Whisky für die Taliban. Das antiwestliche Ressentiment

Der folgende Aufsatz über das antiwestlichen Ressentiment, seine Quellen und Motive erschien zuerst 2004 in der Zeitschrift „Merkur“. Obwohl sich seitdem sehr viel ereignet hat und manche der zitierten Personen nicht mehr unter uns sind, bleibt er in seinen Grundzügen unvermindert aktuell. (Auch wenn damals nicht abzusehen war, wie heftig der militante antiliberale Affekt die USA selbst zerrütten würde. Und schon gar nicht, dass die Talban nach 20 Jahren an die Macht zurückkehren würden.). Er enthält rückblickend überraschende Einsichten über die verblüffenden Querverbindungen zwischen den ideologisch scheinbar antipodischen antiwestlichen Extremismen. Wer etwa war es, der 2001, kurz nach den Terroranschlägen des 11. September, erklärte, mit dem Islam stehe „uns nach der Säkularisierung des Westens die letzte große geschlossene geistige Kraft gegenüber, die wir in ihrem Eigenwert respektieren und der wir ein Recht auf autonome Gestaltung ihres Andersseins zugestehen müssen“? Es war Alexander Gauland – zu einer Zeit, als er in der „bürgerlichen Mitte“ noch als seriöser konservativer Denker galt, um später zum Anführer und Chefdemagogen der rechtsextremen AfD zu werden.

In einer Szene des Films Monty Python´s Life of Brian , der die Monumentalschinken über das Leben und Sterben Jesu parodiert, hält ein judäisches Widerstandskommando ein konspiratives Treffen ab. Der Anführer heizt die Stimmung gegen die römische Besatzungsmacht auf. „Diese Bastarde“, ruft er aus, „haben uns alles genommen, und nicht nur uns, sondern auch unseren Vätern und den Vätern unserer Väter. Und was haben sie uns jemals dafür gegeben?! “ Einer der Aktivisten kommt über die rhetorisch gemeinte Frage ins Grübeln. „Den Aquädukt“, meint er zögernd. „Und die Kanalisation“, sagt ein anderer. Jetzt fällt jedem der Möchtegern-Kämpfer etwas ein: „Die Straßen „, „Medizin“, „Bildung“, „den Wein“, „öffentliche Bäder“, und so weiter.

„Na gut, na gut“, unterbricht der Anführer schließlich ungeduldig, „zugegeben, aber von all dem einmal abgesehen: Was haben die Römer jemals für uns getan?“ Und das Kommando fährt unverdrossen mit den Vorbereitungen für seine militanten Aktionen fort. Übrigens besteht der Plan darin, die Frau des römischen Statthalters zu entführen und zu fordern, dass „der gesamte Apparat des imperialistischen römischen Staates“ binnen zweier Tagen aufgelöst wird. Andernfalls soll der Geisel der Kopf abgeschnitten werden. Und, fügen die Aufrührer hinzu, danach würden sie deutlich machen, dass allein die Römer die Verantwortung für diese blutige Konsequenz trügen, da sie sich so uneinsichtig gezeigt hätten.

Eine ähnliche Szene wie im Film könnte man sich im heutigen Irak vorstellen, in der Anhänger des extremistischen Schiitenführers al-Sadr beisammensitzen. „Was haben die Besatzer je für uns getan“, könnten sie fragen, „außer uns von einer der schlimmsten Tyranneien des 20. Jahrhunderts zu befreien? Was haben sie uns jemals gebracht außer freier Presse, Informations- und Koalitionsfreiheit, Aussicht auf freie Wahlen, besser ausgestattete Schulen und Kindergärten ohne ideologische Indoktrination, Religionsfreiheit auch für die vorher unterdrückte schiitische Bevölkerungsmehrheit, gesicherte Lebensmittelversorgung, freien Handel und einen sichtbar beginnenden Wirtschaftsaufschwung? Kurz, was haben uns die verfluchten Besatzer gegeben außer den Voraussetzungen für die Entwicklung einer freien und prosperierenden Gesellschaft? Nichts! Tod den Besatzern“!

Skrupel sind westlich

Auch wenn über Gewaltakte und chaotische Verhältnisse in hiesigen Medien ausführlicher berichtet wird als über die Vorzüge, die das heutige Leben im Irak gegenüber den Zeiten Saddam Husseins hat, hätten die Iraker in unserer imaginären Szene doch viele berechtigte Gründe, sich über die amerikanische Besatzungsmacht zu beklagen. Die politischen Fehler und Versäumnisse der amerikanischen Führung, die verbrecherischen Taten, die von US-Soldaten im Irak begangen wurden, sind allzu zahlreich. Gemessen an dem Anspruch der  Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten, rechtsstaatliche und demokratische Strukturen im Irak zu verankern, sind solche Exzesse, mit den Folterungen im Gefängnis von Abu Ghraib als moralischem Tiefpunkt, besonders deprimierend.

Es geht hier auch nicht darum, die Gegner des Irakkriegs unter Generalverdacht zu stellen, antiwestlich zu sein. Man konnte gute Argumente gegen diesen Krieg anführen, die sich an westlichen Interessen und Werten orientierten. Und es wäre grundsätzlich absurd, „den Westen“ als die beste aller möglichen Welten hinzustellen, an der es nichts zu kritisieren gäbe. Ohne radikale öffentliche Kritik wäre der Westen nicht „der Westen“, oder dies wäre dann nichts anderes als eine geographische Bezeichnung für die Weltgegend, von der aus bestimmte weltpolitische Mächte agieren. Dass er die Institution der öffentlichen Kritik als konstituierendes Element eines florierenden Gemeinwesens begreift, ist ja gerade eine der Zivilisationsleistungen, die sich mit dem Begriff „Westen“ untrennbar verbunden haben. Der Folterskandal von Abu Ghraib hat auf drastische Weise gezeigt: Was eine westliche Gesellschaft politisch-kulturell auszeichnet ist nicht, dass sie bessere Menschen hervorbrächte als andere politische Kulturen. Auch ihre Machtapparate sind nicht von sich aus gegen den Absturz in Unmenschlichkeit gefeit. Die Besonderheit moderner westlicher Gesellschaften besteht darin, dass sie sogar in der Extremsituation eines Krieges fähig bleiben, in ihrem Namen begangene Untaten aufzudecken, schonungsloser öffentlicher Kritik und rechtlichen Sanktionen zu unterziehen.

Selbstzweifel, Skrupel bei der Anwendung seiner Machtmittel und die Bereitschaft, sich Gesetzen und Regeln zu unterwerfen, gehören ebenso zur politischen Kultur des Westens wie das Prinzip der Gewaltenteilung und der institutionellen Trennung von Staat und Gesellschaft, von Staat und Religion. Das antiwestliche Ressentiment aber artikuliert eine ganz andere Botschaft als die Selbstkritik, die für den Bestand der westlichen politischen Kultur unverzichtbar ist. Es bestreitet grundsätzlich, dass der Westen Prinzipien und Werte verkörpert, die denen autoritärer Gesellschaftsformationen vorzuziehen seien. Es beinhaltet auch weit mehr als nur die Ablehnung einer bestimmten amerikanischen Regierungspolitik. Amerika ist mit dem „Westen “ nicht identisch. Es kann somit sehr wohl eine „westliche“ Kritik an der amerikanischen Politik und Gesellschaft geben.

Europäische Projektionen

Doch die Vereinigten Staaten sind nun einmal die stärkste Macht der westlichen Welt – mehr noch, ihre ökonomische und militärische Kraft ist es hauptsächlich, die die Sicherheit der westlichen Demokratien garantiert. In den Vorbehalten und Aggressionen gegen die USA bündeln und potenzieren sich daher die Aversionen, die sich gegen den Westen insgesamt richten. Dan Diner hat in seiner Studie „Feindbild Amerika“ gezeigt, wie Europa Amerika seit zweihundert Jahren als Projektionsfläche benutzt, um Eigenschaften, die es an sich selbst nicht wahrhaben will, aus dem eigenen Bewußtsein abzuspalten. So gilt Amerika als Hort des Kapitalismus, der Raffgier, des Rassismus, der religiösen Bigotterie und der entfesselten Gewalt nach innen wie nach außen.

Doch Europa selbst hat den Kapitalismus hervorgebracht und eine Klassengesellschaft gekannt, deren Ungleichheit die der heutigen amerikanischen Gesellschaft bei weitem übertrifft, es hat jahrhundertelang Kolonialismus praktiziert und innere blutige Kriege geführt, die von religiösem, nationalem oder rassischem Hass und von Raubgier motiviert waren. Heute sind die Europäer stolz darauf, all diese schrecklichen Verirrungen der Vergangenheit hinter sich gelassen zu haben. Aber sie wissen auch, dass sie ihren friedfertigen Neuanfang nach 1945 hauptsächlich dem Eingreifen der USA zu verdanken haben und dass sie ihre Freiheiten auch heute noch ohne amerikanischen Schutz kaum gegen äußere Feinde verteidigen könnten.

Dieser innere Zwiespalt ist ein Nährboden für das Ressentiment. Denn während Europa seine zivilen Errungenschaften feiert, bleibt doch der Makel, dass es deren Grundlagen nicht aus eigener Kraft schaffen konnte. Diese Einsicht ruft ein nagendes Gefühl der Unzulänglichkeit und Ohnmacht hervor. Wenn Amerika seine überlegene Macht demonstriert, wird dieses Gefühl stets aufs neue aufgerührt. Die Europäer werden daran erinnert, dass sie ungeachtet ihres inneren Friedens nach wie vor in einer gefährlichen, gewalttätigenWelt leben, in der westliche Gesellschaften nur bestehen können, solange sie in der Lage sind, ihre Feinde durch überlegene Macht in Schach zu halten. Unversehens richtet sich der unterschwellige Zorn über diesen beunruhigenden Gedanken gegen die westliche Vormacht, die ihn unverhohlen ausspricht.

Prekäre Freiheit

In den USA komprimieren sich zudem alle Gegensätze und Paradoxien, die eine westliche Gesellschaft ausmachen. Die amerikanische Gesellschaft ist sowohl egalitär als auch von gewaltigen Unterschieden des Einkommens und der Lebensverhältnisse geprägt, sowohl streng säkular als auch tief religiös. Hypermodernität und Reste vormoderner Lebensformen existieren unvermittelt nebeneinander; nirgendwo sonst im Westen gibt es ein so buntes ethnisches Gemisch und zugleich derart scharf von einander abgegrenzte „Parallelgesellschaften“. Und während Amerika mit geradezu zivilreligiöser Inbrunst dem Ziel einer friedfertigen Welt verpflichtet ist, schämt es sich doch nicht, sich stolz zu seiner militärische Stärke und Entschlossenheit als der unbedingten Voraussetzung für den Erhalt seiner Freiheit zu bekennen.

Wie in einem Vergrößerungsglas zeigt sich in diesem Land somit die ganze Unmöglichkeit, die „den Westen“ ausmacht. Die westliche offene Gesellschaft enthält keine Verheißung einer idealen, harmonischen Ordnung. Der Westen ist nicht mehr und nicht weniger als das Versprechen, es sei möglich, selbst den schlimmsten Gefahren und Problemen, mit der eine Gesellschaft konfrontiert wird, unter Wahrung der Freiheit und der Würde des Einzelnen zu begegnen. Die westliche offene Gesellschaft ist kein Modell, das für alle gleichermaßen passt. Sie ist ein stets gefährdeter Prozess ohne Garantie auf Gelingen. Ihre Substanz besteht nicht in ewig gültigen Wahrheiten, in die Völker, Nationen und Kontinente nach Hegelschem Muster dialektisch hineinwachsen könnten, um dann bei sich selbst angekommen zu sein. Die offene Gesellschaft ist nichts als das Bekenntnis zu einer offen bleibenden Frage: Wie ist das gesellschaftliche Zusammenleben in größtmöglicher Selbstbestimmung aller Individuen unter Einhaltung eines zivilen Regelwerks weitestgehend gerecht und friedlich zu organisieren? An die Stelle der Übereinstimmung als Grundlage der Gemeinschaft tritt ein anderes Prinzip des gesellschaftlichen Zusammenhalts: das gemeinsame Erlernen des Umgangs mit der permanenten Nicht-Übereinstimmung.

Der Westen verstößt so oft gegen seine eigenen Prinzipien, wie er sie beschwört. Und er korrigiert sich so oft, wie er sich in Irrwege verrennt. Und das Unfassbare: Diese prekäre Konstruktion versinkt nicht im Chaos. Sie funktioniert, weil sie ein Höchstmaß an Lernfähigkeit ermöglicht. Mehr noch, sie gewinnt selbst aus ihren Niederlagen Erneuerungskraft und gesteigerte Prosperität. Der Westen hat seine Kolonien aufgegeben, hat in seinen Gesellschaften die Klassenschranken und die Rassentrennung aufgehoben, hat die Kritik der sozialen, antirassistischen und ökologischen Bewegungen in sein Selbstbild aufgenommen – und all diese Zugeständnisse haben ihn nicht zerstört, sondern reicher, freier und für Menschen aus aller Welt attraktiver gemacht.

Der Westen, eine Paradoxie

Diese Fähigkeit wirkt auf seine Kritiker unheimlich und regt die verschwörungstheoretische Phantasie an: Hinter dieser Unverwüstlichkeit des Westens muß eine perfide Macht stehen. Das antiwestliche Ressentiment verwandelt die offene Struktur der westlichen Gesellschaften gedanklich in eine homogene Einheit mit einem lenkenden bösen Hirn im Zentrum zurück. Oder es interpretiert umgekehrt das Fehlen eines zentralen Kerns in dieser offenen Struktur als Beweis für den unvermeidlichen Weg des Westens in den Verfall und in einen (welt)zerstörerischen Untergang. Dabei kommt das Ressentiment gegen den Westen keineswegs von außerhalb: Es entsteht durch die inneren Spannungsverhältnisse im Westen selbst. Denn seine unübersichtliche Wirklichkeit produziert die übergroßen Erwartungen, die dann zwangsläufig enttäuscht werden.

Seine hohen Ideale von Frieden, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wecken die Sehnsucht, diese Maximen zu unbefleckten Prinzipien gelebter gesellschaftlicher Wirklichkeit werden zu lassen. Doch westliche Gesellschaften können diese Sehnsucht nicht erfüllen. Mit den individuellen und sozialen Rechten und Freiheiten liefern sie, per Informationsfreiheit, auch die unverstellte Sicht auf Missstände und endlose Konflikte, auf Elend und Bosheit, auf all das Häßliche also, das in der Welt ist. Der Westen hält die Rechte des Menschen hoch und verschreibt sich der Mehrung menschlichen Glücks, zugleich aber liefert er seine Bürger schonungslos der Einsicht aus, dass der Mensch nicht gut ist. Wer diese Paradoxie nicht aushält, und das sind sehr viele – ununterbrochen hält sie niemand aus -, der gerät in Gefahr, vom Ressentiment gegen denWesten befallen zu werden. Ist diese offene Gesellschaft nicht eine große Lüge, eine Zumutung, die ihre Unfähigkeit, Ordnung in die Verhältnisse und in die Köpfe zu bringen, auf dem hilflosen Einzelnen ablädt und ihn mit unerträglichen Widersprüchen allein lässt?

Wer vom Ressentiment in Besitz genommen wurde, der drängt darauf, den Widerspruch nach der einen oder der anderen Seite aufzulösen. Militante (praktizierende und sympathisierende) Extremisten bewundern die in ihren Augen unermeßliche Macht, die das verachtete Gebilde trotz seiner Unfähigkeit, den Menschen unverbrüchliche Normen und Werte vorzugeben, angehäuft hat. Sie glauben, die Macht des Westens könne durch exzessive Gewaltausübung zum Einsturz gebracht werden. Ob Lenin und Stalin oder Hitler, ob Pol Pot, Saddam Hussein oder Osama bin Laden: Unter welcher ideologischen Fahne auch immer antiwestliche Revolutionäre antraten, um die Welt durch die Errichtung einer vollkommenen Ordnung zu heilen, alle waren davon überzeugt, der Westen sei im innersten dekadent und übe seine Dominanz nur aufgrund seiner skrupellos und tückisch angewendeten Gewaltmittel aus. Gelänge es, diesen Machtapparat entscheidend zu schwächen, müsste der Westen kraftlos in sich zusammenfallen. In ihrer Fixierung auf Macht und Gewalt verkennen sie, dass die Überlegenheit westlicher Gesellschaften nicht zuletzt in ihrer Fähigkeit liegt, Gewaltanwendung zu dosieren und sich bei der Verfügung über die furchtbarsten Waffenpotentiale zivilisatorische Zügel anzulegen.

Fixierung auf Gewalt

Die Gewalt ist aber keineswegs das entscheidende Mittel, mit dem der Westen seinen überragenden Einfluß in der Welt ausübt. Er basiert vielmehr auf den Verlockungen, die von seiner wirtschaftlichen Kraft, seinen gesellschaftlichen Freiheiten und seinem schier unerschöpflichen Warenangebot ausgeht. Den antiwestlichen Ideologen bleibt also nichts anderes übrig, als auch diese Verführung durch westliche soft power in eine Spielart gewalttätiger Aggression umzudeuten. Wie wirksam sie ist, ist ihnen zumeist nur allzu bewusst. Sind sie doch selbst dieser Verführung erlegen und haben sich jene westlichen Konsumgenüsse gegönnt, die sie als Teufelswerk den ihnen unterworfenen Volkskörpern vorenthalten wollten.

Während Pol Pot sein Volk in Arbeitslagern in ein vorindustrielles Agrarkollektiv umerziehen ließ, residierte er selbst in einer Villa und erfreute sich eines üppigen Luxus. Noch weit sagenhafter sind die Konsumbedürfnisse des nordkoreanischen Diktators Kim Jong Il, dessen gigantisches Privatvermögen in dem Maße anwuchs, wie er sein nukleares Rüstungsprogramm vorantrieb und seine kommunistische Mustergesellschaft in Hungersnöte abstürzen ließ. In der Bleibe von Mullah Omar, des Anführers der Taliban, fand man jede Menge Konsumartikel aus amerikanischer Herstellung. Die Taliban-Führer, die 2000 zu Geheimverhandlungen mit der amerikanischen Regierung nach Frankfurt am Main gekommen waren, hinterließen im Flughafenhotel eine unbezahlte Getränkerechnung von mehreren tausend D-Mark: Die Funktionäre, unter deren Schreckensregime der Genuss von Alkohol im buchstäblichen Sinne eine Todsünde war, hatten in wenigen Tagen Unmengen Whisky vertilgt.

Die Beispiele zeigen, dass das Ressentiment gegen den Westen sich erst dann richtig entfaltet, wenn sich seine hasserfüllten Prediger selbst vom süßen Gift des Westens durchdrungen fühlen und der eigenen Lust an dessen Wirkung freien Lauf gelassen haben. Das Strafbedürfnis, das sie angesichts dieser Anerkenntnis ihrer Anfälligkeit für die Wonnen der Konsumgesellschaft empfinden, befriedigen sie allerdings nicht am eigenen Leib, sondern lieber an ihren Untertanen und Fußtruppen, die ihren Reinigungsphantasien schutzlos ausgeliefert sind. Und sie lassen vor allem den Westen spüren, dass sie bereit sind, ihm die Schmach, seinen Sirenengesängen gefolgt zu sein, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln heimzuzahlen

Ressentiment und Allmachtsfantasie

Und obwohl ihre Überzeugung, der Westen sei in Wahrheit nichts als eine monströse menschenverschlingende Machtmaschinerie, nur den eigenen projektiven Allmachtsfantasien geschuldet ist, liegen sie mit ihrem Kalkül, die komplizierte Balance westlicher Gesellschaften durch den Einsatz entfesselter Gewalt zum Kippen zu bringen, nicht ganz falsch. Denn westlichen Gesellschaften fällt es ausgesprochen schwer, mit wahlloser Vernichtungswut umzugehen. Zum einen besteht die Gefahr, dass sie sich im Abwehrkampf gegen die Bedrohung den Methoden ihrer Herausforderer annähern und die rechtsstaatlichen und demokratischen Tugenden dabei bleibenden Schaden nehmen könnten. Zum anderen aber erschüttert die Vorstellung von einem Netzwerk, das jederzeit mit ungehemmter mörderischer Energie zuzuschlagen bereit ist, das Selbstbewußtsein des Westens in seinem Kern.

Nicht von ungefähr kulminierte der Angriff auf die Vereinigten Staaten am 11.September 2001 in der Zerstörung des World Trade Center: Der Einsturz der riesigen Türme, die wie kein anderes Wahrzeichen für die fortschrittsorientierte, säkulare Lebensart der westlichen Welt standen, rief archaische Muster apokalyptischer Endzeiterwartung wach. Die Ungeheuerlichkeit und die Anonymität der Tat ließ ihre Urheber wie Sendboten einer überirdischen rächenden Gewalt erscheinen. Schon kurz nach dem Anschlag begann in westlichen Feuilletons eine Debatte darüber, ob es denn nicht Ausdruck anmaßender Überheblichkeit sei, derart gigantische Hochhäuser zu bauen – als hätte die Strafe für diese Vermessenheit früher oder später folgen müssen.

Indem er sich exemplarisch gegen die große Stadt richtete, zielte der Angriff vom 11. September auf die Idee der Zivilisation schlechthin, wie sie uns aus uralten Mythen und religiösen Überlieferungen entgegentritt. Zivilisation beginnt, wenn die Menschen aus den engen Banden der Bluts- und Stammesgemeinschaft heraustreten und ihrem Zusammenleben eine abstrakte, vertragsrechtliche Form geben. Davon erzählt Aischylos in seinen Eumeniden: Die Einsetzung des Areopags als oberste Gerichtsinstanz beendet den verheerenden Kreislauf der Blutrache und begründet die Herrschaft des Gesetzes als Fundament der Polis. Der Ort, an dem die Zivilisation lebendige Form annimmt, ist die Stadt. Dort treffen Fremde unterschiedlicher Abstammung und religiöser Überzeugung aufeinander und müssen kulturelle Regelwerke schaffen, die von allen respektiert werden können. Aus den komplexen, arbeitsteiligen Beziehungen, die hier entstehen, entwickelt sich der Markt und die Geldwirtschaft

Feindbild Stadt

In allen Kulturen ist die Stadt Kern zivilisatorischer Entwicklung – gerade darum aber steht sie von Anfang an auch unter einem Generalverdacht. Ist ihre Existenz nicht ein unerhörter Bruch mit der natürlich vorbestimmten Lebensweise der Menschen? Reißt sie ihn nicht aus der symbiotischen Einheit der Gemeinschaft mit ihrem angestammten Boden, ist Haltlosigkeit und Ausschweifung nicht die unausweichliche Folge dieser Entwurzelung? Kurz, ist die Stadt nicht Ausdruck und Nährboden einer ungeheuren Hybris, einer gotteslästerlichen Auflehnung gegen die ursprüngliche und ewige Ordnung der Welt? In der jüdisch-christlichen Überlieferung erscheint die Gründung der ersten Stadt gar als indirekte Folge des Verbrechens: Kain, der Brudermörder, wird von Gott dazu verurteilt, unstet und flüchtig durch die Welt zu ziehen; so wird er zum ersten Nomaden und schließlich zum Stadtgründer.

Aus den Städten entwickeln sich Metropolen und schließlich jene „Riesenstädte “ der Hochzivilisation, die der Kulturphilosoph Oswald Spengler in seinem Untergang des Abendlandes bezichtigte, dem umliegenden Land seine natürliche Lebenskraft auszusaugen. Die große Stadt ist von alters her die bevorzugte Zielscheibe apokalyptischer Untergangsphantasien. Sodom und Gomorrha übereignet Gott wegen ihrer Ausschweifungen dem Feuertod. Das biblische Urbild der sündigen Stadt aber ist Babylon, das sein Selbstbewußtsein durch den Bau eines Turms manifestiert, „dessen Spitze bis an den Himmel reiche“. Mit der Offenbarung des Johannes im Neuen Testament beginnt die Instrumentalisierung apokalyptischer Phantasien für realgeschichtliche Zwecke. Mit der „großen Hure“ Babylon ist eigentlich Rom gemeint, das Herz des heidnischen Imperiums, von dem die Welt befreit werden müsse.

Paris, London und schließlich New York besetzten in der Moderne den Platz der „Hure Babylon“ als Inbild der Sünde wider den Geist irdischer Selbstbescheidung und Demut. Denn militanter Hass ist keineswegs die einzige Ausdrucksform, die das Ressentiment gegen den Westen annehmen kann. Weit öfter tritt es in Gestalt eines quälenden Unbehagens auf, das sich in pauschalen Anklagen und düsteren Prophezeiungen über Katastrophen, die der Westen mit seiner Lebensweise herbeiführen werde, Luft macht. Während der extremistische Antiwestler dem Westen verargt, dass er den Plan zur Versklavung der Welt hintermenschenfreundlichen Prinzipien versteckt, statt sich offen der großen Entscheidungsschlacht mit denWelterlösern zu stellen, verübelt ihm das humanistische Ressentiment, dass er nicht endgültig von den machtgestützten Instrumentarien egoistischer Selbsterhaltung lassen will. Seine Maximalforderung, der Westen möge sich als Lamm zu den Lämmern gesellen, die den Rest des Planeten bevölkern, und gemeinsam mit ihnen unter Bekundung gegenseitiger guter Absichten alle bisherigen Ungerechtigkeiten und Konflikte aus der Welt schaffen, beruht auf einer radikalen Ausblendung der Ursachen von Gewalt und Unrecht, die sich nicht auf westliche Dominanz- und Ausbeutungsinteressen zurückführen lassen. Während sich der ressentimentgeladene Humanismus als Anwalt der Armen und Entrechteten dieser Erde ausgibt, enthüllt sein Denken tatsächlich eine extreme Selbstbezogenheit, die keine Erscheinung der Wirklichkeit zur Kenntnis nimmt, wenn sie sich nicht in den Unheilszusammenhang westlicher Politik- und Wirtschaftspraktiken einordnen läßt.

Die Axiome der Antiwestler

So wartete man vergeblich auf den Proteststurm globalisierungskritischer Organisationen wie Attac gegen den Völkermord, der mit Unterstützung der sudanesischen Regierung von arabischstämmigen Milizen an der afrikanischen Bevölkerung des Landes verübt wurde. Dieses rassistisch motivierte Verbrechen wurde von einer islamistischen arabischen Junta geschürt, und es passt daher weder in das Bild eines vom Westen betriebenen „Kampfs der Kulturen“, der sich in einem „Kreuzzug gegen den Islam“ konkretisiert, noch lässt sich hinter dem Handeln der sudanesischen Regierung eine Anweisung der Weltbank vermuten. Darauf aber hat sich Attac festgelegt: Die Verelendung der Dritten Welt nebst Vertreibungs- und Flüchtlingselend ist der durch Weltbank und Weltwährungsfonds exekutierten Durchsetzung einer „neoliberalen“ Finanzpolitik geschuldet. Dabei entgeht den Anklägern, dass das Elend in solchen Staaten am größten ist, die sich von der „neoliberalen Globalisierung“ militant abschotten, weil diese die Alleinherrschaft der Machthaber gefährden könnte. Gegen Saddam Husseins totalitäre Diktatur, gegen den mörderischen Horrorstaat Nordkorea, gegen Castros Regime, gegen die chinesische Besatzungspolitik in Tibet, gegen die Ausplünderung der Palästinenser durch die korrupte Autonomiebehörde pflegen die Globalisierungskritiker von Attac nicht Sturm zu laufen.

Diese Generosität gegenüber allen Gewalttätern, die sich nicht den Herrschaftsplänen des Westens zuordnen lassen, bewegt sich stets im Gleichklang dreier Grundaxiome.

Erstens: Bei den Erfolgen der westlichen Gesellschaften geht es nicht mit rechten Dingen zu. Ihre materiellen Errungenschaften verdanken sie der Ausbeutung von Mensch und Natur, ihre Freiheiten sind entweder bloßer Schein oder sie kommen nur wenigen zugute, die sie auf Kosten vieler anderer genießen. Sofern wir selbst in ihren Genuss kommen, leitet sich daraus die moralische Verpflichtung ab, unsere privilegierte Situation zu nutzen, um die Grundlage dieser Ungerechtigkeit laut anzuklagen.

Zweitens: In den Weltkonflikten ist der Westen immer der Angreifer. Selbst wenn er wie am 11.September in den USA oder am 11.März in Spanien in mörderischer Weise attackiert wird, trägt er mindestens Mitschuld. Denn er hat den exzessiven Haß seiner Feinde durch seine Rücksichtslosigkeit und Arroganz gegenüber andersartigen Gesellschaften und Kulturen provoziert.

Drittens: Der Westen ist übermächtig und letztlich unverletzbar. Deshalb kann er ohne Bedenken verteufelt werden. Und wenn der Westen behauptet, dass er sich gegen seine Feinde verteidigen müsse, um seine Existenz zu sichern, will er damit nur weitere Aggressionen gegen unschuldige Menschen und Eroberungen wehrloser Länder rechtfertigen,

Wer hat den Irak zerstört?

Dieses geschlossene Weltbild ist längst von den Rändern in die Mitte eines arrivierten Kulturbürgertums gewandert. Vor einem Jahr nahm der Regisseur und ehemalige Theaterintendant Ivan Nagel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (5.August 2003) zu der Frage Stellung, ob sich Deutschland und Frankreich am Wiederaufbau des Irak aktiv beteiligen sollten. „In Europa“, schrieb Nagel, „mehren sich die Stimmen: Die Gegner des Kriegs sollen nun die Schäden des Krieges mit beheben. Ob aus Mitleid mit Irakern oder Amerikanern, ob mit oder ohne UN-Aufsicht – dieses Vorgehen wäre aberwitzig. Es spielt sich als mutige Realpolitik auf und ist feiger Opportunismus. Mit ihm würden Schröder, Chirac und ihresgleichen ihre Glaubwürdigkeit verschleudern; nicht nur daheim, sondern vor allem in Amerika.“

Die Amoralität einer möglichen europäischen Hilfe begründete Nagel damit, dass die US-Regierung eine Stabilisierung des Irak dazu nutzen werde, ihre weitergehenden Kriegspläne voranzutreiben – die Europäer würden sich also, trügen sie zur Verbesserung der Lage im Irak bei, zu nützlichen Idioten der amerikanischen Kriegsmaschinerie machen. Die „Anbiederung“ der Europäer würde, so Nagel, „bewirken, dass der Regierung und dem Volk Amerikas jede Lektion des verrückten Irak-Kriegs erspart bleibt“. Der deutsche Moralist hofft also, dass baathistische und islamistische Terroristen Amerika eine blutige Niederlage bereiten, um es moralisch zu läutern. Um diese Erziehungsaktion nicht zu gefährden, dürften sich die Europäer auch nicht durch „Mitleid mit den Irakern“ von ihrer konsequenten Verweigerungshaltung abbringen lassen. Das kann nur heißen: Besser, man läßt die Iraker vor die Hunde gehen, als an weiteren Opfern amerikanischer Angriffskriege mitschuldig zu werden – was der Position der drei Agitatoren in Brechts Maßnahme ähnelt, die den „Jungen Genossen“ dafür maßregeln, dass er durch seine von Mitleid mit den Unterdrückten motivierten Aktionen das höhere Ziel der Befreiung aller Ausgebeuteten gefährdet habe.

Bezeichnend ist, was Nagel alles ausblenden muß, um zu seiner Forderung nach Unbarmherzigkeit im Namen einer höheren Menschlichkeit zu gelangen. Nämlich, dass die Iraker nur zu einem sehr geringen Teil unter den Schäden leiden, die von der US-Invasion verursacht wurden. Sehr viel mehr leiden sie unter den Folgen einer fünfunddreißigjährigen mörderischen Diktatur und zweier opferreicher Kriege, die von Saddam angezettelt wurden. Auch leiden sie unter den Folgen eines zwölfjährigen Embargos, das von den Vereinten Nationen angeordnet und von Frankreich und Deutschland mitgetragen wurde. All dies spielt in den Erwägungen Nagels keine Rolle. Auch nicht, dass Deutsche und Franzosen, namentlich der heutige Staatspräsident Chirac, zu Saddams frühesten Förderern gehörten – und zwar noch bevor die USA sein Regime im iranisch-irakischen Krieg hochrüsteten. Ist für die Europäer nicht der Zeitpunkt gekommen, durch Aufbauhilfe für den Irak etwas von der eigenen Mitschuld an der Zerrüttung dieses Landes abzutragen?

Terror als „Widerstand“

Doch von solchen moralischen Überlegungen abgesehen: An einem stabilisierten demokratisierten Irak müßten die Europäer ein mindestens so großes Interesse haben wie die USA. Gerade wenn sie der Überzeugung sind, die amerikanische Politik im Irak schade diesem Ziel, müßte dies für sie eigentlich ein Grund mehr sein, die dortigen Verhältnisse in ihrem Sinne zu beeinflussen. Doch für Nagel und zahlreiche andere westliche Intellektuelle scheint die Leidensgeschichte des Irak erst mit dem Angriff der Amerikaner begonnen zu haben. Und das Schicksal sowohl des Irak als auch Europas scheint ihm gleichgültig zu sein, wenn nur ein amerikanischer „Weltpolizeistaat “ verhindert wird.

Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy ist eine der prominentesten Sprecherinnern der internationalen Globalisierungskritiker, wird aber auch in den etablierten bürgerlichen Medien des Westens als moralische Stimme der Dritten Welt geschätzt. Anfang April vergangenen Jahres, während des Vormarschs der amerikanischen und britischen Truppen im Irak, gab sie dem Spiegel ein Interview, in dem sie den bewaffneten Widerstand gegen die Koalitionsstreitkräfte pries. „Schock und Schrecken, den die amerikanischen Militärs vor dem Krieg ankündigten“, erklärte Roy, „flößt ihnen doch jetzt dieser erstaunliche Kampfgeist vieler Iraker ein. Es ist phantastisch, wie sie Widerstand leisten, und es bestätigt meine Hoffnung, dass nicht immer alles nach dem bequemen Kalkül der Mächtigen läuft. Die Armen, Geschlagenen und Erniedrigten haben enorme Reserven an Stolz und Würde.“

Die Mächtigen, die andere erniedrigen – das können in Arundhati Roys phantastischer Welt immer nur die Amerikaner und ihre Verbündeten sein. Bei deren Gegnern kennt sie dagegen keinen Unterschied mehr zwischen Henkern und Gehenkten, zwischen Folterern und Gefolterten. Und so identifiziert sie kurzerhand die Schergen des totalitären Regimes Saddam Husseins mit seinen Opfern, den Irakern. Sie sind bei ihr alle „arme, hoffnungslos unterlegene Menschen“. Aber auch  Roy beschwört die Prinzipien der „Demokratie“ und der „Zivilgesellschaft“. Im Spiegel verlangt sie vom Westen, diktatorische Verhältnisse statt mit Krieg durch die Unterstützung einheimischer zivilgesellschaftlicher Bewegungen zu verändern. Man kann ihr in diesem Punkt beipflichten: Der Westen sollte viel mehr tun, um Menschenrechtsbewegungen zu unterstützen. Und manche kriegerische Intervention der vergangenen Jahre wäre vielleicht zu vermeiden gewesen, wenn der Westen expansionswütigen Diktatoren wie Milosevic und Saddam Hussein frühzeitig die Grenzen aufgezeigt hätte. Doch wie verfährt man in Fällen wie der irakischen Diktatur, die alle Anzeichen einer „Zivilgesellschaft “ längst ausgerottet hat? Arundhati Roy lebt in Indien, wo sie öffentlich Missstände laut anprangert. Wie unvollkommen die indische Demokratie auch immer sein mag, im Irak unter Saddam Hussein hätte sie den Versuch, sich in ähnlicher Weise zur Sprecherin „zivilgesellschaftlicher“ Anliegen zumachen, nicht einen einzigen Tag überlebt. Trotzdem will Roy solche Unterschiede offenbar nicht wahrhaben, wenn es darum geht, ihr Ressentiment gegen den Westen auszuagieren.

Rechts und Links vereint

Rechts- und Linksradikale, mit der „Jungen Freiheit“ auf der einen, der „Jungen Welt“ auf der anderen Seite, sind sich in einem einig: Die Zeit des völker- und kulturzerstörerischen kapitalistischen amerikanischen Imperiums beginnt abzulaufen. Als untrügliches Zeichen dafür erkennen sie, dass mit dem Islamismus eine neue Speerspitze des Ressentiments gegen denWesten erwachsen ist. In einer Mischung aus Grusel und Bewunderung blicken sie auf die Bereitschaft der islamistischen Kommandos, für die große historische Sache Blutopfer zu bringen. Aber es gibt den Islamismus nicht nur in der Form terroristischer Netzwerke. Er tritt auch in Gestalt einer politisch-kulturellen Bewegung auf, deren Ideologie einen radikalen Gegenentwurf zur säkularen Moderne anbietet. Längst beschränkt sich sein Wirkungsbereich nicht mehr auf exotische Weltgegenden. Als eine politische Kulturbewegung beeinflußt der Islamismus auch die wachsenden muslimischen Gemeinden in den westlichen Demokratien. Seine Propagandisten versprechen die Überwindung der Trennung von Individuum, Gesellschaft und Staat, von Einzel- und Gesamtinteresse, von Intellekt und „Seele“ in einer alle Lebensbereiche umfassenden Gemeinschaft, die sich auf eine verbindliche Ordnung absoluter, durch Offenbarung verbürgter Werte stützt.

Dieses Erweckungs- und Erlösungsprogramm spricht zunehmend nicht nur Immigranten der zweiten und dritten Generation aus muslimischen Ländern an. Deutsche Konvertiten spielen bei der Ausgestaltung des ideologischen Überbaus der islamistischen Bewegung eine immer größere Rolle. Einer von ihnen ist Mikail Alman, der in der Ankündigung zu seinem Buch Es wird Morgen im Abendland. Erneuerung aus dem Geist des Islam die Alternative in aller Deutlichkeit formuliert: „Die Zeiten wandeln sich und wir uns in ihnen. Wie Allah es will. Eines aber bleibt konstant: die Glaubensgewissheit der Muslime. Deshalb ist der Boden, auf dem wir gehen, fest und sicher … Deshalb kann uns nichts erschüttern – gerade in diesen Tagen, in denen die Muslimen-Verfolgung weltweit forciert wird, weil der ›Westen‹ seit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums keine Alternative mehr hat – außer dem Islam und seinem Gesellschaftsmodell. Gleichzeitig mit dem Griff der USA und ihrer Verbündeten nach weltweiter Vorherrschaft durch militärische Überlegenheit, politisches Machtmonopol und Sicherung der Energiequellen erlebt der Islam eine Renaissance. Denn das Leben ist mehr als vorübergehende Macht und lächerlicher Reichtum. In die Ewigkeit weisen moralische Werte und vor allem die unbedingte Hingabe an Allah. Das sehen die Goliaths dieser Welt anders. Und deshalb ist der kleine David mit der Schleuder ein Muslim.“

Auf eine solche frontale Herausforderung von innen zeigen sich die westlichen Gesellschaften schlecht vorbereitet. dass ein gesellschaftliches Gegenmodell mit solcher Wucht noch einmal auf der weltpolitischen Bühne erscheinen würde – damit hatte im Westen kaum jemand gerechnet. Dabei erweist sich die Sehnsucht nach einer metaphysisch abgesicherten Einheit des Daseins, die der Islamismus artikuliert, als keineswegs so fremd und äußerlich, wie es den Anschein hat. Diese Sehnsucht nach ihrer eigenen Negation hat die Säkularisierung vielmehr von Anfang an begleitet wie ein Schatten. Aus dieser Sehnsucht gingen nicht zuletzt die totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts hervor.

Islamismus und Kulturkritik

Ihr Wiederauftauchen in Gestalt des islamischen Integrismus erinnert die westlichen Gesellschaften daran, dass der Wunsch nach dem Aufgehen in einem harmonischen Ganzen auch bei uns unterschwellig lebendig geblieben ist. Davon zeugt nicht nur die endemische Suche nach esoterischen Heilsphilosophien und Ersatzreligionen für das im Zuge der Verweltlichung domestizierte Christentum. Es zeigt sich auch an der Verlegenheit, mit der große Teile der westlichen Öffentlichkeit auf die Frage reagieren, was sie an ihrer säkularen Ordnung eigentlich für wertvoll und verteidigenswert halten.

Viele Anklagen islamistischer Prediger reproduzieren zugespitzt eben jenes negative Selbstbild der liberalen Moderne, das in den westlichen – jedenfalls in den europäischen – Gesellschaften inzwischen zum Gemeingut einer populären Kulturkritik geworden ist. Sie prangert die Entleerung des Seins durch einen bindungslosen Individualismus an, die Abtötung des Geistes durch die Fixierung auf Materialismus und hemmungslosen Konsum, den Zerfall der Gesellschaft durch die Auflösung „natürlicher“ und traditionell gewachsener Gemeinschaftsstrukturen. Der säkulare Boden, auf dem solche Kulturkritik die Errungenschaften des Säkularismus verwirft, ist ihr offenbar selbstverständlich, jedenfalls nicht schützenswert. Und so ist auch das Bewußtsein darüber verblasst, dass das Prinzip der individuellen Autonomie nicht nur für das vielfach beklagte Gefühl von Vereinzelung und Ungewißheit verantwortlich ist, sondern die Ansprüche der Bürger auf körperliche Unversehrtheit, individuelle Rechtssicherheit und soziale Absicherung – wie übrigens auch auf Religionsfreiheit – überhaupt erst begründet hat.

Dass der Islamismus im Gewande des Fremden und dazu noch als David aus der Dritten Welt auftritt, der dem westlichen Goliath die Stirn bietet, verfehlt seine Wirkung auf kulturkritische linksliberale Intellektuelle nicht. Seit dem 11.September hat sich Jürgen Habermas immer mehr in die Frage vertieft, ob der Säkularismus ohne religiösen Halt nicht tatsächlich in jenen Verfallszustand münden könnte, in dem ihn seine fundamentalistischen Feinde bereits sehen. Und so ist Kardinal Josef Ratzinger mittlerweile ein bevorzugter philosophischer Gesprächspartner von Habermas geworden. Unter diesen Vorzeichen verfällt die Diskussion über den Wertebestand der freien Gesellschaften häufig in ein melancholisches Nachsinnen über verlorene Sicherheiten, die man an den Wurzeln des christlichen Abendlandes wiederzufinden hofft.

Der Westen soll büßen

Doch wer auf den Anspruch fundamentalistischer Ideologen, höhere Werte als die des dekadenten Westens zu vertreten, mit der Suche nach einem gleichwertigen „Eigenen“ der eigenen Kultur antwortet, ist den Herausforderern bereits in die Falle gegangen. Besteht ein Vorzug der offenen Gesellschaften doch gerade in ihrer Fähigkeit, auf eine kollektive Identität verzichten und aus der daraus entstehenden Vielfalt Produktivität gewinnen zu können. Doch genau das ist es, was konservative Kulturpessimisten der westlichen Moderne verargen. Schon kurz nach dem 11. September 2001 hatte der Publizist Alexander Gauland erklärt, mit dem Islam stehe „uns nach der Säkularisierung des Westens die letzte große geschlossene geistige Kraft gegenüber, die wir in ihrem Eigenwert respektieren und der wir ein Recht auf autonome Gestaltung ihres Andersseins zugestehen müssen“.

Mit der Bewunderung für den Islam, der seinen Eigensinn gegenüber der identitätslosen westlichen Spaßgesellschaft zu bewahren wisse, verbinden Konservative den Wunsch, Europa möge sich seinerseits wieder auf bindende Werte des „christlichen Abendlandes“ besinnen. In den vielgelesenen Büchern Peter Scholl-Latours tritt der Islam stets als eine fremde, dem Uneingeweihten unbegreifliche Macht auf, gegen die westliche Rationalität so wenig ausrichten könne wie gegen eine Naturgewalt. Scholl-Latour gefällt sich in der Rolle des sardonischen Propheten, der den naiven amerikanischen Bemühungen um Eindämmung des bedrohlichen Phänomens ein ums andere Mal ein katastrophales Scheitern voraussagt. Die Botschaft seines Ressentiments gegen den Westen lautet: Die westliche liberale Moderne hat die Werte ihrer eigenen Tradition mutwillig zerstört und muss das nun büßen, indem sie sich der metaphysischen Entschlossenheit der Muslime hilflos und verächtlich, weil im wahrsten Sinne des Wortes wertlos geworden, gegenübersieht. Dem kassandrahaften Scholl-Latour sieht man bei aller Zerfurchtheit die Befriedigung an, die er daraus zieht, von Anfang an gewußt zu haben, dass das sittenlose, verantwortungslose Treiben der westlichen Konsumzivilisation ein böses Ende nehmen wird – und man sieht, wie dankbar er ist, noch der rächenden Macht begegnet zu sein, die ihr dieses böse Ende bereiten werde.

Und das ist am Ende ja, was dem Ressentiment gegen denWesten eine so weite Verbreitung sichert: Es macht glücklich und zufrieden. Denn unter seinen Zauberflügeln verwandelt sich unsere immer komplizierter werdende Welt zu vollständiger Übersichtlichkeit. Wer vom Ressentiment gegen den Westen beseelt ist, weiß, was er am Westen hat. Denn mit dem Westen als Feindbild scheint in unserer unsicheren Welt wenigstens eines sicher: der verdiente Untergang.

Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

von Richard Herzinger

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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