Russlands Antisemitismus: Putin lässt die Maske fallen

Der Mythos vom angeblich israelfreundlichen Putin ist dahin. Mit seiner faktischen Parteinahme für die massenmörderische Hamas hat das Kreml-Regime seine Maske fallen gelassen. Jetzt kommt unverkennbar zum Vorschein, dass es bis ins Mark von blankem Antisemitismus durchdrungen ist.

Im August 2022 schrieb ich in einem Essay: „Die israelische Sicherheitspolitik, die sonst dafür bekannt ist, die Interessen, Absichten und verborgenen Motive weltpolitischer Akteure sehr realistisch einzuschätzen, hat sich in Bezug auf Putins Russland lange Zeit Illusionen hingegeben. Die Allianz des Kreml mit dem Iran, der die Vernichtung Israels zu seinem Staatsziel erhoben hat, schätzten maßgebliche israelische Strategiefachleute als ein nur temporäres Zweckbündnis ein. (…)

Doch das hat sich als schwerwiegende Fehleinschätzung erwiesen. Im Zuge der Radikalisierung seines antiwestlichen Kurses hat das Putin-Regime seine Beziehungen zum iranischen Regime im Gegenteil immer mehr gefestigt. Im Zeichen des russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine werden sie nun sogar noch erheblich enger. Angesichts der drohenden internationalen Isolation infolge der westlichen Sanktionen baut Russland seine Beziehungen zu Terrorstaaten wie Iran, Syrien und Nordkorea systematisch aus. Dies impliziert eine noch intensivere militärische Zusammenarbeit Moskaus mit Teheran. Je aggressiver aber der Iran sowie seine Stellvertretertruppen in Gaza und dem Libanon gegen Israel agieren, desto größer wird dementsprechend die Gefahr, dass sich an ihrer Seite auch Russland offen gegen den jüdischen Staat wenden könnte.

„Ein engster Freund“

Diese Vorhersage hat sich nun auf schreckliche Weise bewahrheitet. Russland hat nach dem Überfall der Hamas auf Israel und der bestialischen Abschlachtung von 1400 jüdischen Zivilisten de facto Partei für die islamistischen Massenmörder ergriffen. Und erfüllt damit seine Verpflichtung gegenüber seinem Hauptalliierten Iran, der hinter dem Hamas-Terror steckt. Durch seine Drohnenlieferungen trägt der Iran wesentlich dazu bei, dass Russland seine Bombardierung der ukrainischen Zivilbevölkerung und Infrastruktur unvermindert fortsetzen kann. Umgekehrt kann sich das iranische Regime der Rückendeckung Moskaus bei der Realisierung seiner eigenen kriegerischen Ambitionen sicher sein.

Wie der Antisemitismusforscher Joshua Stein auf der Website des Atlantic Council feststellt, hat Russland jahrelang Israels „Forderungen nach Anerkennung der Hamas als Terrororganisation zurückgewiesen und sein Bündnis mit dem antiisraelischen syrischen Diktator Baschar al-Assad vertieft.Am Vorabend des versuchten antisemitischen Pogroms kürzlich auf dem Flughafen Machatschkala in Dagestan „empfing Russland eine Hamas-Delegation in Moskau, was der erste hochkarätige Auslandsbesuch der Gruppe seit dem Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober war. Hamas-Vertreter gelobten Berichten zufolge, russische Staatsbürger unter den im Süden Israels festgenommenen Geiseln bevorzugt zu behandeln, und stellten fest, dass Russland für sie ´ein engster Freund´ sei.“

Unterdessen treibt Putin seine fiktionale Verfälschung der Geschichte, mit der er das kollektive Bewusstsein der russischen Gesellschaft systematisch vergiftet und die ungeachtet ihrer Beteuerung, die richtigen Lehren aus der Vergangenheit gezogen zu haben, wenig geschichtsbewussten westlichen Gesellschaften in die vollständige Verwirrung zu treiben versucht, auf Kosten Israels auf die Spitze. Auf einer Pressekonferenz verglich er jüngst Gaza mit dem belagerten Leningrad im Zweiten Weltkrieg und setzte damit implizit Israels Verteidigungskrieg gegen die terroristische Hamas mit dem Vernichtungskrieg des nationalsozialistischen Deutschland gleich. Bei anderer Gelegenheit prangerte er jüngst die „Ausrottung der Zivilbevölkerung in Palästina, im Gaza-Streifen“ durch Israel an.

Beschönigende Legende

Zu den beschönigenden Legenden über Wladimir Putin, an die im Westen lange Zeit hingebungsvoll geglaubt wurde, gehört, dass man ihm alles mögliche vorwerfen könne – nicht aber, dass er ein Judenfeind sei. Unzählige Male wurde in Kommentaren und Analysen darauf hingewiesen, wie sehr er um gute und enge Beziehungen zu Israel bemüht sei. Dass man Putin diese Pose im Westen nur zu gerne abnahm, ist keine Überraschung. Suchte man dort doch geradezu händeringend nach den Kreml-Herrscher entlastenden Indizien, die es rechtfertigen sollten, dass man ungeachtet seiner zahllosen horrenden Verbrechen weiterhin auf allen Ebenen mit ihm kooperierte.

Bemerkenswert ist aber, dass sich offenbar auch Israel, das üblicherweise sehr genau einzuschätzen weiß, wer seine Freunde und wer seine Feinde sind, von Putins vermeintlichem Philosemitismus blenden ließ. Bei meiner Beschäftigung mit der israelischen Außenpolitik der vergangenen ein bis zwei Jahrzehnte ist mir dieses relativ positive Bild, das sich die führenden Repräsentanten des jüdischen Staats von der Rolle Russland im Nahen Osten machten, stets rätselhaft geblieben. In meinen journalistischen Gesprächen mit israelischen Politikern, Diplomaten und Strategie-Experten habe ich die Frage immer wieder angesprochen, aber – lagerübergreifend – meist mehr oder weniger ausweichende, allgemeine Antworten erhalten. Auch bei jenen Stimmen, die sich keine Illusionen über den autoritären Charakter des Putin-Regimes und die eigennützigen Motive des russischen Autokraten machten, klang bei dessen Beurteilung doch meistens eine Art Grundvertrauen durch, dass er es im Kern mit Israel gut meine – und womöglich sogar dazu beitragen könnte, den Iran einzudämmen. Und das, obwohl die strategische Allianz Russlands mit dem iranischen Regime, das die Vernichtung Israels als seinen eigentlichen Daseinszweck betrachtet, immer enger wurde.

Als Standardbegründung für die weitgehende Vorsicht der israelischen Politik im Umgang mit Russland wurde stets genannt, dass die Stillhalteübereinkunft mit Moskau in bezug auf Syrien nicht gefährdet werden dürfe. Dieses Agreement sieht vor, dass sich die russische und israelische Luftwaffe im syrischen Luftraum miteinander abstimmen, um sich nicht in die Quere kommen, wenn Israel dort Stellungen des Iran und von dessen Stellvertretertruppe Hisbollah bombardiert. Auf der Ebene eines taktischen Realismus war dies gewiss nachvollziehbar.

Beträchtliche Zugeständnisse

Doch die Zugeständnisse, die Israel um dieses begrenzten Vorteils willen dem russischen Aggressorstaat gegenüber zu machen bereit war, waren beträchtlich. So nahm Jerusalem davon Abstand, die Annexion der Krim 2014 zu verurteilen und sich nach dem russischen Überfall auf die ganze Ukraine am 24.2.22 den westlichen Sanktionen anzuschließen. Auch von Waffenlieferungen an die Ukraine sah die israelische Regierung (das heißt, auch die zwischzeitliche Koalition unter den alternierenden Ministerpräsidenten Naftali Bennett und Jair Lapid) ab, obwohl sie nunmehr die UN-Resolution zu Verurteilung der russischen Großinvasion mittrug. Diese inkonsequente Haltung stieß in der israelischen Gesellschaft und selbst in Teilen des Regierungslagers auf heftige Kritik. Doch zu einer grundlegenden Kursänderung gegenüber Russland führte das nicht.

Die hohe Zahl russischer Einwanderer wie die massive Präsenz russischen Geldes in Israel bieten Erklärungsansätze für diese beharrlich russlandfreundliche Einstellung oder doch zumindest ambivalente Haltung gegenüber dem Kreml. Es muss zudem allerdings gesehen werden, dass nicht unerhebliche Teile der israelischen Rechten Putin und seiner autoritären Ideologie auch weltanschaulich durchaus mit einiger Sympathie gegenüberstand.

Besonders Premier Benjamin Netanjahu tat sich in der Hofierung und Aufwertung Putins auf verhängnisvolle Weise hervor. Unvergessen ist der berüchtigte Auftritt des Kreml-Autokraten im Januar 2020 in der Holocaust-Gedenkstätte Jad Vashem anlässlich des 75. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz. Damit erhielt er eine erhabene Bühne bereitgestellt, um seine dreisten Geschichtsfälschungen zu verbreiten und das putinistische Russland als den einzig legitimen Erben des siegreichen Kampfs gegen Hitlerdeutschland anzupreisen. Indem Netanjahu Putin persönlich dorthin geleitete, ließ er deutlich erkennen, dass er den Kremlchef als den bevorzugten Stargast der Veranstaltung betrachtete, bei der doch eigentlich die Überlebenden und ihre Angehörigen im Mittelpunkt hätten stehen müssen.

„Russland wird bezahlen“

Vor der Gedenkstunde weihte der israelische Premier in Jerusalem gemeinsam mit dem Kremlchef ironischerweise ausgerechnet ein Denkmal für die Opfer der Belagerung Leningrads – die Putin heute mit der Abriegelung Gazas durch Israel gleichsetzt – ein und ließ die bereits versammelten Gäste der Gedenkveranstaltung dafür eine Stunde warten. Kurz: Netanjahu nobilitierte den Kreml-Autokraten hier wie bei anderen Anlässen zum lupenreinen Antifaschisten. Dass Putin bei dieser Gelegenheit die Blockade Leningrads als eines der schlimmsten Verbrechen der Geschichte gleichrangig neben den Holocaust stellte, wurde von Netanjahu wie von anderen israelischen Offiziellen, die sonst zu Recht empfindlich auf Relativierungen der NS-Judenvernichtung reagieren, nicht beanstandet.

Netanjahu hat nach seiner Rückkehr ins Amt des Regierungschefs Anfang dieses Jahres, die von Putin bezeichnenderweise offiziell begrüßt wurde, die Wirtschaftsbeziehungen mit Russland sogar noch vertieft. Das alles aber könnte sich nun radikal ändern. Israel steht vor einer strategischen Grundsatzentscheidung: An seiner Taktik, Konflikten mit Russland möglichst aus dem Weg zu gehen – und sich damit Moskaus Willkür auszusetzen – kann es nicht festhalten. Statt dessen dem russischen Vorherrschaftsstreben im Nahen Osten und in der Welt offensiv entgegenzutreten, wäre gewiss nicht ohne Risiko. Doch angesichts der symbiotischen Bindung Russlands an den Iran wird diese Kehrtwendung wohl unausweichlich sein. Und Israel, als Atommacht und mit dem Hauptverbündeten USA im Rücken, kann dieser Konfrontation durchaus selbstbewusst entgegen sehen.

Wie scharf dieser russlandpolitische Kurswechsel Israels ausfallen und welche tektonischen Verschiebungen im sicherheitspolitischen Kräfteverhältnis im Nahen Osten er nach sich ziehen wird, muss sich noch erweisen. Doch Anzeichen sprechen dafür, dass die Erbitterung gegenüber Russland inzwischen auch im Lager der israelischen Rechten enorm ist. Spektakulär hat etwa Amir Weitmann, ein führender Abgeordneter der Regierungspartei Likud, bei einem Auftritt im russischen Propagandasenders RT vor einigen Wochen Moskau der Komplizenschaft mit den Hamas-Mördern bezichtigt. „Nachdem wir diesen Krieg gewonnen haben“, drohte er wutentbrannt dem verblüfften Moderator, „werden wir sicherstellen, dass die Ukraine ebenfalls gewinnt und Russland für seine Taten bezahlen wird“.

Kreml forciert Antisemitismus

„Russland unterstützt Nazi-Leute, die einen Völkermord an uns begehen wollen. Und gerade Russland wird den Preis dafür zahlen“, so Weitmann weiter. „Mein Volk wird von Ihren Verbündeten abgeschlachtet.“ Man werde nicht vergessen, was Russland getan habe. „Wie können Sie es überhaupt wagen, diese Mörder zu unterstützen? Ich sage Ihnen ganz offen, die öffentliche Meinung in Israel hat sich geändert.“

Parallel zum Ausbau seines strategischen Kriegsbündnisses mit der Islamischen Republik Iran und ihren Stellvertretertruppen im Nahen Osten forciert das Kreml-Regime auch im Inneren die antisemitische Propaganda. Dazu schreibt Joshua Stein:

„Viele sehen den jüngsten Pogromversuch am Flughafen Machatschkala als direkte Folge der antisemitischen Beschimpfungen, die nach dem Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 im öffentlichen Diskurs Russlands zunehmend zur Normalität geworden sind. Im nationalistischen Umfeld Kriegsrusslands sieht sich die jüdische Gemeinschaft des Landes von einigen Seiten mit dem Vorwurf konfrontiert, die Invasion nicht ausreichend zu unterstützen. Oberrabbiner Berel Lazar sah sich veranlasst, sich gegen´vulgären Antisemitismus´ auszusprechen, der eine`große Gefahr´ für russische Juden darstelle. In einem besonders erschreckenden Fall fand der prominente russische Journalist Alexei Wenediktow einen Schweinekopf mit dem Wort ´Judensau´ vor seiner Wohnung.

Auch russische Juden mit engen Verbindungen zum Kreml sind zum Ziel antisemitischer Angriffe geworden. Russlands bekanntester Propagandist, Wladimir Solowjow, sah sich kürzlich mit Kritik konfrontiert, dass sein Mediennetzwerk zu viele jüdische Mitarbeiter beschäftige. Als Solowjows Kollege und Kollege Jewgeni Satanowski, der ebenfalls Jude ist, hochrangige Beamte des russischen Außenministeriums des Antisemitismus beschuldigte und die Politik der Regierung gegenüber Israel kritisierte, wurde er prompt entlassen.

Russische Juden unter Druck

Diese Entwicklungen schüren die Besorgnis unter den verbliebenen Juden Russlands und wecken schmerzhafte historische Erinnerungen, während sie gleichzeitig eine Debatte über die zukünftige Sicherheit der Gemeinschaft auslösen. Rabbiner Pinchas Goldschmidt war fast dreißig Jahre lang Oberrabbiner von Moskau, musste aber im März 2022 aus dem Land fliehen, nachdem er eine Bitte von Staatsbeamten abgelehnt hatte, die russische Invasion in der Ukraine öffentlich zu unterstützen. Seitdem hat er die russischen Juden aufgefordert, das Land zu verlassen.

´Wenn wir auf die russische Geschichte zurückblicken, sah man, wann immer das politische System in Gefahr war, dass die Regierung versuchte, die Wut und Unzufriedenheit der Massen auf die jüdische Gemeinschaft umzulenken´, sagte Rabbiner Goldschmidt im Dezember 2022 gegenüber The Guardian. ´Wir sehen einen wachsenden Antisemitismus, während Russland zu einer neuen Art von Sowjetunion zurückkehrt und der Eiserne Vorhang Schritt für Schritt wieder fällt. Deshalb glaube ich, dass die beste Option für russische Juden darin besteht, das Land zu verlassen.“

Antisemitismus sitzt dem verbrecherischen putinistischen Herrschaftssystem tief in den Genen, wie man bereits an der Äußerung des russischen Außenministers Lawrow im Frühjahr 2022 erkennen konnte, Hitler habe „jüdisches Blut“ gehabt. Schon damals hätte Israel erkennen können, dass mit diesem Regime weder für den jüdischen Staat noch für jedes andere zivilisiertes Land irgendeine Form von vertrauensvoller Zusammenarbeit möglich ist – schon gar nicht auf sicherheitspolitischem Gebiet. Jetzt aber wird sich dieser Erkenntnis wohl kaum noch jemand verschließen können.

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Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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