Die verschwiegene russische Kollaboration im 2. Weltkrieg

Dass es im Zweiten Welt­krieg nicht nur eine ukrai­ni­sche, sondern auch eine breite rus­si­sche NS-Kol­la­bo­ra­tion gab, passt nicht in Wladimir Putins Pro­pa­gan­da­bild. Aktuell ruft der Rückblick auf die Niederschlagung des Warschauer Aufstands vor 76 Jahren diese unliebsame Tatsache in Erinnerung. Ver­schwie­gen wird vom Kreml auch das Ausmaß sowje­ti­scher Kom­pli­zen­schaft mit Hitler 1939–41.

In der Pro­pa­gan­da­schlacht um die Ukraine ist oft von der großen Zahl ukrai­ni­scher Kol­la­bo­ra­teure die Rede, die sich nach dem deut­schen Über­fall auf die Sowjet­union im Zweiten Welt­krieg den Inva­so­ren anschlos­sen und sich an NS-Ver­nich­tungs­ak­tio­nen vor allem gegen die jüdi­sche Bevöl­ke­rung betei­lig­ten.

An dieser schau­ri­gen Bilanz gibt es in der Tat nichts zu mini­mie­ren oder zu rela­ti­vie­ren – so wenig wie an der Tat­sa­che, dass ukrai­ni­sche Natio­na­lis­ten im Wind­schat­ten der deut­schen Inva­sion aus eigenem Antrieb Gräu­el­ta­ten gegen Juden und Polen begin­gen. Doch ist auch in der west­li­chen Öffent­lich­keit der irrige Ein­druck ver­brei­tet, die Mehr­heit der Ukrai­ner oder gar die Ukraine als solche sei mit Nazi­deutsch­land im Bunde gewesen. Geschürt wird er durch die Pro­pa­ganda des Putin-Regimes, das die Geschichts­le­gende vom makel­lo­sen sowje­ti­schen Anti­fa­schis­mus wie­der­be­lebt und seine Aggres­sion gegen die Ukraine als Fort­set­zung des Kampfes gegen die NS-Bar­ba­rei erschei­nen lassen will.

Gemäß dem Diktum Wla­di­mir Putins, bei der Sowjet­union habe es sich um „das his­to­ri­sche Russ­land unter anderem Namen“ gehan­delt, bean­sprucht Moskau die Tra­di­tion des Großen Vater­län­di­schen Krieges gegen die NS-Okku­pa­tion für die rus­si­sche Nation. Die Kräfte, die damals für eine unabhängige Ukraine eintraten, werden dem­ge­gen­über pau­schal als „Natio­na­lis­ten“ und „Faschis­ten“ – in der Kremlter­mi­no­lo­gie aus­tausch­bare Voka­beln – gebrand­markt und der NS-Ideo­lo­gie zuge­schla­gen. Souveränitätsbestrebungen wie die ukrai­ni­sche, die sich heute dem Vorherrschaftsanspruch  Moskaus widersetzen, sollen dem­ge­mäß mit der Sug­ges­tion dis­kre­di­tiert werden, sie stünden in der Kon­ti­nui­tät der NS-Kol­la­bo­ra­tion.

Aller­dings gibt es auch in der Ukraine bedenk­li­che Ten­den­zen zu einer die eigene Ver­gan­gen­heit glät­ten­den, ver­ord­ne­ten Geschichts­po­li­tik. So wurde 2015 ein Gesetz verabschiedet, das nicht nur das Zeigen kom­mu­nis­ti­scher und natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Symbole unter Strafe stellt, sondern – nach schwam­mi­gen Kri­te­rien – auch eine vermeintlich über­zeich­nend nega­tive Dar­stel­lung ukrai­ni­scher natio­na­lis­ti­scher Orga­ni­sa­tio­nen im Zweiten Welt­krieg.

In Wirk­lich­keit aber hat die Ukraine neben Weiß­russ­land von allen Natio­na­li­tä­ten der Sowjet­union am schlimms­ten unter der Ter­ror­herr­schaft der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Besat­zer gelit­ten. Das ukrai­ni­sche Ter­ri­to­rium war wie das weiß­rus­si­sche zu 100 Prozent besetzt, das Gebiet des heu­ti­gen Russ­lands zu etwa zehn Prozent. Weit davon ent­fernt, von ihr als eine ver­bün­dete Nation betrach­tet zu werden, galt die Ukraine der NS-Führung als Objekt rück­sichts­lo­ser Aus­plün­de­rung und Aus­beu­tung.

Göring wollte alle Ukrai­ner über 15 Jahre töten lassen

Wie die Russen wurden auch die Ukrai­ner der NS-Ras­sen­ideo­lo­gie gemäß als „sla­wi­sche Unter­men­schen“ ein­ge­stuft, die ent­we­der zur Ver­nich­tung oder Ver­skla­vung vor­ge­se­hen waren. NS-Größen wie Hermann Göring erwogen gar, jeden Ukrai­ner über 15 Jahre töten zu lassen. Tat­säch­lich wurden Mil­lio­nen ukrai­ni­sche Zivi­lis­ten von den Deut­schen ermor­det, dem Hun­ger­tod preis­ge­ge­ben, in Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger gesperrt oder zur Zwangs­ar­beit ins Deut­sche Reich ver­schleppt. „Im Laufe des Krieges“, schreibt der britische His­to­ri­ker Richard Overy, „lie­ferte die Ukraine mehr als vier Fünftel aller Zwangs­ar­bei­ter aus dem Osten.“ Diese Ver­bre­chen betra­fen wohl­ge­merkt die nicht­jü­di­sche Bevöl­ke­rung der Ukraine. Nicht ein­ge­rech­net sind darin die 1,5 Mil­lio­nen ukrai­ni­schen Juden, die im Holo­caust ermor­det wurden. Hun­dert­tau­sen­den ukrai­ni­schen Kol­la­bo­ra­teu­ren stehen unge­fähr drei Mil­lio­nen ukrai­ni­sche Sol­da­ten gegen­über, die in den Reihen der Roten Armee gefal­len sind. Etwa 250.000 Ukrai­ner kämpf­ten zudem in den Streit­kräf­ten der West­al­li­ier­ten. Ukrai­ni­sche Natio­na­lis­ten bekrieg­ten mal zusam­men mit den Deut­schen die Sowjets, dann wie­derum die NS-Besat­zer, und wurden ihrer­seits von diesen unbarm­her­zig ver­folgt.

So sehr aber die wirk­li­che Geschichte der Ukraine im Zweiten Welt­krieg von der Kreml­pro­pa­ganda ver­fälscht wird, so kon­se­quent lässt sie die Tat­sa­che aus, dass es ebenso eine umfang­rei­che rus­si­sche Kol­la­bo­ra­tion gegeben hat. Im Westen Russ­lands, rund um die Stadt Lokot, ließ die deut­sche Besat­zungs­macht im Spät­herbst 1941 sogar die Ein­rich­tung eines „Selbst­ver­wal­tungs­be­zirks“ unter selbst­stän­di­ger rus­si­scher Ver­wal­tung und mit eigenen rus­si­schen Poli­zei­kräf­ten zu. Seit Januar 1942 wurde diese „Repu­blik Lokot“ von dem Kol­la­bo­ra­teur Bro­nis­law Kamin­ski geführt, in dessen aus­ge­dehn­tem Macht­be­reich auf dem Höhepunkt seiner Herrschaft bis zu 1,7 Mil­lio­nen Ein­woh­ner lebten. Seine „Selbst­ver­tei­di­gungs­mi­liz“ bekämpfte mit extre­mer Bru­ta­li­tät sowje­ti­sche Par­ti­sa­nen, bis sie ange­sichts der vor­rü­cken­den Roten Armee im Herbst 1943 das Gebiet räumen musste und von den Deut­schen nach Weiß­russ­land eva­ku­iert wurde. Auch dort wütete sie unter dem Vorwand der „Par­ti­sa­nen­be­kämp­fung“ grausam gegen die Zivil­be­völ­ke­rung.

Russische Kollaborateure mordeten in Waschau

Auf Befehl Hein­rich Himm­lers kam die „Kamin­ski-Brigade“ schließ­lich bei der Nie­der­schla­gung des von der pol­ni­schen Hei­mat­ar­mee orga­ni­sier­ten War­schauer Auf­stands im August und Sep­tem­ber 1944 zum Einsatz. Nach dem Ende der Kämpfe wurde die über­le­bende War­schauer Bevöl­ke­rung ver­trie­ben und die pol­ni­sche Haupt­stadt dem Erd­bo­den gleich­ge­macht. Die Scher­gen Kaminskis mas­sa­krier­ten und plün­der­ten dabei derart exzes­siv, dass dies sogar deut­schen Stellen unan­ge­nehm auf­stieß. Aus nicht ganz geklär­ten Gründen wurde Kamin­ski schließ­lich von der SS hin­ge­rich­tet. Dies geschah gewiss nicht aus huma­ni­tä­ren Erwä­gun­gen. Eher ist wahr­schein­lich, dass sich Kamin­ski an Beute ver­grif­fen hatte, die von der SS selbst bean­sprucht wurde.

Die Reste der „Kamin­ski-Brigade“ wurden nun in die soge­nannte Rus­si­sche Befrei­ungs­ar­mee (ROA) des ehe­ma­li­gen sowje­ti­schen Gene­rals Andrej Wlassow ein­ge­glie­dert. Wlassow, der sich 1941 noch bei der Ver­tei­di­gungs­schlacht der Roten Armee um Moskau her­vor­ge­tan hatte und als Günst­ling Stalins galt, geriet im Juli 1942 bei Lenin­grad in deut­sche Gefan­gen­schaft. Dort bot er den Deut­schen an, unter rus­si­schen Kriegs­ge­fan­ge­nen und anti­so­wje­ti­schen Kräften in den besetz­ten Gebie­ten Kämpfer für eine rus­sisch-natio­na­lis­ti­sche Streit­macht zu rekru­tie­ren. Tat­säch­lich kam es im Dezem­ber 1942 in Smo­lensk zur Grün­dung eines „Rus­si­schen Befrei­ungs­ko­mi­tees“ durch den inzwi­schen frei­ge­las­se­nen Wlassow. Hitler per­sön­lich hegte jedoch eine grund­sätz­li­che Abnei­gung dagegen, „min­der­ras­sige“ Slawen in den deut­schen Reihen Krieg führen zu lassen. So ließ er erst im Sep­tem­ber 1944 zu, dass Wlassow eine Truppe mit zehn Grenadierdivisionen, einem Pan­zer­ver­band und eigenen Luft­streit­kräf­ten auf­stel­len und auf­sei­ten der Wehr­macht zum Einsatz bringen konnte.

Kurz vor Kriegs­ende wech­selte Wlas­sows Kol­la­bo­ra­teurs­truppe aber noch einmal die Seiten. Anfang Mai 1945 brach in Prag ein Auf­stand zur Befrei­ung von der noch immer anhal­ten­den deut­schen Okku­pa­tion aus. Als die Waffen-SS ihn nie­der­schla­gen wollte, wen­de­ten sich die etwa 20.000 Mann der Wlassow-Armee, die an der Seite der Deut­schen den sowje­ti­schen Vor­marsch auf­hal­ten sollte, gegen sie. Offen­bar spe­ku­lier­ten sie darauf, sich so den Ame­ri­ka­nern emp­feh­len zu können, die soeben Pilsen ein­ge­nom­men hatten.

Vor dem Ein­tref­fen der Roten Armee in Prag setzten sich die Wlassow-Leute in Rich­tung der ame­ri­ka­ni­schen Linien ab – in der absur­den Hoff­nung, von diesen womög­lich zwecks eines Ein­sat­zes in einer kom­men­den Kon­fron­ta­tion mit der Sowjet­union auf­ge­nom­men zu werden. Doch sie fielen der Roten Armee in die Hände. Im August 1946 wurde Wlassow in der Sowjet­union nach schwe­ren Fol­te­run­gen in einem Geheim­ver­fah­ren zum Tode ver­ur­teilt und gehängt.

Willige ideologische Helfer

Doch nicht nur auf mili­tä­ri­schem, sondern auch auf ideo­lo­gi­schem Gebiet fanden sich zahl­rei­che rus­si­sche Helfer, die sich für die Zwecke der NS-Besat­zer ein­span­nen ließen. So durfte eine „Ortho­doxe Mission in den befrei­ten Gebie­ten Russ­lands“ in Zeit­schrif­ten wie „Der Recht­gläu­bige Christ“ und im Radio ihre Bot­schaft an „die rus­si­schen Patrio­ten“ ver­brei­ten, „mit allen Mitteln bei der Ver­nich­tung der Früchte und Wurzeln des Kom­mu­nis­mus“ zu helfen. Bei der Zeitung „Für die Heimat“ im nord­west­rus­si­schen Pskow ver­sam­mel­ten sich ehemals lini­en­treue KPdSU-Jour­na­lis­ten, um die Natio­nal­so­zia­lis­ten als Befreier Russ­lands dar­zu­stel­len. In dem Blatt ver­öf­fent­lichte etwa der Metro­po­lit Sergej seine Für­bitte: „Wir beten zum All­mäch­ti­gen, dass er auch wei­ter­hin Adolf Hitler Kraft und Stärke gibt für den Endsieg über den Bol­sche­wis­mus.“

Die weit­rei­chendste und fol­gen­schwerste Kol­la­bo­ra­tion mit dem natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deutsch­land hatte es jedoch bereits von August 1939 bis Juni 1941 gegeben – und zwar von­sei­ten des sowje­ti­schen Regimes selbst. Nach dem Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes am 23. August 1939 agierte Moskau fak­tisch als Ver­bün­de­ter des NS-Regimes und Unterstützer seines Krieges. In geheimen Zusatzprotokollen teilten die beiden tota­li­tä­ren Regime ihre Ein­fluss­sphä­ren unter­ein­an­der auf. Dem Ein­marsch der Wehr­macht in West­po­len am 1. Sep­tem­ber 1939 folgte am 17. Sep­tem­ber die Beset­zung Ost­po­lens durch die Rote Armee. Am 22. Sep­tem­ber hielten die beiden Okku­pa­ti­ons­ar­meen in Brest-Litowsk eine gemein­same Sie­ges­pa­rade ab. In einem Mili­tär­pro­to­koll bot das Kom­mando der Roten Arme der Wehr­macht an, auf Anfor­de­rung Hil­fe­leis­tun­gen „zwecks Ver­nich­tung pol­ni­scher Trup­pen­teile und Banden“ zu erbrin­gen.

Ent­ge­gen der – mit Berlin abge­spro­che­nen – Mos­kauer Pro­pa­gan­da­lüge, die Rote Armee falle zum Schutz der dor­ti­gen Bevöl­ke­rung vor den vor­rü­cken­den Deut­schen nach Ost­po­len ein, wüteten die sowje­ti­schen Truppen und Spe­zi­al­ein­hei­ten dort mit sys­te­ma­ti­schem Terror wie Mas­sen­hin­rich­tun­gen und Depor­ta­tio­nen in Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger gegen die Über­reste der pol­ni­schen Armee und die pol­ni­schen Eliten, gegen Grund­be­sit­zer und andere poten­zi­elle Gegner der kom­mu­nis­ti­schen Gleich­schal­tung.

Der Kreml als Komplize des deutschen Antisemitismus

Das sta­li­nis­ti­sche Regime wurde nun auch, wie Richard Overy for­mu­liert, „zum Kom­pli­zen des deut­schen Anti­se­mi­tis­mus“. Viele der Tau­sen­den pol­ni­schen Juden, die im sowje­ti­schen Besat­zungs­ge­biet vor der NS-Ver­fol­gung Zuflucht suchten, wurden zurück­ge­wie­sen, wor­auf­hin sie deut­sche Grenz­pos­ten unter Feuer nahmen. Andere ins sowje­ti­sche Gebiet geflo­hene Juden wurden ver­haf­tet und in Arbeits­la­ger depor­tiert. Darüber hinaus zerstörten in Ostpolen von sich aus die Lebens­welt des jüdi­schen Schtetl, schlos­sen unter dem Vorwand des Kampfes gegen die Reli­gion Syn­ago­gen ebenso wie kleine Hand­werks­be­triebe und Markt­stände, die das Rück­grat jüdi­schen Wirt­schafts­le­bens bil­de­ten. Sabbat und jüdi­sche Feste wurden abge­schafft.

Durch die Abset­zung seines jüdi­schen Außen­mi­nis­ters Maxim Lit­wi­now hatte Stalin Hitler bereits im Früh­jahr 1939 das erste Signal für seine Ver­stän­di­gungs­be­reit­schaft gegeben. Mit der sys­te­ma­ti­schen Juden­ver­nich­tung durch die Nazis hält die anti­se­mi­ti­sche Politik der Sowjets indes keinen Ver­gleich aus. Doch war die Tat­sa­che, dass schon im von den Deut­schen besetz­ten Polen der orga­ni­sierte NS-Juden­mord begann, für Moskau kein Hin­de­rungs­grund, mit ihrem deut­schen Gegen­über eine „deutsch-sowje­ti­sche Beu­te­part­ner­schaft“ zu bilden, wie dies der His­to­ri­ker Daniel Koerfer nennt.

Erst mit dem deut­schen Über­fall auf die Sowjet­union änderte Stalin schein­bar seine anti­jü­di­sche Haltung, ließ inhaf­tierte Juden frei und gestat­tete ihnen die Abhal­tung anti­na­zis­ti­scher Kund­ge­bun­gen. Als zwei ihrer Orga­ni­sa­to­ren jedoch die Grün­dung eines inter­na­tio­na­len jüdi­schen Bünd­nis­ses gegen Hitler initi­ie­ren wollten, ließ sie Stalin vom NKWD aus dem Verkehr ziehen. Einer von ihnen beging im Mai 1942 in der Haft Selbst­mord, der andere wurde ein knappes Jahr später liqui­diert. Stalin rief statt­des­sen ein der staat­li­chen Pro­pa­gan­da­be­hörde unter­stell­tes Jüdi­sches Anti­fa­schis­ti­sches Komitee ins Leben, um sich vor der Welt­mei­nung auf diese Weise den Nimbus eines Vor­kämp­fers gegen Anti­se­mi­tis­mus zu ver­schaf­fen.

Es ist nicht nur sinnlos, sondern auch ver­bre­che­risch, einen Krieg zur ‚Ver­nich­tung des Hit­le­ris­mus‘ zu führen, getarnt als Kampf für die Demo­kra­tie.

Wjat­sches­law Molotow, im Oktober 1939

Dies war er in Wahr­heit ebenso wenig, wie das Sowjet­re­gime den ihm von Hitler auf­ge­zwun­ge­nen Krieg gegen den Natio­nal­so­zia­lis­mus aus hehren huma­nis­ti­schen Motiven führte. Bis zum Über­fall auf die Sowjet­union half Moskau, die deut­sche Kriegs­ma­schi­ne­rie durch massive Roh­stoff­lie­fe­run­gen wie mittels mili­tä­ri­scher und geheim­dienst­li­cher Zusam­men­ar­beit am Laufen zu halten. Aber auch ideo­lo­gisch schlug sich der Kreml auf die Seite des NS-Regimes. Die Pro­pa­ganda gegen den „Hitler-Faschis­mus“ wurde ein­ge­stellt und es wurden statt­des­sen die West­mächte für den Krieg ver­ant­wort­lich gemacht. So erklärte am 31. Oktober 1939 Außen­mi­nis­ter Molotow vor dem Obers­ten Sowjet, an die Adresse Eng­lands und Frank­reichs gewandt, es sei „nicht nur sinnlos, sondern auch ver­bre­che­risch, einen Krieg zur ‚Ver­nich­tung des Hit­le­ris­mus‘ zu führen, getarnt als Kampf für die Demo­kra­tie“. Auch die kom­mu­nis­ti­schen Par­teien im Westen mussten diese Kehrt­wende befol­gen. Hun­derte deut­sche und öster­rei­chi­sche Kom­mu­nis­ten, die in die Sowjet­union geflo­hen waren, wurden an die Nazis aus­ge­lie­fert. Zum Sieg über Frank­reich gra­tu­lierte Stalin der deut­schen Regie­rung per­sön­lich mit eupho­ri­schen Worten.

An die rus­si­sche und sowje­ti­sche Kol­la­bo­ra­tion zu erin­nern, schmä­lert in keiner Weise die Leiden der rus­si­schen Bevöl­ke­rung im Zweiten Welt­krieg und die unge­heu­ren Opfer, die sie und die Sowjet­ar­mee bei der Nie­der­schla­gung des Natio­nal­so­zia­lis­mus erbracht haben. Ebenso wenig rela­ti­viert es im Gerings­ten dessen bei­spiel­lose Mensch­heits­ver­bre­chen. Doch gilt es, der unter groß­rus­sisch-völ­ki­schen Vor­zei­chen erneu­er­ten sowje­ti­schen Geschichts­pro­pa­ganda ent­ge­gen­zu­tre­ten, die diesen Teil der His­to­rie mani­pu­la­tiv aus dem Gedächt­nis löschen will. Wobei es zu aber­wit­zi­gen Erschei­nun­gen kommt wie der, dass Führer der pro­rus­si­schen „Volks­re­pu­bli­ken“ in der Ost­ukraine den „Kiewer Faschis­mus“ zu bekämp­fen vor­ge­ben, zugleich aber mit Insi­gnien anti­bol­sche­wis­ti­scher „weißer“ Truppen im Bür­ger­krieg 1918–21 sowie mit Sym­bo­len der Wlassow-Armee und der „Kamin­ski-Brigade“ posie­ren

Die Kol­la­bo­ra­tion ist eine his­to­ri­sche Bürde, an der alle einst vom natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deutsch­land unter­joch­ten Natio­nen in Ost und West mehr oder weniger schwer zu tragen haben. Ihre Aufarbeitung eignet sich nicht zur Instru­men­ta­li­sie­rung in aktu­el­len poli­ti­schen Kon­flik­ten – und schon gar nicht zur Untermauerung impe­ria­ler Vor­machts­an­sprü­che, wie sie das heutige rus­si­sche Regime gegen­über benach­bar­ten Staaten erhebt.

Der Text ist die leicht überarbeitete Fassung meines Artikels, der zuerst in „Die Welt“ vom 2.6.2015 erschienen ist.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

1 Kommentar

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

Schreiben Sie mir

Sie können mich problemlos auf allen gängigen Social-Media-Plattformen erreichen. Folgen Sie mir und verpassen Sie keinen Beitrag.

Kontakt