Trotzki oder Der Traum vom unbefleckten Kommunismus

Mit Janine Wissler hat es eine Trotzkistin bis an die Spitze der Linkspartei geschafft. Zumindest ist sie als langjähriges Mitglied der trotzkistischen Sekte „Linksruck“ durch die Ideen des russischen marxistischen Revolutionärs, Organisators der Oktoberrevolution und Gründers der Roten Armee geprägt worden, der später von Stalin zum konterrevolutionären Drahtzieher Nr.1 dämonisiert wurde. In gewisser Weise ist Wisslers Aufstieg kurios – galt der Vorläuferpartei der Linken, der SED, Trotzkismus doch als Inbegriff staatsfeindlicher Abweichung von der reinen marxistisch-leninistischen Lehre. Doch wer war Trotzki tatsächlich, und wie kommt es, dass er auch heute noch eine gewisse Faszination auf junge Linke ausübt?

Der Mörder schlug von hinten zu. Als sich Leo Trotzki an seinem Schreibtisch über einen Artikel beugte, den ihm der Attentäter zur Durchsicht gegeben hatte, zertrümmerte Ramon Mercader mit einem Eispickel den Schädel des Mannes, der einst neben Lenin der mächtigste Mann der jungen Sowjetunion gewesen war. Das absonderliche Mordgerät hatte der Attentäter unter einem Regenmantel verborgen, den er an diesem heißen 21. August 1940 auffälligerweise nicht ablegen wollte.

Doch Trotzki brach nicht sofort zusammen. Laut aufschreiend stürzte er sich auf den Attentäter, biss ihm in die Hand. Bevor er das Bewusstsein verlor, das er bis zu seinem Tod am folgenden Tag nicht mehr wiedererlangen sollte, rief er seinen herbeigeeilten Leibwächtern noch zu, sie sollten den Mann nicht töten. Er müsse zum Reden gebracht werden.

Mercader, der sich als belgischer Geschäftsmann namens Jacques Mornard ausgab, aber auch unter dem Namen Frank Jacson auftrat,  hatte in New York eine Affäre mit einer jungen Trotzkistin angezettelt und sich über sie Zugang zu Trotzkis Haus in Mexiko City verschaffte. Dabei war diese letzte Zuflucht des mittlerweile 61-jährigen exilierten Revolutionärs nach einem ersten Mordanschlag zu einer rundumüberwachten Festung ausgebaut worden. „Jacson“ aber, der in Wahrheit Spanier und Agent des sowjetischen Geheimdienstes NKWD war, von dem er in Moskau den Mordauftrag erhielt, gelang in eher stümperhafter, gleichsam archaischer Handarbeit, was ein Stoßtrupp als Polizisten verkleideter Attentäter einige Monate zuvor nicht geschafft hatte. Mit Maschinenpistolen hatten sie nachts in Trotzkis Schlafzimmer geschossen, doch er und seine Frau Natalia konnten sich durch einen Sprung unter das Bett retten.

Der paradoxe Held

Trotzkis Ende trägt aber auch in einem umfassenderen historischen Sinn paradoxe Züge. Denn als sein Todfeind Stalin ihn schließlich beseitigen ließ, hatte er längst jeden realpolitischen Einfluss verloren. Als Trotzki 1929 aus der Sowjetunion ausgewiesen wurde, hätte man sich noch vorstellen können, dass Stalin stürzen und sein Erzrivale im Triumph an die Macht zurückkehren könnte. Ein gutes Jahrzehnt und mehrere Stationen seines Exils später, das ihn über die Türkei, Dänemark und Frankreich nach Mexiko geführt hatte, waren Trotzkis tatsächliche oder angebliche Anhänger in der Sowjetunion liquidiert oder in Arbeitslager verschleppt worden, und  mächtig war er nur noch in den propagandistischen Wahnbildern des stalinistischen Herrschaftsapparats, der ihn zum Kopf einer gigantischen „faschistischen“ Verschwörung gegen die Sowjetmacht gestempelt und die Ausrottung des „Trotzkismus“ zum Leitmotiv der großen „Säuberungen“ der 1930er Jahre gemacht hatte.

In Wahrheit dirigierte Trotzki jetzt nur noch kleine bis winzige trotzkistische Parteien und Gruppen in aller Welt, die er 1938 in einer „Vierten Internationale“ zusammenschloss. Mit unerbittlicher dogmatischer Strenge wachte Trotzki darüber, dass sich in ihren Reihen keine Abweichungen von der vermeintlich unverfälschten Lehre des Leninismus durchsetzen konnten, als deren berufener Hüter er sich selbst betrachtete. Im Gegensatz zu Stalin besaß Trotzki aber nur noch die Macht des Wortes, um seine nicht selten wirre Gefolgschaft zu disziplinieren. Bald waren die trotzkistischen Miniparteien und Sekten daher hauptsächlich mit inneren Fraktionskämpfen um die richtige Auslegung der Lehren des Meisters beschäftigt und spalteten sich in immer zahlreichere rivalisierende Richtungen auf.

Dennoch reichte Trotzkis Ruhm und Ansehen auch in dieser letzten Phase seines Lebens weit über die Grenzen engstirniger Politzirkel hinaus. Gerade seine realpolitische Ohnmacht, in die er von der Spitze eines skrupellosen und brutalen Machtapparats gestürzt war, machte ihn für viele Intellektuelle zu einer attraktiven Projektionsfigur ihrer romantischen revolutionären Sehnsüchte. Als Zielscheibe einer beispiellosen Dämonisierungs- und Verleumdungskampagne durch den übermächtigen stalinistischen Terrorapparat erschien Trotzki vielen Intellektuellen wie die reine, unbefleckte Seele der Revolution, die durch keinen Hass und keinen Verrat einer verblendeten Außenwelt zu erschüttern war. Nicht durch noch so üble Verleumdungen und Schmähungen als „Konterrevolutionär“, durch keinen Mord an Freunden und Angehörigen, durch keine Todesdrohung war Trotzki von seiner Überzeugung abzubringen, im Auftrag der revolutionären Triebkräfte der Geschichte zu handeln. Diese würden nach finsterer Nacht der „Degeneration“ der Sowjetunion und der stalinistischen Sabotage der Weltrevolution wieder ans helle Tageslicht dringen.

Wer als linker Intellektueller in den 1930er Jahren für Trotzki Partei ergriff, begab sich zwar in hermetische Isolation von der real existierenden kommunistischen Bewegung. Er oder sie tauschte dafür aber die Nähe zu dem scheinbaren Garanten einer fernen, schöneren Zukunft ein, die zu betrachten mehr Genuss bereitete als in den Abgründen einer schrecklichen Jetztzeit zu agieren, in der die vermeintlich „gute“, kommunistische Absicht ihrem faschistischen und nationalsozialistischen Antipoden immer mehr zu ähneln begann. In den Hintergrund trat nun, dass Trotzki selbst wesentlich zum Aufbau jenes totalitären Machtapparat beigetragen hatte, der sich in den Händen Stalins zu einer Vernichtungsmaschinerie ungeahnten Ausmaßes entwickelte, die nun auch die alte bolschewistische Führung selbst zermalmte.

Ein revolutionärer Schöngeist?

Obgleich sich Trotzki zu seinen Zeiten als Organisator des bolschewistischen Oktoberputschs 1917, als „Volkskommissar“ und Gründer der Roten Armee durch Maßnahmen wie die „Militarisierung der Arbeit“ und durch die Propagierung des  „Roten Terrors“ hervorgetan und sich so als gnaden- und skrupelloser Gewaltmensch entpuppt hatte, galt er nun aufgrund seiner literarischen Fähigkeiten únd kulturellen Bildung als eine Art Schöngeist, der sich über die Niederungen der stalinistischen Gleichschaltung erhob. Er selbst freilich wies auch in seinen späten Schriften, so in „Ihre Moral und Unsere“ (1938), jede Kritik an seinen einstigen Umtrieben als Ausfluss eines überholten „bürgerlichen Humanismus“ zurück. Unerbittlich verteidigte er etwa die von ihm angeordnete Liquidation der Matrosen von Kronstadt, die sich 1921 gegen die bolschewistische Diktatur erhoben hatten.

Einige seiner Anhänger wie der russisch-belgische Journalist und Schriftsteller Victor Serge brachen deshalb mit ihm – andere dagegen fühlten sich wegen dieses revolutionär verbrämten Amoralismus noch näher zu ihm hingezogen. Kam er doch eigenen ästhetischen Allmachtsfantasien entgegen, die in der literarisch-künstlerischen Avantgarde weit verbreitet waren. Trotzki bediente diese Bedürfnisse, indem er sich vom stumpfsinnigen stalinistischen Dogma des „sozialistischen Realismus“  distanzierte und die künstlerische Moderne zum revolutionären Potenzial erklärte. Der Maler Diego Rivera und der Surrealist André Breton verfassten mit ihm gemeinsam gar ein „Manifest für eine unabhängige revolutionäre Kunst“. In seiner Schrift „Literatur und Revolution“ hatte Trotzki bereits früher die Entwicklung eines „Übermenschen“ in der klassenlosen Gesellschaft prophezeit, der das „Genie“ eines Goethe, Einstein und Marx in sich vereinigen sollte – eine Phantasie, die sich mit der modernistischen Vision vom gesellschaftlichen „Gesamtkunstwerks“ berührte.

Die Faszination Trotzkis auf Intellektuelle wirkte umso stärker, je weiter sie von der Realität des Kommunismus entfernt waren. Besonders in den USA, namentlich unter New Yorker Intellektuellen, erlebte sie in den 30er Jahren eine beachtliche Blüte. Um die Zeitschrift „Partisan Review“ sammelten sich namhafte Literaten wie Sidney Hook, Mary Mc Carthy, Irving Howe, Philipp Rahw und Lionel Trilling, sowie namhafte spätere liberale und „neokonservative“ Antikommunisten wie Max Schachtman, James Burnham und Irvin Kristol hingen in jenen Jahren der Lehre Trotzkis an. Viele unter ihnen waren Juden, die – wie Trotzki – ihr jüdische Identität freilich zugunsten eines „proletarischen Internationalismus“ überwunden zu haben glaubten. Gleichwohl dürfte ihnen nicht entgangen sein, dass sich in den stalinistischen Hasstiraden gegen Trotzki nicht zuletzt ein brutaler Antisemitismus austobte.

Trotzkis Mythos wirkt weiter

Mit Trotzki konnten sich radikale Intellektuelle der geistigen Unterwerfung unter den offiziellen kommunistischen Apparat entziehen, ohne sich als „Verräter“ an der „guten“, kommunistischen Sache fühlen zu müssen. Dies umso mehr, als der „Trotzkismus“ angesichts seiner realpolitischen Ohnmacht nicht Gefahr lief, irgendwo auf der Welt seine Tauglichkeit beweisen zu müssen. Mittels des „Trotzkismus“ konnten sie an ihrer Verachtung des amerikanischen Kapitalismus festhalten und zugleich ihrer instinktiven Abwehr des kommunistischen Totalitarismus Ausdruck geben, der ihre Daseinsform als freischwebende, urbane Intellektuelle bedrohte. Erst später ging ihnen auf, welchem Missverständnis sie aufgesessen waren: Trotzki hegte, ganz in der Manier der alten bolschewistischen Parteiführer, in Wahrheit einen tiefen Affekt gegen Intellektuelle als „kleinbürgerliche“, unzuverlässige Elemente, deren Fähigkeit in den Dienst des „revolutionären Proletariats“ zu stellen seien.

Dennoch erlebte der Trotzki-Mythos in den rebellischen 68er-Jahren noch einmal eine Renaissance. Der Dramatiker Peter Weiß schilderte den schillernden Verlierer der Geschichte in seinem Stück „Trotzki im Exil“ als einsamen Bewahrers des revolutionären Funkens in düsterer Zeit. Und dieses geschönte Idealbild des gescheiterten Weltrevolutionärs wird weiterwirken, so lange der romantische Glaube fortlebt, es könne jenseits der totalitären realen Sozialismen aller Couleur dereinst doch noch so etwas wie die wahre egalitäre Erlösung der Menschheit geben.

Die Erwartung der Trotzkisten, nach dem Zweiten Weltkrieg werde sich – analog zum Ende des Ersten Weltkriegs – eine revolutionäre Situation einstellen, die der proletarischen Weltrevolution nunmehr endgültig zum Durchbruch verhelfen werde, wurde bitter enttäuscht. Ihrer drohenden vollständigen Isolation versuchten die versprengten trotzkistischen Grüppchen daraufhin durch verdeckte Arbeit in den großen Arbeiterparteien, vornehmlich den sozialistischen und sozialdemokratischen, zu entgehen. Ihr Plan, diese von innen her in revolutionäre Parteien zu verwandeln, scheitere zwar kläglich, doch einzelne Trotzkisten schafften es hin und wieder, sich in den von ihnen infiltrierten Apparaten in Führungspositionen hochzuarbeiten. So wurde ein führender Kopf der „Vierten Internationale“, Michel Raptis alias Michel Pablo, zum Berater des ersten Staatschefs des unabhängigen Algerien, Ben Bella. Bis zu seinem Tod befreundet war Pablo mit dem griechischen Sozialistenführer Andreas Papandreou, der in den 1980er und 1990er Jahren zwei Mal als Ministerpräsident Griechenlands amtierte und in jungen Jahren ebenfalls Trotzkist gewesen war. Letzteres gilt auch für Lionel Jospin, von 1997 bis 2002 Premierminister Frankreichs. In Deutschland brachte es Hans-Jürgen Wischnewski, der als Jungsozialist dem Trotzkismus nahe gestanden hatte, bis zum Bundesgeschäftsführer der SPD und Staatsminister im Kanzleramt unter Helmut Schmidt – um 1977 als Retter von Mogadischu in die Geschichte einzugehen. Jetzt schickt sich Janine Wissler an, in diesen Kreis von politischen Aufsteigern aus der trotzkistischen Schule aufzuschließen.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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