. Ist es vielleicht eine Nation? Offenbar nicht; man kann als Jude sehr wohl ein hundertprozentiger, patriotischer Amerikaner, Franzose oder Australier sein und ist damit doch nicht weniger ein Jude, als es ein Israeli ist. Bilden die Juden vielleicht „ein Volk“, eine ethnische oder kulturelle Gemeinschaft? In Israel strömen Juden aus aller Welt zusammen, deren kulturelle Traditionen zum Teil grundverschieden und deren lebensweltliche Konflikte untereinander daher so heftig sind, wie sie in einer offenen, multiethnischen Gesellschaft nur sein können.

Und worauf gründet sich dann der Staat Israel? Auf Religion? Auf Abstammung? Auf Erinnerung an eine gemeinsame Geschichte? Auf die säkularen Werte der Aufklärung und die demokratischen Traditionen der bürgerlichen Revolution, auf sozialistische Ideale, wie sie der frühe Zionismus hochgehalten hat, auf das westliche Prinzip der Willensnation? Alle diese Elemente spielen eine Rolle, doch keines definiert das Selbstverständnis Israels hinreichend. Darüber, welche dieser Elemente mehr und welche weniger bestimmend sein sollen, finden in Israel fortlaufend erbitterte Debatten statt.

Diese offene Identitätsfrage ist es, die am Judentum seit jeher verwirrt und herausfordert: dass seine Essenz nicht eindeutig, nicht abschließend definierbar ist. Und dass Israel, das seine Staatlichkeit auf der Basis solcher Uneindeutigkeit behauptet, damit auch die homogenen Identitätsmuster anderer Nationen in Frage stellt. Die Angst vor Auflösung und „Zersetzung“, die durch das Judentum, dieses Urmuster einer heterogenen Identität, ausgelöst wird, war von jeher der Nährboden für das antisemitische Stereotyp.

Umdeutung Israels zur „homogenen Volksgemeinschaft“

Dabei ist der Antisemitismus ein doppelter Versuch, sich von dieser unterschwellig bohrenden Beunruhigung zu entlasten. Einerseits betrachtet der Antisemit die jüdische Vieldeutigkeit mit Argwohn und Hass. Ist es nicht der ewig unintegrierbare Jude, fragt sich der Antisemit, der die Bildung einer homogenen Volksgemeinschaft verhindert, ist er es nicht, der durch seinen Anspruch, in dieser Gemeinschaft gleiche Rechte zu genießen, ohne vollständig dazuzugehören, das verwirrende individualistische Prinzip in die geschlossene Gemeinschaft trägt?

Andererseits jedoch ist der Antisemit überzeugt, dass diese Inhomogenität nur eine perfide Täuschung sei, dass es sich beim Judentum in Wirklichkeit um eine im Geheimen verschworene uniforme Gemeinschaft handele, die diese Homogenität anderen Völkern missgönne und sie daher gezielt zerstören wolle. So projiziert der Antisemitismus die eigene Homogenitätssehnsucht auf das ungreifbare Prinzip „Jude“. Das so erzeugte Zerrbild des Juden ruft er dann zum Kronzeugen für die Legitimität der eigenen Gleichschaltungs- und Säuberungsgelüste um.

Im „klassischen“ Antisemitismus des späten 19. Jahrhunderts geschah dies unter dem Vorzeichen pseudowissenschaftlicher Rassentheorien. Nach der Diskreditierung der Rassenideologie durch die nationalsozialistische Ausrottungspolitik musste sich aber auch der ideologische Antisemitismus „modernisieren“. Die Vordenker der französischen „Nouvelle Droite“ etwa, die seit den späten 1960er Jahren an einer „Reformation“ des rechtsextremen Gedankenarsenals arbeiteten und aus deren Ideologemen heute die Hauptströmungen der europäische radikalen Rechten schöpfen, traten sogar ausdrücklich als „Freunde“ und Bewunderer der Juden auf. Israel stellten sie als Vorbild eines ethnisch fundierten Staates hin und die Juden als ein homogenes Volk, das über Jahrhunderte hinweg seine „Reinheit“ bewahrt habe. So konnten die Rechtsnationalisten ihre antisemitischen Zersetzungsfantasien über die Verunreinigung völkischer Identität in der Moderne unter Berufung auf das angebliche Vorbild des Judentums weiterverfolgen – das sie zu einer gegen das Gift der Multiethnizität immunen „Volksgemeinschaft“ umgedeutet hatten.

Wiederkehr antisemitischer Verschwörungsmythen

Auf dieser Umdeutung fußt heute der Versuch rechtsnationaler, von Antisemitismus durchtränkter Parteien wie der AfD, sich als besonders eifrige Unterstützer Israels zu profilieren – von dem sie irrigerweise annehmen, es stehe im Krieg gegen „den Islam“, und das sie daher als Vorposten der Verteidigung des „christlichen Abendlands“ betrachten. In Wahrheit existiert in Israel eine Religionsvielfalt und -freiheit wie in kaum einem anderen Land der Welt. Unglücklicherweise wird die ideologische Verzerrung der israelischen Realität durch europäische völkische Theoretiker heute jedoch auch von Teilen der israelischen nationalen Rechten absorbiert. Auf der Basis eines gemeinsamen ethnisch-nationalistischen Staatsverständnisses kommt es von dieser Seite zu einer Annäherung an semiautoritäre Regierungen wie der Viktor Orbans und an das autoritäre Regime Wladimir Putins.

Es erschreckt, dass in der gegenwärtigen Epoche der Transformation der Nationalstaaten in supranationale Gebilde mit ethnisch hetereogenen Staatsvölkern, die überkommenen verschwörungsmythologischen Phantasmen des Antisemitismus wieder massiv wachgerufen werden – aktuell im Biotop der Corona-Leugner, die in der Virus-Pandemie nichts als eine Geheimoperation im Verborgenen agierender „Eliten“ erkennen wollen. In ihren Reihen mischen sich völkisch-nationalistische Irrationalisten mit esosterischen Lebensreformmystikern unterschiedlicher Spielarten – eine Kombination, die auf das frühe 20. Jahrhundert zurückgeht, als in einer Art antiliberaler Ursuppe deutschtümelnd-rassistische, sozialistisch-anarchistische und freireligiös-schwärmerische Strömungen noch nicht deutlich geschieden waren.

Was verallgemeinernd und tendenziell verharmlosend als „Rechtspopulismus“ bezeichnet wird, ist nicht zuletzt Ausdruck kollektiver Verunsicherung angesichts neuester, in vieler Hinsicht unwägbarer Umbrüche und Veränderungsprozesse. Es scheint fast zwangsläufig, dass im Zuge der dadurch ausgelösten Fluchtbewegung in altes Homogenitätsdenken die überkommene Verdachtsstruktur gegen den undurchschaubaren, nicht fassbaren „Juden“ reaktiviert wird.

Holocaust-Relativierung von links

Freilich existiert der Antisemitismus als geschlossenes, ideologisch verhärtetes Welterklärungsmodell im Westen nur noch im äußersten extremistischen Spektrum, im rechtsradikalen und neonazistischen ebenso wie im islamistischen. Milieu. Versatzstücke. die der antisemitischen Tradition entstammen. flottieren aber frei und sind weithin, bis in die ehrbare politische Mitte, bei Alt und Jung, oft unterschwellig wirksam. Etwa das Klischee vom angeblichen Selbstverständnis der Juden als einem „auserwählten Volk“ – das vom antisemitischen Ressentiment fälschlicherweise so ausgelegt wird, als verbinde sich damit die Herabsetzung anderer Völker als minderwertig. Woraus die Schlussfolgerung gezogen wird, das Judentum sei ja schon von seinem Ursprung her „rassistisch“. Und Israel exekutiere diesen „Rassismus“ heute an den Palästinensern. Wobei die Kritik am Terrorismus der Hamas sowie an der unterdrückerischen und korrupten Herrschaftspraxis der palästinensischen Führung hierzulande nach wie vor mit ungleich geringerem Eifer betrieben wird als die am jüdischen Staatl.

Von links wird verstärkt der Antirassismus und die defizitäre Aufarbeitung der europäischen kolonialistischen Vergangenheit ins Feld geführt, um unterschwellige Affekte gegen die angebliche Vorzugsbehandlung von Israel und den Juden unter dem Vorzeichen der Holocaust-Erinnerung zu schüren. Diese Bestrebungen, den Juden ihre vermeintliche Sonderrolle als Opfer des ultimativen Verbrechens streitig zu machen, beschränkt sich dabei nicht auf die extreme Linke. Auch in der linksliberalen Mitte werden die Stimmen lauter, die eine „einseitige“ Fixierung auf den Kampf gegen den Antisemitismus und auf das Holocaust-Gedenken kritisieren – und diese implizit dafür verantwortlich machen, dass dem Problem der Geschichte und der Gegenwart des Rassismus, ob gegen Schwarze oder Muslime, nicht die gebotene Aufmerksamkeit geschenkt werde. Zurecht erkennen Beobachter wie der Essayist Thierry Chervel darin eine subtile Holocaust-Relativierung von links.

In Deutschland weist das Sprechen über Israel nach wie vor seine besonderen Fallstricke auf. So impliziert die Rede von der „besonderen Verantwortung“ des heutigen Deutschland für den jüdischen Staat unterschwellig, das Land der Täter, das aus seiner unheilvollen Geschichte die richtigen Lehren gezogen zu haben glaubt, besäße auch eine besondere Verpflichtung, den jüdischen Staat zu Ordnung zu rufen, wenn er seinerseits auf Irrwege zu geraten droht. Zuletzt wurde das deutlich, als sich der Deutsche Bundestag in einer Entschließung gegen Pläne der israelischen Regierung wandte, Teile des Westjordanlands zu annektieren. Dass die deutsche Politik glaubt, sich vorauseilend gegen noch relativ vage Absichten positionieren zu müssen, mag ja angehen. Doch in wie vielen anderen Fällen, in denen Deutschland mit der Politik anderer Staaten nicht einverstanden ist, nimmt dies gleich die Form einer Parlamentsentschließung an?

Die israelischen Annexionspläne haben sich mittlerweile freilich ganz unabhängig von diese deutschen Moralappellen fürs erste erledigt – durch einen Zug nahöstlicher Realpolitik, an der Deutsche und Europäer zunehmend keinen Anteil mehr haben. Die nicht zuletzt auf Vermittlung und Drängen der USA zustande gekommene Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten, für die Israels Ministerpräsident seine Annexionsabsichten auf Eis gelegt hat, dokumentiert Entwicklungen in der Region, an die Deutsche und Europäer weitgehend den Anschluss verloren haben. Deutsche Ermahnungen in Richtung Israel hängen so immer mehr auf seltsame Weise im luftleeren Raum und erscheinen zunehmend als Kompensationshandlungen angesichts des realen Einflussverlusts auf die Verhältnisse im Nahen Osten.

Andererseits erinnert die hierzulande häufig zu hörende Ermahnung, „gerade in Deutschland“ und „als Deutscher“ dürfe man dieses oder jenes nicht über Juden und Israel sagen, an die Haltung eines furchtsamen Hausvaters, der den Streit in der Familie mit dem Hinweis ersticken will, was denn die Nachbarn denken sollen. Sie suggeriert damit untergründig, dass die israelfreundliche Haltung Deutschlands gar nicht authentisch sei – dass man sich vielmehr über den jüdischen Staat anders äußern würde, wäre man nicht durch historische Schuld belastet. So reizen diese Beschwichtigungsversuche ungewollt erst recht die Lust latenter Antisemiten, ihrem antijüdischen Ressentiment freien Lauf zu lassen.

Umgang mit einer westlichen Demokratie

Israel gegen alle Angriffe auf sein Existenzrecht und auf das Lebensrecht seiner Bürger vorbehaltlos zu verteidigen, müsste für freiheitsliebende Deutsche – nicht weniger als für Amerikaner, Franzosen oder Briten – schon deshalb eine Selbstverständlichkeit sein, weil es sich bei Israel um eine Demokratie mit westlichen rechtsstaatlichen, pluralistischen Standards handelt, und weil der Angriff auf die israelische Bevölkerung somit mittelbar auch ein Angriff auf uns selbst ist. Dass die israelische Demokratie heute ähnlichen inneren Gefahren ausgesetzt ist wie die vieler anderer westlicher Länder sollte uns in dieser Solidarität unter Demokraten noch bestärken. Herausforderungen wie die bedrohlich wachsende politisch-gesellschaftliche Polarisierung und Bestrebungen neoautoritärer Strömungen, den Rechtsstaat auszuhebeln, die auch in Israel massiv zu beobachten sind, betreffen alle demokratischen Nationen und können nur von ihnen gemeinsam gemeistert werden.

In diesem Bewusstsein kann man Israel kritisieren wie jedes andere befreundete Land. Einigermaßen qualifizierte Kenntnisse der realen Verhältnisse und Nöte in diesem Lande ebenso wie von der Komplexität der Konfliktlage im Nahen Osten dürften der Qualität solcher Kritik freilich keinesfalls schaden.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

1 Kommentar

  • […] Doch nicht nur auf der äußersten Rechten, sondern auch in Teilen der radikalen Linken sind antisemitische Affekte virulent. Spätestens seit Karl Marx das Judentum mit dem Kapital gleichgesetzt hat, ist der linke Antikapitalismus oftmals in antisemitische Agitation umgekippt – namentlich in den kommunistischen Diktaturen. Aktuell äußert sich das linke antijüdische Ressentiment vorwiegend unter dem Deckmantel des „Antizionismus“, der Israel als einem vermeintlich „rassistischen“ Gebilde das Existenzrecht abspricht. (Siehe dazu: “Der Antisemitismus und die Lebenslüge der Linken” und: “Der vieldeutige Jude und die Abgründe der “Israelkritik”.) […]

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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