Ukrainische Friedensformel: Der Weg zum Ende des Kriegs

Die ganze Perfidie der Kreml-Parteien AfD und BSW kam am vergangenen Dienstag zum Vorschein, als deren Abgeordnete die Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Plenum des Bundestags boykottierten. In nahtloser Übereinstimmung mit den Vorgaben der Putin-Propaganda führten diese Antidemokraten als Begründung an, Selenskyi befördere „eine hochgefährliche Eskalationsspirale“ und wolle uns in den Dritten Weltkrieg treiben. Im diametralen Gegensatz zu diesen lügnerischen Denunziationen, mit denen die Lautsprecher des Kreml auf dreiste Weise Täter-Opfer-Umkehr betreiben, drängt in Wahrheit niemand intensiver auf einen schnellstmöglichen Frieden als der ukrainische Präsident und das gesamte ukrainische Volk. Dabei geht es allerdings um einen Frieden, der gerecht und nachhaltig sein muss, und der nicht einer Kapitulation der Ukraine und des Westens vor den verbrecherischen Vorherrschaftsansprüchen des völkermörderischen russischen Aggressors gleichkommt. Die Prinzipien, auf denen ein solcher gerechter Frieden beruhen muss, und der Weg, auf dem er erreicht werden kann, sind in der von Präsident Selenskyj vor der UN-Generalversammlung dargelegten ukrainischen Friedensformel festgehalten.

Während in den hiesigen Medien jedoch verstärkt falsche Friedensfreunde das Wort führen, die den Ukrainerinnen und Ukrainern im Namen des „Realismus“ (in Wirklichkeit aber aus einer Mischung aus Inkompetenz sowie Empathielosigkeit und Herablassung gegenüber den Opfern des russischen Genozids) mehr oder weniger unverhohlen nahelegen, sich um des lieben Friedens willen mit der Abtrennung großer Teile ihres Territoriums abzufinden – und die solche Ratschläge schamloserweise auch noch im Timbre geheuchelter Sorge um das Wohl des ukrainischen Volkes erteilen -, findet eine nähere Beschäftigung mit den Inhalten der ukrainische Friedensformel und den Perspektiven, die sie aufzeigt, bei uns kaum statt.

Dies zumindest sollte der globale Friedensgipfel am 15. und 16. Juni in der Schweiz ändern können. Kurz vor diesem Großereignis rufen internationale Experten die Weltgemeinschaft eindringlich dazu auf, sich auf der Basis der ukrainischen Friedensformel zu vereinen, um einen globalen Friedensprozess in Gang zu setzen, der Russland zur Respektierung des Völkerrechts und der grundlegenden Gebote der Humanität zwingen soll. Wenn Sie diese Zielsetzung teilen: Zusätzlich zu den 104 Erstunterzeichnern sind weitere Unterstützer willkommen. Der Aufruf kann hier unterschrieben werden.

Der Aufruf im Wortlaut:

„Am 15. und 16. Juni ist die Schweiz Gastgeberin des ersten globalen Friedensgipfels. Er wird auf Ersuchen der Ukraine von der Schweiz organisiert. Ziel des Gipfels ist es, einen Friedensprozess mit globalem multilateralem Engagement anzustoßen, der zu einem gerechten und nachhaltigen Frieden für die Ukraine führen soll. Um dieses Ziel zu erreichen, wird auf dem Gipfel die hochrangige politische Plattform für die Umsetzung der ukrainischen Friedensformel ins Leben gerufen.

Diese Friedensinitiative wurde erstmals vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj auf dem G20-Gipfel im November 2022 vorgestellt. Die Formel bietet Antworten auf neue und seit langem bestehende Herausforderungen, die durch die russische Aggression in der Ukraine entstehen und globale Auswirkungen haben. Zehn Punkte der Formel decken die politischen, sicherheitspolitischen und humanitären Dimensionen einer möglichen Friedenslösung ab.

Die Friedensformel zielt darauf ab, globale Lösungen für die Wahrung und Durchsetzung der Grundsätze des Völkerrechts zum Wohle der gesamten Weltgemeinschaft anzubieten – insbesondere für die Länder, die mit den Folgen bewaffneter oder von Menschen verursachter Katastrophen auf ihrem Territorium konfrontiert sind. Der Eröffnungsgipfel im Juni 2024 wird sich mit Fragen der nuklearen und energetischen Sicherheit, der Nahrungsmittelsicherheit, der Freiheit der Schifffahrt sowie Fragen des Austauschs von Kriegsgefangenen und der Rückführung von Zivilisten und Kindern befassen, die unrechtmäßig aus der Ukraine verschleppt wurden.

Die Erfahrungen der Ukraine mit der Verletzung früherer Friedensabkommen durch Russland und den erfolglosen Versuchen bilateraler Verhandlungen mit Russland machen es für die Ukraine zwingend erforderlich, anstelle bilateraler Verhandlungen – selbst unter Beteiligung der respektvollsten Vermittler – ein globales multilaterales Engagement für eine gemeinsame nachhaltige Lösung des Konflikts anzustreben .

Vorübergehende Waffenstillstände und neue Rückzugslinien werden das Problem der anhaltenden Aggression nicht lösen, solange russische Truppen auf ukrainischem Territorium verbleiben. Deshalb müssen alle Vorschläge zur Einfrierung des Konflikts, die in anderen Friedensinitiativen enthalten sind, als unpraktisch und kurzsichtig zurückgewiesen werden. Ziel des Gipfels im Juni ist daher die Schaffung einer gemeinsamen Plattform für Diskussionen und Zusammenarbeit bei der Suche nach einer praktischen und systematischen Konfliktlösung.

Erstens stimmen die Punkte der Friedensformel mit den Normen und Prinzipien überein, die in der Resolution ES-11/6 der Generalversammlung der Vereinten Nationen „Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen zur Erreichung eines umfassenden, gerechten und dauerhaften Friedens in der Ukraine“ dargelegt sind, die von 141 UN-Mitgliedsstaaten angenommen wurde. Alternative Friedensinitiativen arbeiten mit Konzepten und Terminologien des Kalten Krieges sowie mit ungerechtfertigten Einflusszonen und quasi-imperialistischen „legitimen Sicherheitsbedenken“, die nicht den modernen Prinzipien des Völkerrechts und der internationalen Beziehungen entsprechen.

Zweitens ist Zeit die wertvollste Ressource. Die aktive Arbeit an den Inhalten der ukrainischen Friedensformel hat vor einem Jahr, Anfang 2023, begonnen. Dabei ging es darum, den thematischen Rahmen jedes der zehn Punkte zu definieren, zehn internationale Arbeitsgruppen ins Leben zu rufen, Länder oder Organisationen zu bestimmen, die den Vorsitz übernehmen, und für jedes davon Aktionspläne auszuarbeiten. Es fanden mehrere Treffen auf der Ebene der nationalen Sicherheits- und politischen Berater der Staats- und Regierungschefs statt. Das NSA-Treffen in Davos im Januar 2024 schloss die technischen Vorarbeiten im Wesentlichen ab und ebnete den Weg für den ersten globalen Friedensgipfel – eine Diskussionsplattform auf hoher Ebene, um die von den Arbeitsgruppen, den Treffen auf Botschafterebene und den Sitzungen der nationalen Sicherheitsberater entwickelten Vorschläge politisch einzubringen.

Drittens: Während alternative Friedensvorschläge auf der Verantwortung eines oder mehrerer internationaler Akteure beruhen, bietet die ukrainische Friedensformel Raum für die aktive Beteiligung von Dutzenden von Ländern an den verschiedenen thematischen Prioritäten. So waren beispielsweise beim Treffen der politischen und sicherheitspolitischen Berater in Davos über 80 Teilnehmer anwesend. Jetzt ist es an der Zeit, diesen Friedensprozess auf höchster politischer Ebene mit der größtmöglichen Beteiligung von Vertretern der Weltgemeinschaft zu starten, um eine gemeinsame Vision zu entwickeln.

Viertens gibt es derzeit keine Voraussetzungen für die Aufnahme von Friedensgesprächen zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation, da der Kreml beabsichtigt, seinen grundlosen Angriffskrieg gegen die Ukraine fortzusetzen. Um den größten internationalen bewaffneten Konflikt in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg zu beenden, müssen jedoch inhaltliche und verfahrenstechnische Lösungen für den Fall vorbereitet werden, dass Russland zu Verhandlungen bereit ist. Die Philosophie der Friedensformel sieht diese Möglichkeit während des zweiten Weltfriedensgipfels vor.

Konzertierter Druck auf Russland

Fünftens ist der Gipfel ein historischer Meilenstein, der die inhaltlichen und verfahrenstechnischen Voraussetzungen für den Friedensprozess schaffen, aber auch den Respekt vor dem System des Völkerrechts wiederherstellen kann. Als Aggressor ist sich Russland der Bedeutung dieses Schrittes bewusst und tut sein Bestes, um den Gipfel zu stören und sein politisches Gewicht zu verringern sowie die internationale Beteiligung an der Veranstaltung zu verringern. Neben den Versuchen, einzelne Führer des sogenannten Globalen Südens zu beeinflussen, versucht der Kreml auch, globale internationale Akteure in seine Pläne einzubeziehen. Wir haben kürzlich Äußerungen über den Wunsch nach alternativen Friedensgesprächen gehört, die während der Vorbereitung des Gipfels aufkamen. Es ist entscheidend, dass die internationale Gemeinschaft diese störenden Schritte ignoriert und den Gipfel aktiv unterstützt und daran teilnimmt.

Heute ist klar, dass Russland nicht bereit ist, in gutem Glauben zu verhandeln. Dies liegt zum Teil daran, dass es keine wirksamen internationalen Mechanismen gibt, um Russland zum Frieden zu drängen. Aufgrund der jüngsten politischen Erfahrungen ist die russische Führung davon überzeugt, dass ihre illegalen Handlungen auf keinen wirklichen Widerstand anderer UN-Mitgliedsstaaten stoßen würden. Daher muss die internationale Gemeinschaft die Kraft finden, die Russische Föderation zu zwingen, den Forderungen der UN nachzukommen – insbesondere den in den UN-Resolutionen verankerten Forderungen, die Aggression und Feindseligkeiten sofort einzustellen und ihre Truppen aus dem gesamten Gebiet der Ukraine abzuziehen.

Der beste diplomatische Weg, den Krieg zu beenden, besteht daher darin, dass die internationale Gemeinschaft konzertierten Druck auf Russland ausübt, damit es die Prinzipien des Völkerrechts als Grundlage der internationalen Beziehungen wiederherstellt. Daran sollten vor allem kleinere Länder interessiert sein.

Darüber hinaus sollten Länder, die eine regionale Führungsrolle beanspruchen und in der internationalen Weltpolitik eine starke Stimme haben wollen, ihre aktive Position zur Unterstützung des Völkerrechts unter Beweis stellen. Jedes Land, das sich als Akteur in der internationalen Politik betrachtet, sollte sich diplomatisch engagieren, um die russische Aggression gegen die Ukraine zu stoppen.

Der Friedensformel folgen

Vor diesem Hintergrund anerkennen wir, Vertreter von Think Tanks und der weltweiten Expertengemeinschaft,

dass die Friedensformel der einzige systematische Vorschlag ist, der auf der Vision eines umfassenden, gerechten und dauerhaften Friedens im Einklang mit der UN-Charta und den Interessen des Opferstaates basiert, der sein legitimes Recht auf Selbstverteidigung gegen illegale Aggression ausübt. Gleichzeitig bietet sie Ideen für Mechanismen zur Verhinderung und Verringerung des Schadens, der durch andere große Kriege und internationale bewaffnete Konflikte verursacht wird.

und fordern die Staats- und Regierungschefs auf:

  • Nehmen Sie auf höchster Ebene am Friedensgipfel teil, um das Bekenntnis Ihres Staates zur UN-Charta sowie zu den Grundsätzen der Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Integrität von Staaten innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen zu demonstrieren;
  • Beteiligen Sie sich aktiv an Diskussionen zu Themen wie nukleare Sicherheit, Nahrungsmittelsicherheit und Freiheit der Schifffahrt sowie zu dringenden humanitären Fragen, um praktische Lösungen für die globalen Auswirkungen, regionalen Bedrohungen und negativen Präzedenzfälle der russischen Aggression in der Ukraine zu finden.
  • Seien Sie bereit, an der Ausarbeitung anderer thematischer Punkte der Friedensformel mitzuwirken, einschließlich der Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine, des Abzugs russischer Truppen und der Einstellung der Feindseligkeiten, der Wiederherstellung der Gerechtigkeit, der Umweltsicherheit sowie der Verhinderung einer Eskalation und Wiederholung der Aggression.
  • Lassen wir uns nicht auf die böswilligen Versuche Russlands oder anderer internationaler Akteure wie China ein, geopolitische und andere Spaltungen in der Welt zu säen, und bekräftigen wir die Einheit der friedliebenden UN-Mitglieder auf der Grundlage der Grundsätze des Völkerrechts.“

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

2 Kommentare

  • Man muss die Perspektive vielleicht etwas erweitern. Putin hält die Krim nun zehn Jahre besetzt. Die Ukraine-affine Bevölkerung ist wohl in größeren Teilen weg. Die Krim gehört auch stärker zum Bewusstsein des Landes als etwa Kaliningrad oder Wladiwostok.
    Daher sollte auch über einen Landtausch nachgedacht werden: Ostpreußen vereinigt im polnischen Staat. Aufhebung des von China als „ungleich“ kritisierten Vertrags über Wladiwostok. Xi kann dies als großen Erfolg verbuchen und verzichtet im Gegenzug – möglichst unauffällig – auf Gebietsansprüche in Taiwan, meinetwegen mit Ausnahme der küstennahen Inselchen. Die Ukraine wird genötigt, auf die Krim zu verzichten, bekommt aber NATO und EU-Mitgliedschaft. Millionen Ukrainer leben ja sowieso schon im jetzigen EU-Gebiet inkl..Polens, da wäre ein gewisser Gebietstausch vertretbar.
    Vermieden wird damit immerhin ein weiterer Krieg Chinas gegen Russland, wenn letzteres durch den Ukraine-Krieg verausgabt wirkt und China eine Chance wittert.

    • Würde der Westen und würden die Vereinten Nationen insgesamt jemals die gewaltsame Verschiebung von Grenzen und verbrecherische Annexionen legitimieren, wäre nicht nur die europäische Friedensordnung, sondern das Völkerrecht insgesamt tot. Und von Großmächten untereinander vereinbarter „Landtausch“ über den Willen der jeweiligen Bevölkerung hinweg ist eine imperiale Praxis des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die mit dem heutigen internationalen Rechtsverständnis absolut unvereinbar ist, von elementaren moralischen Prinzipien ganz abgesehen. Somit sind Ihre freidrehenden globalen Neuordnungsfantasien nicht nur (zum Glück) völlig irreal, sondern auch verwerflich.

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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