Der EU-Kandidatenstatus für die Ukraine ist überfällig

Dass die EU die Ukraine jahrelang hingehalten und eine konkrete Beitrittsperspektive für sie immer wieder hinausgezögert hat, ist einer der Faktoren, die Putin in seinen Aggressionsplänen bestärkt haben. Sachliche Gründe für diese Verweigerungshaltung waren zu großen Teilen offensichtlich vorgeschoben, wurde doch anderen Staaten der Kandidatenstatus gewährt, obwohl sie die Voraussetzungen dafür in weit geringerem Maße erfüllten als dies vonseiten der Ukraine seit Jahren der Fall ist.

So ist Serbien seit 2012 offizieller Beitrittsanwärter – ein Staat, der kaum verhohlen mit dem russischen Aggressor im Bunde steht und sich weigert, die EU-Sanktionen gegen Putins Verbrecherregime mitzutragen. Welch eine monströse Absurdität: Während der EU-Beitrittskandidat Serbien zunehmend wieder vom aggressiv antiwestlichen großserbischen Nationalismus beherrscht wird, der in enger Übereinstimmung mit der „panslawischen“ Ideologie des russischen Autoritarismus und Hegemonismus steht, bleibt der Ukraine, in der die viel beschworenen europäischen Werte so leidenschaftlich bejaht werden wie kaum irgendwo anders in Europa, die Tür zur EU bis heute verschlossen.

Die Ungleichbehandlung, die der Ukraine über Jahre hinweg bezüglich einer Anwartschaft auf den EU-Beitritt entgegengebracht wurde, ist nur mit der chronischen europäischen Leistreterei gegenüber Russland zu erklären. Doch selbst jetzt, angesichts des russischen Angriffs- und Vernichtungskriegs, herrschen in Europa weiterhin Zögerlichkeit und Uneinigkeit darüber, ob und wie schnell der Ukraine eine konkrete Beitrittsperspektive gewährt werden soll.

Zivilgesellschaftlicher Appell

In einer gemeinsamen Erklärung legen nun 233 ukrainischen NGOs, zivilgesellschaftlichen Initiativen, Think Tanks und Gewerkschaften (die vollständige Liste der Unterzeichner finden Sie hier) eindringlich dar, warum es nicht nur politisch, sondern auch in wirtschaftlicher und finanzieller Hinsicht im vitalen Interesse der EU liegt, der Ukraine unverzüglich den EU-Kandidatenstatus zuzuerkennen – und warum ein sich anbahnender fauler Kompromiss, der das Land mit einer Art EU-Anwartschaft zweiter Klasse abspeisen würde, ein fatales Signal an Putin wäre. Es könnte den Kreml-Despoten nur in seiner Überzeugung bestärken, dass die europäische Unterstützung für die Ukraine keine wirklich dauerhafte Substanz hat.

Der Text der Erklärung unter dem Titel „Reformen in der Ukraine vorantreiben und den Glauben an Europa bewahren“ in voller Länge:

In drei Wochen wird der Europäische Rat die Möglichkeit prüfen, der Ukraine den Kandidatenstatus zu verleihen. Die Bedeutung dieses Schrittes wird von vielen in der EU unterschätzt.

Es werden Stimmen laut, die für seine Verschiebung eintreten. Aber dies würde sowohl der Ukraine als auch der EU selbst schaden. Wir möchten erläutern, warum dies die Reformen nach dem Krieg verlangsamen, den demokratischen Wandel in anderen Ländern, einschließlich des Balkans, untergraben, die Belastung des EU-Haushalts erhöhen und zu neuer Instabilität in Europa führen wird.

Es besteht jedoch die Möglichkeit, dies zu vermeiden, den Reformen einen starken Impuls zu verleihen und der EU neue Möglichkeiten zu eröffnen. Wir, die Vertreter ukrainischer Think Tanks und anderer zivilgesellschaftlicher Organisationen, schlagen einen sicheren Ansatz vor, der die Bedenken der EU berücksichtigt und erlauben wird, von der Idee Abstand zu nehmen, der Ukraine einen Zwischenstatus als „potenzieller Kandidat“ zu gewähren.

Es ist zu betonen, dass eine Mitgliedschaft der Ukraine in der EU derzeit nicht zur Debatte steht. Bis zu ihr ist es noch ein weiter Weg. Die Ukraine muss den EU-Acquis umsetzen und sich in allen Bereichen reformieren, von der industriellen Produktion über die Rechtsstaatlichkeit bis hin zur digitalen Sicherheit. Die Ukraine respektiert das Verfahren und versteht, dass sie kein Mitglied der EU werden wird, ohne tiefgreifende Reformen durchzuführen, die nicht weniger wichtig sind als der Beitritt als solcher.

Die Kriterien für den Kandidatenstatus erfüllt die Ukraine jedoch schon jetzt souverän.

Fast alle Länder, die nach 1993, als die Kopenhagener Kriterien eingeführt wurden, einen Beitritt beantragt hatten, entsprachen diesen in einem geringeren Maße als die Ukraine, die seit mehr als sieben Jahren das Assoziierungsabkommen umsetzt und der EU in einer ganzen Reihe von Bereichen nahe steht, von der Elektrizitätswirtschaft bis hin zur Außenpolitik. Kein Kandidatenland auf dem Balkan hatte zum Zeitpunkt der Zuerkennung dieses Status den EU-Standards so weit entsprochen wie die Ukraine heute.

Die Jahresberichte der EU würdigen Fortschtitte auf dem Reformweg. Im Mai 2022 forderten nichtstaatliche Think Tanks in einigen Appellen an die EU, die Ukraine als Kandidatenland anzuerkennen, angesichts der Erfolge bei der Umsetzung des Asoziierungsabkommens,  bei der Korruptionsbekämpfung, im Energiewesen und bei den Reformen allgemein. Mehr als 90 % der Ukrainer unterstützen die Bewegung in Richtung EU.

Unter diesen Bedingungen wird die wahrscheinliche Entscheidung des Europäischen Rates, die Ukraine nicht als Kandidaten anzuerkennen – selbst wenn dies mit einem anderen Status getarnt wird, der ukrainischen Gesellschaft folgendes klares Signal senden: Die EU sieht die Ukraine nicht als Mitglied der europäischen Familie, entgegen offizieller Erklärungen und der Meinung der Mehrheit der EU-Bürger, die laut Eurobarometer die Beitrittsbestrebungen der Ukraine unterstützen.

Dieser ungerechte Schritt wird Euroskeptiker und Menschen stärken, die es gewohnt sind, ungebührenden Einfluss auszunutzen, und die gegen Strukturreformen in der Ukraine eintreten. Dies wird Reformer in Regierung, Parlament und Gesellschaft schwächen.

Dieser Schritt wird ein Schlag gegen proeuropäische Kräfte in anderen Ländern sein, die mit der Ausrichtung ihrer Entwicklung zögern, einschließlich einiger Staaten auf dem Westbalkan. Es ist schwer an die Aussicht auf Mitgliedschaft zu glauben, wenn die EU sogar den Kandidatenstatus für die Ukraine blockiert, die klar die Kriterien erfüllt. Dies wird schon bald die Euroskeptiker in Belgrad, Sarajevo oder Skopje stärken, ganz zu schweigen vom geopolitischen Traum vieler in der EU, was eine künftige Demokratisierung Russlands angeht.

Dies wird auch der Effizienz der EU-Ausgaben schaden, die für den Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg bestimmt sein werden. Der Kandidatenstatus würde grünes Licht für europäische Investoren bedeuten, was die Belastung des EU-Haushalts verringern und sowohl die ukrainische als auch die europäische Wirtschaft ankurbeln würde.

Eine Unentschlossenheit inder EU würde dazu beitragen, dass sich die wichtigste Aufgabe, die sich das aggressive Russland gesetzt hat, erfüllt: Misstrauen in den Westen zu säen, die Demokratisierung der Region zu bremsen und sie in einer Zone der Instabilität zu verankern.

Wir wissen, dass mehrere EU-Hauptstädte besorgt sind, Kyjiw könnte, sobald es den Kandidatenstatus erhält, eine weitere bedingungslose Integration einfordern und den Appetit auf Reformen verlieren. Der beste Weg, diese Bedenken auszuräumen, besteht darin, Bedingungen für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen aufzustellen, also den nächsten technischen Schritt nach dem Kandidatenstatus.

Die Ukraine hat schon ähnliche Erfahrungen gemacht. Im Jahr 2010 bot die EU nach der Verabschiedung von Visaerleichterungen der Ukraine einen ehrgeizigen Aktionsplan zur Visaliberalisierung an. Nach der Revolution der Würde setzte die Ukraine diesen Plan um, indem sie Reformen beschloss, die unmöglich erschienen. Seit 2017 reisen die Ukrainer visafrei, was sich sowohl für die Ukraine als auch für die EU als vorteilhaft erwiesen hat.

Wir fordern die EU auf, diesen Weg einzuschlagen und ehrgeizige Forderungen nach empfindlichen Reformen zu stellen, einschließlich in der Justiz und bei der Korruptionsbekämpfung. Die ukrainische Zivilgesellschaft wird Ihr Partner bei der Ausarbeitung dieses Plans und bei der Durchsetzung der Reformen sein. Aber Erfolg setzt voraus, dass Anforderungen als fair empfunden werden.

Die Zuerkennung des Kandidatenstatus einschließlich ambitionierter Anforderungen bezüglich weiterer Schritte wird ein wirksames Instrumentarium zur Reform der Ukraine schaffen, Enttäuschung unter Politikern und in der Gesellschaft vermeiden helfen sowie die Europäische Union und ihre Autorität in der Welt stärken.

Die Erklärung ist auch auf Englisch, Französisch, Spanisch und Niederländisch erschienen.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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