Ukraine: Putins Invasionsplan muss jetzt gestoppt werden!

Der russische Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze müsste den Westen wie die internationale Staatengemeinschaft insgesamt in höchste Alarmstufe versetzen. Doch inmitten der Corona-Krise droht der westlichen Öffentlichkeit – und insbesondere der hierzulande – die Dramatik der Situation zu entgehen: Ein militärischer Großangriff Russlands auf die Ukraine wäre zugleich ein Großangriff auf die Fundamente der bestehenden Friedensordnung in Europa. Auch wenn niemand wissen kann, ob Putin seinen Invasionstruppen in nächster Zukunft tatsächlich den Marschbefehl geben wird – schon die Invasionsvorbereitungen selbst stellen einen Akt der Aggression gegen einen souveränen demokratischen und europäischen Staat dar, der schärfste präventive Gegenmaßnahmen erfordert.

Zumal der Kreml-Herrscher sie mit der dreisten erpresserischen Forderung an den Westen verbindet, dieser müsse ihm den Verzicht auf eine weitere Ausweitung des atlantischen Verteidigungsbündnisses nach Osten vertraglich garantieren. Damit macht Putin die von ihm verfolgte Doppelstrategie deutlich: Während er den Einmarsch in die Ukraine vorbereitet, benutzt er die Drohung damit, um das Land weiter massiv zu destabilisieren – und den Westen dazu zu nötigen, es seiner Willkür auszuliefern, indem dieser selbst der Ukraine den Weg unter den westlichen Schutzschirm verbaut,

Die bisherige Reaktion des Westens reicht jedoch bei weitem nicht aus, um Putin von seinem Vorhaben abzubringen, weitere Teile der oder gar die gesamte Ukraine zu erobern. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg warnte den Kreml bei der Pressekonferenz zum Abschluss der Außenminister-Tagung der Atlantischen Allianz diese Woche in Riga zwar erneut, dieser werde dafür „einen hohen Preis“ bezahlen müssen. Doch auf die Nachfrage, welche konkreten Maßnahmen der Westen denn in diesem Sinne ergreifen werde, wich Stoltenberg ins Allgemeine aus und verwies auf eine Reihe nicht weiter definierten Instrumentarien auf wirtschaftlichen und politischem Gebiet, die dem Westen zur Verfügung stehe. Von diesen habe man ja bereits bei der Annexion der Krim Gebrauch gemacht.

Zu schwache Signale

Das aber ist ein viel zu schwaches Signal. Der Kreml könnte daraus schlussfolgern, dass es die westlichen Regierungen, und namentlich die Europäer, auch dieses Mal bei ein paar punktuellen Sanktionen gegen einige Mitglieder des Putinschen Machtapparats belassen werden. Zwar fand Stoltenberg deutliche Worte zu dem dreisten Ansinnen Putins, die NATO müsse der Aufnahme weiterer Mitglieder entsagen. Der NATO-Generalsekretär machte mit Vehemenz deutlich, dass die Ukraine als souveräner Staat seine Bündniszugehörigkeit frei wählen kann, und dass der Kreml dabei keinerlei Einspruchsrecht besitze – und schon gar keinen Anspruch auf eine „Einflusszone“ in der Region.

Doch zugleich betonte Stoltenberg, die NATO werde die Ukraine im Kriegsfall zwar unterstützen, doch werde diese Unterstützung selbstredend nicht dieselbe Form annehmen wie dies bei einem Angriff auf einen Mitgliedstaat des westlichen Bündnisses der Fall wäre – also die eines direkten Eingreifens von NATO-Truppen. Diese Einschränkung trifft zwar unzweifelhaft zu, doch müsste die NATO Moskau umso nachdrücklicher klar machen, dass sie unterhalb dieser Schwelle eines direkten Eingreifens alles tun wird, um die Ukraine militärisch zu unterstützen und zu stärken – mittels Bewaffnung, Ausbildung und strategischer Beratung. Bleibt dieses unmissverständliche Signal aus, wird sich der Kreml in seinem Kalkül bestätigt sehen, die westliche Allianz werde seiner kriegerischen Aggression letzten Endes passiv zusehen.

Doch liegt es  nicht eigentlich an Stoltenberg selbst, dass dem russischen Aggressor derart undeutliche Botschaften kommuniziert werden. Vielmehr reflektieren seine Aussagen den Umstand, dass sich der Westen einmal mehr nicht einig ist. Während Washington die Gefahr einer – vom ukrainischen Geheimdienst für Ende Januar erwarteten – militärischen Großoffensive Russlands sehr ernst nimmt und unter anerem die Ausrüstung der Ukraine mit modernen Luftabwehrsystemen erwägt, klammern sich die führenden europäischen Regierungen, vorneweg Berlin und Paris, noch immer an die Vorstellung, Putins Aufmarschpläne seien lediglich Drohgebärden, die aus seinem subjektiven Bedrohungsgefühl resultierten. Fatalerweise wird dabei der vermeintlichen Rückzieher, den Russland im Frühjahr gemacht hat, als es schon einmal – damals unter dem Vorwand eines „Manövers“ – in bedrohlicher Weise Truppen an der ukrainischen Grenze zusammenzog, dies als Bestätigung für die These betrachtet, auch dieses Mal betreibe der Kreml nur „Säbelrasseln“. Tatsächlich aber hat Moskau seine Truppenkonzentration damals nicht wirklich aufgelöst. Die logistischen Strukturen, die für einen Großangriff aufgebaut wurden, blieben intakt und werden jetzt entsprechend ausgebaut.

Mit Putin reden? Worüber?

Deutlich schärfer als die der Europäer ist die Tonlage Washingtons. Nun aber heißt es, der US-Präsident wolle kommende Woche mit dem Kreml-Kriegsherren zu einem virtuellen Gipfel zusammenkommen. Doch was gibt es da zwischen Biden und Putin eigentlich zu besprechen? Ein Gipfeltreffen zu diesem Zeitpunkt werwckt nur den Eindruck erwecken, die erpresserischen Forderungen des Kreml-Herrschers würden durch einen Austausch auf Augenhöhe mit dem mächtigsten Politiker der westlichen Welt honoriert. In der Frage der russischen Invasionsdrohung ebenso wie des anvisierten NATO-Beitritts der Ukraine kann und darf es jedoch von westlicher Seite nichts zu verhandeln geben. Jegliches Zugeständnis in diesen Fragen würde einem Verrat an der Ukraine gleichkommen. Generell muss der eiserne Grundsatz gelten, dass über das Schicksal der Ukraine nicht ohne die Ukraine verhandelt werden darf.

Statt Putin durch Gespräche auf höchster Ebene aufzuwerten, muss der Westen jetzt entschlossen proaktiv handeln. Er muss dem Kreml einen konkreten Katalog von Gegen-und Srafmaßnahmen ankündigen, die in Kraft treten werden, sobald Moskau weitere Aggressionsakte gegen ukrainisches Territorium verüben sollte. Diese müssen den Ausschluss Russlands aus dem internationalen Finanzsystem ebenso umfassen wie die massive Aufstockung der NATO-Präsenz in den osteuropäischen Mitgliedstaaten. Der Sanktionskatalog müsste zudem abgestuft sein: erste darin enthaltene Maßnahmen sollten in Kraft gesetzt werden, wenn Moskau seine Truppenkonzentration an der ukrainischen Grenze nicht innerhalb einer bestimmten Frist überprüfbar auflöst.

Unterdessen gilt es, die Verteidigungskraft der Ukraine so weit wie möglich zu stärken. Nur wenn Putin klar wird, dass er im Falle einer Militäroffensive mit hohen russischen Verlusten auf dem Schlachtfeld, dem Zusammenbruch seiner wirtschaftlichen Beziehungen sowie mit einer vollständigen politischen Isolation in Europa rechnen muss, besteht eine Chance, dass er von seinem Aggressionsplan abrückt. Dem Westen muss endlich klar werden, welche existenzielle Gefahr für ihn von Putins aggressiven Expansionismus ausgeht. Russland hat sich de facto Belarus einverleibt und wird es als Aufmarschgebiet nicht nur gegen die Ukraine, sondern auch gegen die baltischen Staaten und Polen nutzen. Er hat damit das strategische Gleichgewicht in Europa bereits jetzt massiv zu Ungunsten der europäischen Demokratien verschoben. Während die EU noch immer über schärfere Sanktionen gegen den belarusischen Folter-Autokraten Lukaschenko nachdenkt, ist der längst zur bloßen Marionette des Kreml mutiert – seinen ultimativen Kotau vor ihm lieferte er kürzlich ab, als er seinem Schutzherren die Rechtmäßigkeit der Krim-Annexion bescheinigte – was er bisher als Zeichen nationaler Eigenständigkeit verweigert hatte.

Niemand soll sich der Illusion hingeben, das Putin-Regime würde jemals freiwillig und durch gutes Zureden von seiner Absicht ablassen, die Ukraine wieder unter die Vorherrschaft Moskaus zu zwingen. Und niemand sollte glauben, es werde Halt machen, wenn es dieses Ziel erreicht hat – sei es durch militärische Eroberung oder durch die systematische Zerstörung der inneren Stabilität der Ukraine. Jetzt ist noch Zeit, die imperialen und hegemonistischen Ambitionen des putinistischen Russland entschlossen einzudämmen. Versagt der Westen jedoch bei dieser Aufgabe, wird Putins Aggressionspolitik früher oder später in einen großen europäischen Krieg münden – es sei denn, der Westen streckt von vorneherein vor ihm die Waffen und unterwirft sich seinem Dominanzanspruch.

Siehe dazu auch meine früheren Beiträge:

Belarus bis Balkan – Putin zieht die Schlinge um Europa zu

Der Westen darf die Ukraine nicht länger hinhalten

Putin greift nach Belarus und rückt auf das freie Europa vor

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

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Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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