Der 23. August und Europas gespaltene Erinnerung

Wer hierzulande in einer Konversation den 23. August als einen historisch bedeutsamen Tag erwähnt, blickt meist in ratlos fragende Gesichter. Auch Zeitgenossen, die über eine passable geschichtliche Allgemeinbildung verfügen, wissen mit diesem Datum meist wenig bis nichts anzufangen. Dabei fallen auf diesen Tag zwei für den Verlauf der europäischen Geschichte einschneidende Ereignisse. Doch wie ihnen in Ost und West gedacht wird, zeigt Europas gespaltene Erinnerung.

Am 23. August 1939 wurde in Moskau der Hitler-Stalin-Pakt geschlossen, der dem NS-Regime die Bahn zu seinem Vernichtungskrieg gegen Polen frei machte und der Sowjetunion grünes Licht gab, sich den östlichen Teil des überfallenen Landes sowie die baltischen Staaten einzuverleiben. Diese Aufteilung der Einflusssphären wurde in geheimen Zusatzprotokollen der offiziell als „Nichtangriffspakt“ getarnten Übereinkunft zwischen den beiden totalitären Diktaturen und vermeintlichen ideologischen Antipoden festgelegt.

50 Jahre später gewann der 23. August dann eine zusätzliche, gegenläufige Symbolkraft. An diesem Tag im Umbruchjahr 1989 bildeten zwei Millionen Bürger des Baltikums eine Menschenkette quer durch Litauen, Lettland und Estland. Mit diesem „Baltischen Weg“ bekundeten sie ihren Willen zur Loslösung von der Sowjetunion und zur Wiederherstellung ihrer Nationalstaatlichkeit. Es war die erste massive Manifestation des Willens zur nationalen Unabhängigkeit in Teilrepubliken der Sowjetunion. Zwar hatte das Sowjetimperium zu diesem Zeitpunkt bereits kräftige Risse bekommen. In Polen und Ungarn war die kommunistische Monopolherrschaft schon erheblich aufgeweicht.

Doch der „Baltische Weg“ markierte einen weiteren qualitativen Schritt zur Dekonstruktion der Sowjetmacht. Stellte er doch nicht nur die Kontrolle Moskaus über die Satellitenstaaten in Osteuropa infrage, sondern die Legitimität und Einheit der Sowjetunion als solcher. Bewusst hatten die Balten die beeindruckende Demonstration ihrer Freiheitssehnsucht auf den 23. August gelegt. Der Tag, an dem durch die Übereinkunft der totalitären Mächte das Todesurteil über die Unabhängigkeit der baltischen Staaten gesprochen worden war, sollte auch der Tag sein, der ihre Wiederherstellung ankündigte.

Deutscher „Gorbi“-Kult

In Ost- und Mitteleuropa, vor allem in Polen und im Baltikum, sind diese historischen Ereignisse in hohem Maße präsent und prägen die politischen Erwägungen der Gegenwart mit. In Westeuropa hingegen werden sie allenfalls am Rande zur Kenntnis genommen. Zwar hat 2009 das Europäische Parlament den 23. August zum europaweiten Gedenktag für die Opfer aller totalitären und autoritären Regime ausgerufen. Doch gibt es hierzulande kaum jemanden, der ihm Beachtung schenkt. Dabei war der Freiheitskampf der Balten in Deutschland durchaus mit grundsätzlicher Sympathie verfolgt worden. Doch im Vergleich mit den Entwicklungen in Ungarn, Polen, Tschechien und Rumänien nahm man ihn eher als Randerscheinung wahr. Und bald mischte sich in dieses tendenzielle Desinteresse die Sorge, die Auflösung der Sowjetunion könnte ins Chaos führen, ungezügelte nationalistische Kräfte freisetzen oder die „Hardliner“ im sowjetischen Machtapparat zum verheerenden Zurückschlagen provozieren.

Deutschland war nicht das einzige westliche Land, das im vermeintlichen Interesse der Stabilität auf den Fortbestand der Sowjetunion hoffte. Bei uns kam jedoch ein besonderes Gefühl der Dankbarkeit gegenüber Michail Gorbatschow hinzu, der so viel für die Deutschen getan habe und dem sie daher unbedingt den Rücken zu stärken hätten. Zugespitzt läuft das deutsche Narrativ über die Befreiungsjahre 1989/1990 bis heute auf die Kernüberzeugung hinaus, Gorbatschow („Gorbi“) habe Europa die Freiheit und uns Deutschen die Einheit geschenkt. Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger verfasste 1989 einen Essay, dessen Titel zum geflügelten Wort werden sollte: „Die Helden des Rückzugs“. Gorbatschow fungierte darin als Prototyp des wahrhaften Heroen, eigentlich eines Antihelden, der freiwillig Positionen zu räumen bereit ist, die nur noch durch massive, sinnlose Gewaltanwendung zu halten wären.

Dass Enzensbergers Titel eine solch enorme Karriere machen und emblematisch werden konnte, reflektiert die in Deutschland nach 1989/1990 vorherrschende Stimmung, in der Heroismus als eine Erscheinung von gestern betrachtet wird, die nicht mehr benötigt werde, weil Europa nunmehr befriedet und Deutschland „von Freunden umzingelt“ sei. Für Deutschland schien durch den Umbruch von 1989/1990 in der Tat das historische Optimum erreicht: Das Land war friedlich und in Demokratie und Wohlstand vereint worden. Das erklärt bis zu einem gewissen Grad, warum die deutsche Politik und Gesellschaft heute so zögerlich auf die neuen Bedrohungen von Frieden und Freiheit reagieren: Man tut sich schwer mit dem Eingeständnis, dass der 1990 erreichte Idealzustand nicht das letzte Wort der Geschichte gewesen ist.

„Wie unter Parteigenossen“

In Osteuropa, und insbesondere in den damaligen Sowjetrepubliken, war das Bild von Gorbatschow weit weniger rosig. Dort sah man in ihm vor allem den Parteiführer, der das kommunistische System zwar reformieren, damit aber auch erhalten wollte. Und der, wie im Baltikum im Januar 1991, auch Gewalt einzusetzen bereit war, um den Fortbestand der Sowjetunion zu sichern. Was von dem hiesigen „Gorbi“-Kult bis heute nachwirkt, ist die anhaltende Fixierung des deutschen außenpolitischen Denkens auf Moskau. Die reflexhafte Frage, die in der deutschen Öffentlichkeit oft zuerst gestellt wird, wenn es um Entwicklungen im Osten des Kontinents und die eigene politische Haltung dazu geht, lautet: „Wie wird Russland darauf reagieren?“

Die Furcht, man könne Moskau provozieren, führte die Bundesregierung etwa dazu, 2008 die von den USA gewünschte Aufnahme Georgiens und der Ukraine in den MItgliedschafts-Aktionsplan (MAP) der Nato zu torpedieren. Der Kreml beantwortete dieses vorauseilende Entgegenkommen mit der Invasion Georgiens 2008, mit der Krim-Annexion 2014 und dem verdeckten Einmarsch in die Ostukraine im selben Jahr. Keine dieser Aktionen hätte Putin vermutlich gewagt, hätte man Georgien und die Ukraine damals unter das Dach des westlichen Verteidigungsbündnisses geholt. Die Rücksichtnahme, die dem Kreml Kooperationsbereitschaft signalisieren sollte, wurde von diesem als Schwäche und Einladung interpretiert, die Aggressionsschraube weiterzudrehen.

Wie der Freiheitskampf der Balten spielt auch der Hitler-Stalin-Pakt im Geschichtsbewusstsein der Deutschen allenfalls eine untergeordnete Rolle. Er gilt eher als episodisches Zwischenspiel, das mit dem Überfall auf die Sowjetunion zur Makulatur wurde. Doch bei dem Pakt von 1939 handelte es sich um weit mehr als nur einen temporären taktischen Schachzug. Zwar gingen sowohl Hitler als auch Stalin davon aus, dass es irgendwann zur großen Konfrontation zwischen ihnen kommen würde, doch fürs Erste konzentrierten sie sich darauf, den gemeinsamen Feind auszuschalten: den Westen. Die Sowjets halfen mit Rohstofflieferungen, die deutsche Kriegsmaschine in Gang zu halten, antifaschistische Literatur landete in der Sowjetunion auf dem Index, und um Hitler den Abschluss des Abkommens zu erleichtern, hatte Stalin den jüdischen Außenminister Litwinow aus dem Amt entfernt. NS-Außenminister Joachim von Ribbentrop wiederum, der den Pakt ausgehandelt hatte, berichtete zu Hause seinem Führer begeistert, er habe sich bei den Funktionären in Moskau „wie unter Parteigenossen“ gefühlt.

Stalin behielt die Beute

Nach dem Untergang des Nazi-Reiches behielt Stalin die Beute, die er sich 1939 im Einverständnis mit Hitler angeeignet hatte. In der Bundesrepublik war im Laufe der Jahrzehnte jedoch das Bewusstsein dafür geschwunden, wie weit der Pakt der Diktatoren bis in die Gegenwart hineinwirkte. Das hatte anfangs noch anders ausgesehen. In den frühen, vom Antikommunismus geprägten Jahren der Bundesrepublik galt der Hitler-Stalin-Pakt als exemplarischer Beleg für die Deckungsgleichheit der beiden nur scheinbar antagonistischen totalitären Systeme. Die Auffassung, dass der Sowjetkommunismus das Pendant zum Nationalsozialismus sei, war so etwas wie ein Teil der bundesdeutschen Staatsräson der 50er- und frühen 60er-Jahre. Das galt keineswegs nur für die politische Rechte. Das Wort vom Kommunismus als „rotlackiertem Faschismus“ stammt von Kurt Schumacher, dem ersten Nachkriegs-SPD-Vorsitzenden und KZ-Überlebenden.

Seit Mitte der 60er-Jahre vollzog sich in dieser Hinsicht jedoch ein Paradigmenwechsel. Mit der Entspannungspolitik und unter dem Einfluss der linken Studentenbewegung, die später zur „68er-Bewegung“ verklärt wurde, geriet die Totalitarismustheorie in Verruf. Sie wurde bezichtigt, der deutschen Schuldverdrängung ein wohlklingendes Alibi verschafft zu haben. Indem man mit dem Finger auf die Kommunisten als den „Nazis von heute“ zeigte, so der Vorwurf, habe man gut davon ablenken können, dass zahllose Nazis von gestern in der Bundesrepublik unbehelligt in einflussreichen Positionen saßen.

An dieser Kritik war ohne Zweifel vieles berechtigt. Doch mit den Jahren tendierte sie dazu, ins andere Extrem zu fallen und jeden strukturellen Vergleich zwischen den totalitären Diktaturen als unzulässige Gleichsetzung und Relativierung der einzigartigen historischen Dimension der NS-Verbrechen zu geißeln. „Antikommunist“ wurde jetzt zum Schimpfwort und Synonym für „Reaktionär“. Aus dem Auge verloren wurde dabei, dass die Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht ohne die verhängnisvolle Interaktion der großen totalitären Systeme zu verstehen ist – so wenig übrigens wie ohne die verhängnisvolle Appeasement-Politik des Westens -, und dass der Hitler-Stalin-Pakt bei den Osteuropäern eine Art Urangst produziert hat, Deutschland und Russland könnten sich einmal mehr über ihre Köpfe hinweg einigen.

Putin dreht das Rad zurück

Es ist nur folgerichtig, dass heute Wladimir Putin bei seinem Versuch, die Geschichte und Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs zwecks Installierung eines neosowjetischen Narrativs umzuschreiben und die aggressive Manipulation der Historie als Waffe in seinem hybriden Krieg gegen den Westen einzusetzen (siehe dazu meinen Aufsatz in der Zeitschrift „Internationale Politik“: hier), auch den Hitler-Stalin-Pakt rehabilitiert. Im Gegensatz zu Osteuropa hat man im Westen meist noch nicht verstanden, dass diese Geschichtsoffensive Putins ein zentraler Bestandteil seiner Bestrebung ist, die gesamte europäische Friedensordnung, wie sie nach 1989/90 entstanden ist, auszuhebeln.

Die Botschaft des „Baltischen Wegs“ ist daher heute wieder so aktuell wie sie es vor gut dreißig Jahren war. Er steht für die Verteidigung der historischen Wahrheit, die eine konstitutive Voraussetzung für die Verteidigung von Demokratie und Freiheit gegen das erneute Vordringen autoritärer Mächte ist. Demokratiebewegungen in verschiedenen Teilen der Welt haben das erkannt und nutzen das Beispiel des „Baltischen Weg“ als Inspiration für ihren Freiheitskampf. So organisierte die Protestbewegung gegen die Gleichschaltung Hongkongs durch das chinesische Regime eine Menschenkette nach seinem Vorbild. Und die Koordinatoren der Volkserhebung gegen den Diktator Lukaschenka in Belarus riefen dazu auf, am 23. August weltweit solche Menschenketten zu bilden.

An der unterschiedlichen Wahrnehmung dieses Datums im Westen und im Osten Europas lässt sich indes exemplarisch ablesen, wie weit die divergierenden historischen Gedächtnisse der Europäer noch immer voneinander entfernt sind. Die Auswirkungen dieser fortbestehenden Teilung der Erinnerung auf den schwierigen Einigungsprozess Europas dürfen nicht unterschätzt werden.

Der Text ist die überarbeitete und erweiterte Fassung meines Artikels in „Die Welt“ vom 23.8.2019.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

3 Kommentare

  • Gorbatschow stand von Anfang an auf ziemlich verlorenem Posten mit seinem Versuch das System Sowjetunion zu reformieren. Das hatte zwei Gründe.
    Der erste Grund war, dass zwar viele seine Bemühungen begrüßten, aber nicht ernst nahmen. Es hatte schon zu viele Reformen gegeben und letztlich änderte sich dann doch nichts.
    Der zweite Grund war, dass jene, die seine Bemühungen ernst nahmen, sie so gar nicht begrüßten. Das war das Heer der Profiteure, der Misswirtschaft. Diese sahen sich um ihre Pfründe gebracht. Je mehr Gorbatschow gegen die Korruption vorging, desto mehr sank die Wirtschaftsleistung. Auch diese Menschen waren gegen Gorbatschow und sie konnten ihre Sinekuren in die neue Zeit retten und beherrschen heute den Staat.

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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