Putin plant den großen Krieg gegen die Ukraine


Die Anzeichen mehren sich, dass ein neuer militärischer Großangriff Russlands auf die Ukraine unmittelbar bevorsteht. Als Vorwand für diese Aggression könnte dem Kreml die von ihm verbreitete Propagandalüge dienen, die ukrainische Regierung bereite ihrerseits eine Offensive gegen die illegalen „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk vor. In den vergangenen Monaten haben die Kampfhandlungen an der Frontlinie vonseiten der Besatzungstruppen deutlich zugenommen – allein vergangene Woche starben unter ihrem Beschuss vier ukrainische Soldaten.

Dahinter könnte das Kalkül stecken, die ukrainische Armee zu Reaktionen zu provozieren, die der Kreml propagandistisch nutzen will, um seine weiter reichenden kriegerischen Absichten ins Werk zu setzen. Der ukrainische Außenminister Kuleba spricht von einer durch Russland herbeigeführten „systemischen Verschlimmerung“ der Sicherheitslage in der Ostukraine

Experten gehen davon aus, dass sich der Kreml dieses Mal nicht mehr auf den Einsatz verdeckt operierender Truppen beschränken, sondern dass er eine offene Invasion der russischen Armee in die Wege leiten wird. Nicht ohne Grund hat Moskau in den vergangenen Jahren gezielt russische Pässe an die Bewohner der besetzten Gebiete ausgegeben und so – deren Notlage ausnutzend – hunderttausende Ukrainer in russische Staatsbürgern verwandelt. Dass er angeblich das Leben „seiner““ Landsleute beschützen müsse, könnte der Kreml nunmehr als pseudolegale Rechtfertigung für seine offene Invasion heranziehen.

Wie weit Putin dieses Mal gehen will

Fraglich wäre dann nur noch, wie weit die russische Invasoren vorzudringen beabsichtigen – ob es ihnen „nur“ um die Einverleibung des gesamten Donbass geht, oder sie auch in den Südosten des Landes vorrücken werden, um die Ukraine von seinen Schwarzmeer-Häfen abzuschneiden und eine Landverbindung zwischen der annektierten Krim und den okkupierten Gebieten herzustellen.

Wer solche Befürchtungen für übertrieben hält, sollte sich vor Augen führen: Immer tatsächlich das zu tun, was man im Westen für unmöglich hält, war in den vergangenen Jahren stets die Methodik russischer Aggressionspolitik. Niemand hatte damit gerechnet, dass der Kreml tatsächlich die Krim annektiert, die Ostukraine überfällt, Syrien für den Machterhalt seines Schützlings Assad von der russischen Luftwaffe in Schutt und Asche bomben lässt (um dann vom Westen Gelder für den „Wiederaufbau“ unter Assads Terrorherrschaft einzufordern.) Dem in Schockstarre überrumpelten Westen blieb dann jeweils nur der zaghafte Versuch, noch Schlimmeres zu verhüten. Zudem ist der Zeitpunkt für eine neue Kriegsoffensive für den Aggressor günstig – sind doch die Kräfte der westlichen liberalen Demokratien durch die Corona-Pandemie absorbiert, und namentlich die EU ist durch den holprigen Versuch ihrer Bewältigung in neuerliche innere Turbulenzen geraten. Überdies käme Putin angesichts innerrussischer Krisen ein neues Schlachtfeld, auf dem er seine „Qualitäten“ als rücksichtsloser Gewaltmensch demonstrieren kann, gerade jetzt nur allzu gelegen.

Die EU, und namentlich Deutschland und Frankreich als die am Normandie-Format beteiligten westliche Staaten zeigen sich auf diese drohende neue Eskalationsstufe des russischen Aggressionskriegs gegen die Ukraine jedenfalls in keiner Weise vorbereitet. In Jahren stagnierender Verhandlungen haben sie es versäumt, den Druck auf Moskau zu erzeugen, der notwendig gewesen wäre, um es zur Einhaltung der von ihm in den Minsker Vereinbarungen eingegangenen Verpflichtungen zu zwingen. Im Gegenteil, durch Halbherzigkeit, Inkonsequenz oder schiere Untätigkeit haben sie Putin in der Überzeugung bestärkt, von Europa keinen wirklich effektiven Widerstand zu befürchten zu haben.

Einigung mit dem Kreml an der Ukraine vorbei?

Statt etwa die Frage des Weiterbaus der Gaspipeline Nord Stream 2 zumindest als Druckmittel einzusetzen, hält die Bundesregierung in unerschütterlicher Nibelungentreue bedingungslos an deren Fertigstellung fest. Nicht einmal der versuchte Giftmord an Alexej Nawalny und seine willkürliche Einkerkerung in einem Straflager nach seiner Rückkehr nach Russland hat die EU zu einer grundlegenden Änderung ihrer Haltung gegenüber dem Kreml veranlassen können, den sie noch immer als einen potenziellen Sicherheits- und Stabilitätspartner betrachtet – großen Worten folgten nur eher symbolische, allzu weiche Sanktiönchen, die den Kreml nicht ernsthaft aus dem Tritt bringen können. (Viel Zeit, auch das ist zu erwähnen, ist allerdings auch vertan worden, bis der neue ukrainische Präsident Selenskyj seine Illusionen in einen schnellen Frieden mit Moskau verloren hatte.)

Jetzt ist sogar die Rede davon, dass Berlin und Paris an einem „Friedensplan“ für den Donbass arbeiten, den sie an der Ukraine vorbei in direkten Gesprächen mit Wladimir Putin auszuhandeln beabsichtigen. Das jedenfalls will Bohdan Nahaylo, Kolumnist der Kyiv Post, erfahren haben. Was diesen Verdacht nährt: In einer Video-Konferenz am vergangenen Dienstag haben Angela Merkel, Emmanuel Macron und Putin auch über den Krieg in der Ostukraine gesprochen, und Putin hat darin die Anschuldigungen gegen die ukrainische Regierung wiederholt, die seine kaum verhohlenen Kriegsdrohungen untermauern sollen.

Dass sich Macron und Merkel überhaupt auf einen solchen Austausch mit dem Kreml-Herrscher eingelassen haben, riecht an sich bereits nach einem Abrücken von dem bisher von Berlin und Paris befolgten Grundsatz, keine Gespräche über die Ukraine ohne die Ukraine zu führen. Offensichtlich ist der Kreml jedenfalls mit aller Kraft darauf aus, das zunehmend fragwürdig gewordene Normandie-Format aus Deutschland, Frankreich, der Ukraine und Russland gänzlich auszuhebeln und den Westeuropäern seine eigenen Bedingungen für eine „Befriedung“ des Donbass aufzuzwingen.

Europa versagt vor seiner historischen Aufgabe

Und die Gefahr wächst, dass er damit Erfolg hat. Zwar hält die EU die wegen der Krim-Annexion und der russischen Invasion in die Ostukraine verhängten Sanktionen weiterhin aufrecht. So unerlässlich diese sind, so wenig reichen sie jedoch auch nur annähernd aus, um den Aggressor dazu zu bewegen, von der Ukraine als dem vorrangigen Opfer seiner imperialistischen Gewaltpolitik abzulassen. Zunehmend hat man auch den Eindruck, dass dieser ohnehin begrenzte Sanktionsdruck den westeuropäischen Regierungen allenfalls noch als Fassade dient, hinter der sie ihre verstärkten Bemühungen um eine „Normalisierung“ der Beziehungen zu Moskau verbergen. Und dass sie sich zu diesem Zweck nur zu gerne schnellstmöglich von der Last eines Konflikts befreien würden, für den in der Öffentlichkeit ihrer Länder ohnehin kaum noch jemand Interesse aufbringt. Auf der Suche nach Abkürzungen dorthin aber könnten sie verstärkt in Richtung Moskau schielen.

Paris und Berlin scheinen bezüglich der Ukraine mit ihrem Latein am Ende zu sein – und sie drohen zunehmend zu unsicheren Kantonisten zu werden, was die Standfestigkeit bei der Verteidigung der ukrainischen Selbstbestimmung betrifft. Kein Wunder, dass die ukrainische Führung nun immer lauter nach einem verstärkten Engagement der USA, aber auch Großbritanniens, in den Verhandlungen mit Putin ruft. Wie weit der Kreml zu gehen wagt, wird in der Tat wesentlich von der Entschlossenheit des neuen US-Präsidenten abhängen, ihm deutliche Grenzen zu setzen.

Denn die politische Führungselite des demokratischen Europa versagt vor ihrer historischen Aufgabe, die freiheitliche europäische Ordnung gegen ihre Zerstörung durch den aggressiven russischen Autoritarismus zu verteidigen. Die verantwortlichen europäischen Politiker können oder wollen nicht begreifen, dass diese feindselige Macht niemals aus besserer Einsicht von ihren neoimperialen Expansionsplänen abrücken wird – machen diese doch die ideologische Essenz und den Daseinsgrund des Herrschaftssystems Putins aus. Und an erster Stelle steht für den Kreml bei der Verwirklichung dieser Pläne, die Ukraine im Ganzen wieder seiner Vorherrschaft zu unterwerfen. Niemand sollte sich aber täuschen: Auch wenn es dieses Ziel erreicht haben sollte, wird das Putin-Regime nicht Halt machen, bis es ganz Europa unter seine Kontrolle gezwungen hat.

Es ist nun allerhöchste Zeit für eine massive gemeinsame Anstrengung der demokratischen Welt, das Putin-Regime durch entschiedene Maßnahmen wie die systematische Austrocknung russischer Finanzströme und die konsequente Isolation Moskaus auf internationaler politischer und gesellschaftlicher Ebene, aber auch durch die entschlossenere Stärkung der politischen militärischen Verteidigungskraft der Opfer seiner Aggression, an seinem Lebensnerv zu treffen. Angesichts der chronischen Desorientierung und Unentschlossenheit Europas tendiert die Hoffnung auf eine solche Wendung jedoch leider gegen Null.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

1 Kommentar

  • Ein offener Krieg gegen die Ukraine dürfte in Russland nicht auf allzu viele Gegenliebe stoßen. Nicht ohne Grund verschleiert man die Beteiligung. Da werden die gefallenen russischen Soldaten in namenlosen Gräbern verscharrt und geleugnet, dass es überhaupt so etwas wie eine Beteiligung geben würde. Warum macht man das. Ein weiterer Grund für die Verlegung der Truppen könnte auch darauf hinweisen, dass es im Kreml zu Machtkämpfen gekommen ist. Je weiter die Truppen von Moskau entfernt sind desto geringer die Gefahr für den Opa im Kreml. So autoritär das Land auch regiert wird: Putin ist nur ein Primus inter pares. Seine Macht ist nur verliehen. Nicht vom Wähler, vom Volk, sondern ihm von jenen verliehen, die den Machtapparat kontrollieren.
    Unabhängig davon kann man die Truppenverschiebungen auch anders interpretieren. Erinnert sei an den Georgienkrieg. Auch damals war die Truppen bereits im Nordkaukasus, jenseits der Grenze schon aufmarschiert. Dann provozierte man Zwischenfälle in Südossetien. Saakaschiwily verlor die Nerven und Russland „eilte zu Hilfe“. In heutiger Lesart wird ja gerne behauptet, dass Georgien damals Russland angegriffen habe. Dass die russischen Truppen sich längst auf dem georgischen Territorium befunden hatten, wird dabei gerne unterschlagen. Georgien kämpfte im eigenen, Russland in einem fremden Land in dem es nichts verloren hatte und hat.
    Gerettet haben Georgien damals die USA. Sie parkten einfach jede Menge Flugzeuge auf dem Flughafen von Tiflis. Damit konnte dieser nicht mehr angegriffen werden, ohne dass damit nicht auch die sich dort befindlichen US-Streitkräfte angegriffen worden wären. Aber ein solches Eingreifen setzt jene Form von Beherztheit voraus, die Berlin fehlt. Das macht unsere Regierung aussenpolitisch zu einem höchst unsicheren Kantonisten. Wenn es eine Krankheit deutscher Aussenpolitik gibt, dann ist es diese sich selbst angemaßte Rolle des Schiedsrichters, der sich bei Konflikten in Äquidisztanz übt und so tut, als würde man im Gegensatz zu den Konfliktparteien einen kühlen Kopf bewahren. Das ist aber nicht rational, sondern Ausdruck von Feigheit.
    Die Gretchenfrage für die deutsche Aussenpolitik lautet: „Wie hältst Du es mit jenen, die auch unsere Werte verteidigen. Lässt Du sie im Stich oder stellst Du Dich auf Ihre Seite?“ Mit der Behauptung Schlimmeres damit verhindern zu wollen, tendiert man dazu den Schwanz einzuziehen.

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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