Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht sich für den Weiterbau der Gaspipeline Nord Stream 2 aus. Dafür bemüht er sogar die historische Verantwortung für die deutschen Verbrechen an den Völkern der Sowjetunion. Dass er die Erinnerung daran ausgerechnet zur Befürwortung eines Projekts instrumentalisiert, mit dem das heutige russische Regime seine aggressive Politik gegen Nationen zementiert und finanziert, die Hauptleidtragende dieser Untaten waren, sorgt nicht nur in der Ukraine zu Recht für Empörung. Zumal diese Art des Zurechtbiegens des Gedenkens an die eigene dunkle Vergangenheit in Deutschland Methode hat.
Dass sich der Bundespräsident als höchster Repräsentant des demokratischen Staats aufgerufen fühlt, öffentlich zugunsten eines Unterfangens zu intervenieren, das die Bundesregierung doch geradezu krampfhaft stereotyp als „rein wirtschaftliches Projekt“ hinzustellen versucht, ist für sich genommen schon auffällig genug. Indem Steinmeier Nord Stream 2 zu einer Art letztem Bindeglied zwischen Deutschland und Russland nobilitiert, das gerade in Zeiten politischer Spannungen zwischen Moskau und Berlin unbedingt erhalten werden müsse, dokumentiert er unfreiwillig, dass die hiesigen politischen Verantwortlichen sehr wohl aus politischen Gründen hartnäckig an der vom kremlgesteuerten Energiekonzern Gazprom betriebenen Gaspipeline festhalten.
Ganz und gar unsäglich ist jedoch, dass Steinmeier für seine PR-Aktion zugunsten eines Renommierprojekt der Kreml-Autokratie auch noch eine geschichtspolitische Begründung ins Spiel bringt, die, gelinde gesagt, von wenig historischer Kompetenz und Feingefühl gegenüber den Betroffenen zeugt. „Mehr als 20 Millionen Menschen der damaligen Sowjetunion sind dem Krieg zum Opfer gefallen. Das rechtfertigt kein Fehlverhalten in der russischen Politik heute, aber das größere Bild dürfen wir nicht aus dem Blick verlieren“, erklärte Steinmeier in einem Interview etwas nebulös. Im Klartext gesprochen heißt dies: Bei aller Kritik am Kreml dürfen wir angesichts unserer historischen Verantwortung für die NS-Verbrechen doch nicht allzu brüsk mit ihm umgehen.
Neosowjetische Geschichtspolitik
Damit aber redet Steinmeier, wenn auch noch so verklausuliert, der Instrumentalisierung der NS-Geschichte durch Putins Propagandaapparat das Wort. Treffend kommentiert Reinhard Veser in der FAZ: „Der Kreml betreibt eine an sowjetische Mythen anknüpfende Geschichtspolitik. Er beansprucht alle Opfer des nationalsozialistischen Vernichtungskriegs und alle Heldentaten im Kampf gegen Hitler-Deutschland für Russland. Zugleich diffamiert Moskau Ukrainer – und bei aktuellem politischem Bedarf auch andere Osteuropäer – als Nazi-Kollaborateure Tatsächlich wurde jedoch der größte Teil der von Deutschen im Krieg gegen die Sowjetunion begangenen Verbrechen auf den Gebieten der Ukraine und Belarus’ verübt.“
Was wohlgemerkt das Ausmaß des Leids der russischen Bevölkerung in keiner Weise schmälert. Nur darf darüber nicht vergessen werden, dass ein erheblicher Teil der Opfer des NS-Vernichtungskriegs gegen die Sowjetunion keine Russen waren. Insgesamt steht außer Zweifel, dass der Sieg über Hitlerdeutschland zu einem bedeutenden Teil dem Abwehrkampf der Völker der Sowjetunion zu verdanken ist, und dass diese im Krieg unter den alliierten Nationen die weitaus größte Zahl an Opfern zu beklagen hatten. Die Sowjetunion bestand aber eben nicht nur aus Russland, sondern auch aus Nationen wie der Ukraine und Belarus, die ihrerseits die größte Last der deutschen Okkupation zu tragen hatten – war doch ihr Territorium zu einhundert Prozent besetzt, dasjenige Russlands dagegen zu etwa zehn Prozent. (Die Ukraine verlor durch den Terror Nazideutschlands fast ein Viertel ihrer Bevölkerung.) Diese inzwischen unabhängigen Länder aber sind heute vonseiten des Kreml Zielscheibe von politischer und militärischer Aggression und Obstruktion ihres Rechts auf demokratische Selbstbestimmung. Zynischerweise versucht das Putin-Regime, diese Gewaltpolitik gegenüber Nachbarstaaten – und nicht zuletzt auch gegenüber der eigenen russischen Bevölkerung – in den Glanz der Befreiung vom Nationalsozialismus zu tauchen (vgl. meine Analysen hier und hier).
Jetzt aber werden diese sowjetischen Opfer bei Steinmeier zum Argument für die Weiterführung eines Projekts, das zumindest einem ehemaligen Teil der Sowjetunion, der Ukraine, schweren Schaden zufügt. Dass Steinmeier auf diese Weise seiner lückenhaften Geschichtsauffassung Ausdruck gibt, ist freilich mehr als ein „Fehltritt“, wie es der FAZ-Kommentator nennt. Das Gedenken an die NS-Verbrechen heranzuziehen, um der Nachgiebigkeit gegenüber dem Putin-Regime ein moralisches Deckmäntelchen zu verleihen, hat hierzulande vielmehr Methode und offenbart ein strukturelles Problem im Geschichtsbewusstsein der deutschen Gesellschaft sowie ihrer politischen Klasse. Davon zeugt nicht zuletzt das völlige Unverständnis, mit dem das Bundespräsidialamt auf die scharfe Kritik des ukrainischen Botschafters und von Teilen der deutschen Medien an Steinmeiers Äußerung reagiert hat.
Wie wenig Rücksicht das offizielle Berlin auf den Anspruch der nichtrussischen ehemaligen Bestandsteile der Sowjetunion auf eine angemessene Würdigung ihrer Leidensgeschichte nimmt, zeigt auch die Kälte, mit der sich die Bundesregierung und der Bundestag einer offiziellen Erklärung zur Verurteilung des Holodomor, des sowjetischen Hungermords an der Ukraine, verweigert. Zwar trägt Deutschland an diesem Verbrechen keine historische Mitverantwortung, wie das etwa beim türkischen Völkermord an den Armeniern 1915 der Fall ist, der vom Deutschen Bundestag als solcher eingestuft wurde. Doch angesichts dessen, was der Ukraine ein knappes Jahrzehnt nach dem Holodomor durch die NS-Besatzung angetan wurde, wirkt eine solche Unterscheidung unangemessen. Zumal sich die offizielle deutsche Politik bisher auch gegen die von der Ukraine gewünschte Errichtung eines eigenen Gedenkorts in Berlin für die Millionen (jüdischer und nichtjüdischer) ukrainischer Zivilisten sperrt, die die der NS-Besatzung zum Opfer fielen.
Steinmeiers in jeder Hinsicht peinlich verfehlte Äußerung ist ein weiterer Beleg dafür, dass diese Minderbeachtung bestimmter Opfergruppen im deutschen Diskurs systematischen Charakter hat. Tief eingebrannt ins deutsche Geschichtsbild ist nach wie vor die Vorstellung, dass alle diese Ukrainer, Belarussen, und wer da sonst noch zur Sowjetunion zählte, doch irgendwie so eine Art Russen seien. Das Festhalten an diesem Vorurteilskonstrukt, gegen das rational kaum anzukommen ist, hilft enorm dabei, mit einem einigermaßen guten Gewissen vor den Ansprüchen des neuen großrussischen Imperialismus zu kuschen.