Bidens Kapitulation vor Berlin ist Verrat an der Ukraine

Kapitulation vor den Kapitulanten: Joe Biden opfert bei Nord Stream 2 essenzielle Interessen der Ukraine für ein harmonisches Verhältnis zu Berlin – das seinerseits als Erfüllungsgehilfe Putins agiert.

Der vermeintliche Kompromiss zwischen Washington und Berlin zu Nord Stream 2 bedeutet in Wahrheit die Kapitulation von US-Präsident Joe Biden vor dem Bestreben Angela Merkels und der deutschen Bundesregierung, die Realisierung von Putins geostrategisch motiviertem Gaspipeline-Projekt um nahezu jeden Preis durchzudrücken.

Die angeblichen Zugeständnisse, die Berlin machen musste, um von Biden grünes Licht für Nord Stream 2 zu erhalten, sind pure Augenwischerei. Dass Deutschland Strafmaßnahmen ergreifen werde, sollte Moskau das Projekt zu politischen Zwecken einsetzen, ist ein vages Lippenbekenntniss ohne konkrete Substanz. Kann man wirklich glauben, dass Berlin, das sich weder wegen der Vergiftung Nawalnys und der Ermordung eines tschetschenischen Oppositionellen im Berliner Tiergarten, noch wegen der Federführung des Kreml bei der Repression in Belarus oder der russischen Cyberkriegsoperationen gegen westliche Demokratien zu Sanktionen durchringen konnte, nunmehr mutig und entschlossen reagieren wird, sobald Putin sein Gas zu Erpressungmanövern nutzt? Den Kreml-Beschwichtigern an der Spitze von Union und SPD wird im Zweifelfall schon irgendeine Ausrede einfallen, um russische Aggressionsakte nicht als solche einstufen zu müssen und weiter unverdrossen auf noch mehr „Dialog“ mit Putin setzen zu können.

Die von Berlin zugesagte Finanzhilfe für eine Energiewende in der Ukraine mag grundsätzlich löblich sein. Aber das ist eine längerfristige Perspektive, die der Ukraine bei ihrem Widerstand gegen die immer aggressivere Bedrohung durch Putins Russland aktuell nicht weiterhilft. Denn daran, dass Putin auf kein Mittel verzichten wird, die Ukraine unter Druck zu setzen, kann es keinen Zweifel geben. Erst kürzlich hat der Kreml-Herr öffentlich klar gemacht, russische Gaslieferungen an die Ukraine hingen von deren „gutem Willen“ ab.

Ein Hauch von München 1938

Die schlichte, deprimierende Wahrheit ist, dass Biden im Fall Nord Stream 2 die Interessen der Ukraine seinem dringlichen Wunsch nach harmonischen Beziehungen zu Deutschland geopfert hat, das er als seinen maßgeblichen, privilegierten Bündnispartner Nr. 1 in Europa auserkoren hat. Dazu passt, dass Washington Kyjiw kürzlich zu verstehen gab, es möge sich zu dem deutsch-amerikanischen Deal gefälligst still verhalten. Dementsprechend wurde die Ukraine auch nicht an der Aushandlung dieser Einigung beteiligt – ein Hauch von München 1938, als die Tschechoslowakei nicht zu den Verhandlungen über ihr eigenes Schicksal zugelassen wurde.

Joe Biden hatte bei seinem Amtsantritt eine härtere Gangart gegenüber der globalen Aggressionspolitik des Kreml angekündigt und sich die Stärkung der Demokratien sowie ihrer gemeinsamen Handlungsfähigkeit gegenüber autoritären Mächten auf die Fahnen geschrieben. Statt dessen passt er sich offenbar immer weiter der nachgiebigen Linie der EU und namentlich Deutschlands gegenüber Moskau an.

Es ist nicht das erste Einknicken Bidens vor Putin. Zuvor schon hatte er auf harte Gegenmaßnahmen als Reaktion auf die massiven russischen Cyberangriffe gegen sicherheitsrelevante Ziele in den USA verzichtet. Statt dessen legte der US-Präsident Putin beim kürzlichen Gipfeltreffen in Genf – das er dem Kreml-Herrscher ohne Vorbedingungen gewährt hat – eine Liste mit 16 Sektoren der US-Wirtschaft vor, die er als für die Infrastruktur der USA von entscheidender Bedeutung betrachte, und die der Kreml daher nicht angreifen dürfe, ohne mit Gegenschlägen rechnen zu müssen. Auf Putin wirkte dieser vermeintlich clevere Schachzug Bidens indes wie ein Freifahrtschein, andere Ziele ohne Risiko attackieren zu können – was dann auch prompt geschehen ist. 

Und nun ermutigt die als „Kompromiss“ zu Nord Stream 2 getarnte Kapitulation Washingtons Putin zur weiteren Verschärfung seines Aggressionskurses gegen die Ukraine. Erfolgt die fragwürdige Übereinkunft doch just in einem Moment, da die Drohungen des Kreml gegen das Nachbarland eine neue Dimension erreicht haben. Soeben erklärte Putin in einem geschichtspolitischen Grundsatzartikel Russen und Ukrainer (wie auch Belarusen) zu „einem Volk“, das eine „historische Einheit“ bilde. Zudem fabulierte der Kreml-Herrscher in diesem Beitrag von einer stattfindenden „Zwangsassimilierung“ ethnischer Russen durch den ukrainischen Staat und drohte, Moskau werde es nicht hinnehmen, dass „dort lebende uns nahe stehende Menschen gegen Russland benutzt werden.“

Putin plant die Unterwerfung der ganzen Ukraine

Diese Äußerungen sind nicht anders zu verstehen denn als ideologische Vorbereitung der von Putin geplanten Unterwerfung der gesamten Ukraine unter die Herrschaft des russischen Neoimperialismus. Die Mär von den gewaltsam ihrer Herkunft entfemdeten Russen in der Ukraine kann der Kreml als Vorwand benutzen, gegen dieses angebliche Unrecht einzuschreiten – entweder mittels einer offenen militärischen Invasion oder, indem es auf anderen, verdeckten Wegen die staatliche Integrität der Ukraine zerstört.

Noch immer aber weigert sich Berlin, das ganze Ausmaß dieser Bedrohung zur Kenntnis zu nehmen und klammert sich an die Hoffnung, Putin könne durch hartnäckiges gutes Zureden für eine konstruktive Friedenslösung im Donbass gewonnen werden. Doch dessen scheinbare Gesprächsbereitschaft im Normandie-Format hat von Anfang an nur seine wahre Absicht verschleiert, über eine “Lösung” des durch seine Aggression herbeigeführten Donbass-Konflikts die gesamte Ukraine wieder unter die Kontrolle Russlands zu zwingen. Putins Auslegung der Minsker Abkommen läuft darauf hinaus, dass die besetzten Gebiete unter einem „Sonderstatus“ in den ukrainischen Staat reintegriert werden sollen, ohne dass Russland seine Herrschaft über sie aufgeben muss. So würde Moskau einen Fuß in den ukrainischen Gesamtstaat setzen und könnte mittels seiner Statthalter im Donbass massiven Einfluss auf die inneren Angelegenheiten der Ukraine ausüben.

Die „Steinmeier-Formel“, benannt nach Deutschlands damaligem Außenminister, der sie 2014 erfand, baut dem Kreml eine Brücke zur Realisierung dieses Vorhabens. Sie besagt, dass die russisch besetzten ostukrainischen Gebiete einen Autonomiestatus im Rahmen des ukrainischen Staats erhalten und dort Wahlen durchgeführt werden sollten, bevor die Kontrolle der Ukraine über ihre Grenzen wieder vollständig hergestellt ist. Berlin drängt die ukrainische Regierung in jüngster Zeit verstärkt dazu, sich dieser „Steinmeier-Formel“ zu beugen und damit auf ein wesentliches Element ihrer Souveränität zu verzichten. Es macht sich damit indirekt zum Erfüllungsgehilfen der imperialen Absichten Moskaus, mit dem es unbedingt so schnell wie möglich seine Beziehungen „normalisieren“ will. Und auf diese schiefe Bahn der schleichenden Kaptulation vor Putins Vormachtansprüchen droht sich nun auch Washington zu begeben.

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Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

1 Kommentar

  • Trust some of us are lacking a concept at geostrategic level.
    Factors to consider:
    1. Russia and China have similar goals, the colapse of western democracies.
    2. Russia and China have a strong military bound, one delivering the military know how, the other one the economic power base.
    3. Germany has played the Russian/Chinese lackey role ever since 2014, drifting away constantly from the Norther Alliance and espexialy US promoted politics literally promoting a new world order with the two „powers“ as future dominating powers.
    4. US cannot withstand a military-economic confrontation with these two challengers by itself.
    5. Germany mobilized EU against USA for last decade without any sense of responsibility.
    6. To be cleared the role of Deutsche Bank in financing Donald Trump during his election and while in office.
    7. The bad German habit of pooling out the hot coffee pot from fire with someone else’s hand still valid for last 50 years.
    8. It was the only way to bound Germany to a written consent to take action against Russia in case Putin decides to take adverse actions against Ukraine.
    9. What will happen? Probably nothing on the German side even if Russia invades Ukraine. The only gain, the real German politics face will be revealed to the European and International communities. The lack of comittement to western democracies and their supported values. That is the gain.

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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