Kein Frieden in Europa ohne Sieg über den Putinismus

Der Westen darf der Ukraine nicht länger kriegsentscheidende Waffen vorenthalten. Sonst setzt er nicht nur die Fortexistenz des ukrainischen Staats und die Lebensrundlagen einer freien europäischen Nation aufs Spiel, sondern gräbt sich auch sein eigenes Grab. Die westlichen Demokratien müssen jetzt ohne weiteren Verzug alle Mittel bereitstellen, die für den vollständigen und möglichst schnellen militärischen Sieg der Ukraine über die völkermörderische Invasionsarmee des Putinismus notwendig sind. Versagt der Westen vor dieser epochalen Herausforderung, wird das der Anfang seines eigenen Endes sein.

Der indirekten Begünstigung des russischen Vernichtungskriegs durch Unterlassung hat sich insbesondere Deutschland schuldig gemacht, das die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine unter fadenscheinigen Vorwänden verzögert. Doch trifft der Vorwurf unzureichender militärischer Unterstützung auch andere führende europäische Staaten wie Frankreich. Und er trifft, wenn auch in einer anderen Dimension, selbst die USA. Zwar haben diese an der Ausrüstung der ukrainischen Armee den bei weitem größten Anteil – was die Europäer eigentlich tief beschämen müsste. Umso mehr fällt jedoch ins Gewicht, wenn es die Biden-Regierung dabei an der letzten Konsequenz fehlen lässt.

Immerhin zeigt vor allem das von Washington gelieferte moderne Raketenwerfersystem HMARS inzwischen deutliche Wirkung zugunsten der Ukraine. Auch die deutschen Panzerhaubitzen, die Ende Juni, vier Monate nach Beginn der russischen Großinvasion, endlich bei der ukrainischen Armee angekommen sind, haben zur Verbesserung ihrer Position auf dem Schlachtfeld beigetragen (obwohl dieses Gerät bereits jetzt technische Unzulänglichkeiten zeigt). Zudem haben inzwischen wenigstens die ersten drei von 15 zugesagten Gepard-Luftabwehrpanzern die Ukraine erreicht. Die nach langem Hinhalten erteilte Exportgenehmigung für weitere 100 Haubitzen hilft den ukrainischen Streitkräften jedoch unmittelbar nicht weiter. Denn diese Waffen müssen erst noch produziert werden und werden in ihrer gesamten Anzahl wohl erst in einigen Jahren zur Verfügung stehen

„Einfrieren“ ist keine Option

Auch in diesem Fall setzt die Bundesregierung offensichtlich ihre Taktik fort, von Zeit zu Zeit vermeintliche Großtaten an militärischer Unterstützung zu verkünden, um ihr Negativimage als Waffenverweigerer aufzubessern. Einer genaueren Prüfung ihrer Substanz halten diese Ankündigungen dann aber meist nicht stand. In Wahrheit fällt im Vergleich vor allem zu den USA, aber auch zu Großbritannien, Polen und den baltischen Staaten, die deutsche Waffenhilfe weiterhin geradezu erbärmlich gering aus.

Als „Game changer“, als Faktor also, der umfassende ukrainische Gegenoffensiven zur Befreiung des besetzten Territoriums ermöglicht, sind die bisherigen westlichen Waffenlieferungen insgesamt noch längst nicht ausreichend. Dazu sind Kampfflugzeuge, Panzer und Langstreckenraketenartillerie in großem Umfang erforderlich. Diese haben die USA und andere NATO-Staaten der Ukraine bisher jedoch vorenthalten. (Immerhin „prüft“ Washington jetzt die Lieferung von Kampfjets, betont aber zugleich, dass sich dies noch eine Weile hinziehen werde). Das aber bedeutet, wie Richard D. Hooker, Strategieexperte beim Atlantic Council, in einer schonungslosen Analyse festgestellt hat, „der Ukraine die Fähigkeit zu verweigern, echte offensive Operationen durchzuführen oder auch nur ihr Territorium erfolgreich zu verteidigen.“

Ein moderner, hochintensiver Krieg, so Hooker, „erfordert eine Luftwaffe und Feuerkraft mit großer Reichweite. Ohne sie ist die Ukraine zu einem eingefrorenen Konflikt und dem wahrscheinlichen Verlust der Regionen Luhansk und Donezk sowie des besetzten Gebiets im Süden des Landes, das mit der Krim verbunden ist, verdammt.“ Eine derartig amputierte Ukraine aber wäre aus eigener Kraft kaum lebensfähig. Der Putinismus würde es bei einem solchen „Einfrieren“ allerdings ohnehin nicht belassen. Das Kreml-Regime hat bereits die Annexion besetzten ostukrainischen Territoriums angekündigt und erneut klar gemacht, dass es unverändert die Einsetzung einer Vasallenregierung in Kyjiw anstrebt. Es wird von seiner Aggression nicht ablassen, bis es die Ukraine als eigenständige Nation vollständig ausgelöscht hat. Es gibt daher nur einen einzigen akzeptablen Weg, Putins Krieg zu beenden: Den militärischen Sieg der Ukraine sicherzustellen, der den vollständigen Abzug der russischen Invasionsarmee vom gesamten ukrainischen Territorium erzwingt und Russlands militärische Fähigkeiten so nachhaltig schwächt, dass es zu keinem neuerlichen Überfall auf die Ukraine oder andere umliegende Staaten mehr in der Lage ist.

Putinismus heißt Krieg

Der Unwille des Westens, seine militärischen Kapazitäten massiv in die Wagschale zu werfen, hat Putins durch anfängliche Niederlagen schwer angeschlagener Invasionstruppe ermöglicht, ihre Kräfte im Donbass und im Süden des Landes zu sammeln und dort vorzurücken – was nicht nur bedeutet, dass in den vergangenen Wochen noch mehr ukrainische Zivilisten der bestialischen Mord-, Folter-, Vergewaltigungs-, Plünderungs-, Verschleppungs- und „Filtrations“-Maschinerie des Putinismus in die Hände gefallen sind. („Filtration“ ist ein zynischer Euphemismus für Selektion zu Folterung und Ermordung oder Deportation.) Den Invasoren hat dies auch erlaubt, ihre Truppen zu reorganisieren, um sie für einen neuerlichen Vormarsch auf weitere Teile der Ukraine in Stellung zu bringen.

Hinter dem (weit in die Vergangenheit zurückreichenden) fatalen westlichen Versäumnis, die Ukraine rechtzeitig und angemessen zu bewaffnen, steckt nicht nur die übersteigerte Furcht, in eine direkte kriegerische Konfrontation mit Russland zu geraten, sondern auch das verheerend falsches Kalkül, Zurückhaltung gegenüber dem Aggressor könne diesen von einer weiteren „Eskalation“ und der Ausweitung seines Angriffskriegs auf andere Staaten abhalten. Die zaudernden westlichen Staatenlenker wollen sich so wohl eine Tür offen halten für Verhandlungen über irgendeine Art von „Friedenslösung“, die für Putin „gesichtswahrend“ sein soll – dürfe man doch den Kreml-Despoten nicht „demütigen“, wie es Frankreichs Präsident ausgedrückt hat. Doch vor Putins Gewalt und seinen Drohungen mit dem Dritten Weltkrieg zurückzuweichen, besänftigt ihn und sein Verbrecherregime nicht, sondern stachelt den Aggressor im Gegenteil zur weiteren Intensivierung seines Vernichtungsfeldzugs gegen die Ukraine an – und ermutigt ihn dazu, demächst auch NATO-Staaten anzugreifen.

Denn der Putinismus hat keinen anderen Daseinszweck als Krieg und Zerstörung über alle und alles zu bringen, was dem seinem ideologischen Delirium geschuldeten Anspruch auf die Vorherrschaft der „russischen Welt“ in Europa, wenn nicht der ganzen Welt im Wege steht. Wer glaubt, der Kreml werde von diesen Absichten für einige Territorialgewinne im Donbass abrücken, hat das Wesen des Putinismus noch immer nicht begriffen. Wer folglich darauf spekuliert, dessen Vernichtungswalze könne dadurch angehalten werden, dass man ihm Teile der Ost- und Südukraine Ukraine ausliefert, gleicht dem Beschwichtiger, der laut der Definition Winston Churchills ein Krokodil füttert, in der Hoffnung, dass es ihn zuletzt frisst.

Terrorstaat Russland

Dass Berlin weiterhin die Lieferung von der Ukraine dringendst benötigter Waffen wie den Marder- und Leopard-Panzer verschleppt, mag vordergründig an der Angst liegen, Putin könnte Deutschland ganz den Gashahn abdrehen. Der tiefere Grund dafür kam jedoch jüngst in den Äußerungen von Jens Plötner, dem außen- und sicherheitspolitischen Berater von Bundeskanzler Scholz, bei einer Podiumsdiskussion in Berlin zum Ausdruck. Er erklärte dort, man müsse, statt immer nur über Waffenlieferungen zu reden, bereits jetzt die Gestaltung der Beziehungen zu Russland nach dem Kriegsende ins Auge fassen.

Was Plötner damit verriet: Für maßgebliche Kräfte in der Bundesregierung, namentlich ihren sozialdemokratischen Teil, hat die Sorge um ein möglichst einvernehmliches Verhältnissses zu Russland ungebrochen Priorität vor der um das Schicksal der Ukraine. Diese Kräfte – die freilich, wie die jüngsten Einlassungen des sächsischen CDU-Ministerpräsidente und notorischen Putin-Anbiederers Michael Kretschmer belegen, keineswegs auf die Reihen der Sozialdemokratie beschränkt sind – scheuen einen Erfolg der Ukraine, der ihren ewigen Wunschpartner Russland zu sehr beschädigen würde. Selbst die entsetzlichsten Untaten der russischen Soldateska scheinen sie nicht darüber belehren zu können, dass es sich bei Putins Russland um keinen vertragsfähigen, „regulären“ Staat handelt, sondern um ein monströses terroristisches Gebilde – beherrscht von pathologischen Kriminellen, deren Allmachtswahn und Mordlust mit der Dauer ihrer Herrschaft immer weiter ansteigt.

Der historische Moment, dem militärischen Mordapparat des Putinismus eine verheerende Niederlage bezubringen, ist jetzt gekommen. Wird er verpasst, bereitet das einer zukünftigen noch größeren kriegerischen Konfrontation mit dem russischen Terrorstaat den Boden, der mit noch viel mehr Opfern und Verheerung verbunden wäre. Die Entscheidung auf dem ukrainischen Krieggsschauplatz hinauszuzögern, würde nur Putin in die Hände spielen. Bei einem lang andauernden „Abnutzungskrieg“ in der Ukraine wäre Russland allein durch das quantitative Übergewicht an materiellen Resourcen im Vorteil – und durch die zynische Bereitschaft der russischen Machthaber, eigene Soldaten unbegrenzt als „Menschenmaterial“ zu verheizen.

Aufgeweichte Sanktionen

Gefährlich verfehlt wäre es, darauf zu setzen, dass die russischen Invasionstruppen aufgrund eigener Defekte gleichsam an sich selbst scheitern werden. Der bisherige Kriegsverlauf hat, wie Richard Hooker zu bedenken gibt, auf russischer Seite zwar erstaunliche Mängel in der kombinierten Waffenkriegsführung, Logistik, Geheimdienstarbeit und bei den Luftoperationen offenbart. „Solche Mängel sind jedoch nicht dauerhaft. Vielmehr beweist Russland bereits die Fähigkeit, erfolgreich zu lernen und sich anzupassen.“ Lässt man die Gelegenheit verstreichen, der russischen Invasionsarmee in ihrem Zustand relativ großer Verwundbarkeit entscheidende Schläge zu versetzen, könnte Moskaus Militärmaschine daraus sogar erheblich gestärkt hervorgehen – und sich in der Ukraine fit machen für den anvisierten großen Krieg gegen die NATO.

Und auch psychologisch säße der Aggressor bei einem sich lange hinziehenden Krieg am längeren Hebel. Denn in der westlichen Öffentlichkeit nimmt die Ermüdung und Gewöhnung daran schon jetzt zu. Das Geschehen in der Ukraine gerät mehr und mehr aus den Top-Schlagzeilen, und riefen die Berichte über die russischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der breiten Öffentlichkeit zuerst noch heftiges Entsetzen hervor, erscheinen sie jetzt vielfach schon beinahe als „Normalität“. Die Gewöhnung an exzessive verbrecherische Gewalt aber wirkt auf demokratische Gesellschaften wie ein schleichendes Gift. Wo das innere Aufbegehren und der aktive Widerstand gegen das Verbrechen nachlässt, breitet sich dieses unweigerlich aus.

Vor allem angesichts der russischen Erpressung mit Energielieferungen droht in der westlichen Öffentlichkeit die Zustimmung für die konsequente Unterstützung der Ukraine zu bröckeln, Putin setzt jedenfalls fest darauf, dass die Front gegen den russischen Aggressor früher oder später aufbrechen wird. Und angesichts der heftigen inneren Friktionen in führenden westlichen Demokratien wie Frankreich, Italien und nicht zuletzt den USA ist diese Erwartung leider nicht unbegründet. Erste faktische Aufweichungen der Sanktionen hat der Putinismus durch seine Erpressungspolitik bereits erreicht: Kanada genehmigte auf Druck Deutschlands den Transport einer dort gewarteten Gasturbine für die Pipeline Nordstream 1 nach Russland, deren Rückgabe Moskau als Bedingung für weitere Gaslieferungen nach Europa ultimativ verlangt hatte. Litauen musste aufgrund des Einknickens Brüssels gegenüber russischen Drohungen den Schienenweg zur Versorgung der russischen Enklave Kaliningrad wieder öffnen, den es den EU-Sanktioen gemäß gesperrt hatte

Putins „Antikolonialismus“

Und im Gegenzug für die Beendigung der russischen Blockade der ukrainischen Getreideexporte gab Washington dem Kreml die Zusicherung, dass der Export russischer Düngelmittel nicht durch westliche Sanktionen behindert werden soll. Die daraufhin von der Türkei und den UN vermittelten Abkommen zur Freigabe der ukrainischen Schwarzmeerhäfen für Getreidelieferungen hat Moskau keine 24 Stunden nach ihrer Unterzeichnung brutal gebrochen, indem es Hafenanlagen in Odessa bombardierte. Einmal mehr hat der Putinismus damit demonstriert, dass Abkommen für ihn nur taktische Manöver sind, um den Westen auszutricksen und vor aller Welt dessen Schwäche und Tölpelhaftigkeit zu demonstrieren.

Das westliche Eingehen auf russische Bedingungen für die Freigabe von Getreidelieferungen hat zudem der Kreml-Propaganda indirekt Auftrieb gegeben, die die Verantwortung für die drohende globale Ernährungskatastrophe dem Westen in die Schuhe schieben will. In Wahrheit trägt die Schuld daran allein der russische Aggressor, der mit seiner Getreideblockade die Lebensmittelkrise gezielt forciert hat, um Erpressungspotenzial gegenüber dem Westen in die Hand zu bekommen. Namentlich in Teilen Afrikas findet die dreiste russische Desinformationskampagne dennoch einen breiten Resonanzboden, passt sie doch in das dort gängige Narrativ vom „globalen Süden“ als dem ewigen Opfer des westlichen Kolonialismus.

Die russische Propaganda ist insgesamt dazu übergegangen, den Vernichtungskrieg gegen die Ukraine als „antikolonialen Widerstand“ gegen die globale Vorherrschaft des von den USA angeführten Westens zu verkaufen – und stößt damit bei despotischen Regimen und halbautoritären Regierungen im sogenannten „globalen Süden“ (ein pauschalisierender und mythisierender Begriff, der als solcher die Bezeichnung „Dritte Welt“ abgelöst hat), auf offene Ohren. Bei aufstrebenden aggressiven Mächten des „globalen Südens“ wie China, aber auch Indien unter dem Hindu-Nationalisten Modi, kann sich Putin bewundernder Anerkennung sicher sein – als skrupelloser Vorreiter und Inspirator ihrer eigenen Expansionsgelüste.

Intellektuelle Steigbügelhalter

In Deutschland trommeln unterdessen „intellektuelle“ Steigbügelhalter des Putin-Regimes wie Alice Schwarzer, Richard David Precht, Harald Welzer und Jakob Augstein für einen „sofortigen Waffenstillstand“. Wobei es sich bei den meisten der Unterzeichner der „Offenen Briefe“ für den Stopp von Waffenlieferungen keineswegs etwa um naive pazifistische Idealisten handelt. Maßgebliche Protagonisten dieser Kampagne wie Schwarzer und Precht haben sich vielmehr schon seit der Krim-Annexion 2014 als eifrige Propaganda-Papageien des Kreml betätigt.

Was wie ein von moralischen Motiven getriebener Appell von besorgten Friedensfreunden klingt, folgt dementsprechend präzise den taktischen Bedürfnissen des Kreml. Dem käme es gut zupasse, wenn die ukrainische Armee just in dem Moment am Weiterkämpfen gehindert würde, da sie immer mehr im Erstarken begriffen ist. Ein Waffenstillstand zum jetzigen Zeitpunkt würde nichts anderes bedeuten, als dass die russischen Invasoren ihre Terrorherrschaft in den eroberten Gebieten konsolidieren und in Ruhe ihre nächsten Angriffwellen auf die gesamte Ukraine vorbereiten könnten.

Ein Beschwichtiger ist jemand, der ein Krokodil füttert, in der Hoffnung, dass es ihn zuletzt frisst.

Winston Churchill

Der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan schreibt diesen Offene- Briefe-Verfassern, die – aus Inkompetenz, Ignoranz oder Korrumpierung (oder allem zusammen) – das Geschäft Putins betreiben (s. dazu hier), die schlichte Wahrheit über die grauenvolle Wirklichkeit ins Stammbuch, mit der die Ukraine konfrontiert ist: „Wir können unseren Widerstand nicht aufgeben, weil wir sonst vernichtet werden. Wir müssen vom Westen Waffen fordern, weil wir sonst vernichtet werden. Wir müssen die Welt zum Kampf gegen das Putin-Regime aufrufen, weil wir sonst vernichtet werden. Physisch vernichtet, im wahrsten Sinne des Wortes, ohne Umschweife. So wie bereits Tausende Ukrainer in Mariupol, Butscha, Hostomel und Irpin vernichtet worden sind.“

Mit welchen Dimensionen von Vernichtungswillen wir es dabei zu tun haben, illustriert eine kürzlich von den ukrainischen Behörden veröffentlicht Zahl: Seit dem Ende der russischen Besatzung im Kiewer Umland sind (Stand 18.7.) allein dort 1346 ermordete Zivilisten gefunden worden. Von etwa 300 Menschen fehlt noch jede Spur. Das ist wohlgemerkt das Resultat einer kurzen Zeitspanne von Tagen bis wenigen Wochen, in der Teile der genannten Region von den russischen Truppen gehalten wurde. Mit welchen Opferzahlen dort zu rechnen ist, wo die Kreml-Soldateska über längere Zeit hinweg in ihrer ganzen bestialischen Grausamkeit wüten kann (der sie, wie jetzt offenbar wird, auch an ukrainischen Kriegsgefangenen freien Lauf lässt), mag man sich nicht ausmalen. Alleine die Zahl der vermutlich nach Sibirien oder an andere geheim gehaltene, weit entfernte Orte in Russland verschleppten ukrainischen Bürger beträgt mittlerweile über eine Million, etwa ein Fünftel davon Kinder.

Etliche Strategie- und Militärexperten wie der Brigadegeneral a.D. und ehemalige Merkel-Berater Erich Vad zeigen sich von diesem Horror jedoch wenig beeindruckt und legen sich unverdrossen für schnellstmögliche Verhandlungen mit Russland ins Zeug, Der Historiker Jörg Baberowski, der sich schon seit Jahren als Putin-Versteher im Kostüm des „Russland-Experten“ hervorgetan hat, erklärt gleich jeglichen Widerstand gegen das vermeintlich übermächtige Russland für aussichtslos und empfiehlt dem Westen faktisch, sich mit dessen imperialen Ansprüchen abzufinden und zu arrangieren.

Die Chuzpe der „Realpolitiker“

Zugunsten einer vermeintlichen „Realpolitik“ einen Völkermord – jetzt schon nicht mehr nur einen vor der Haustür des demokratischen Europa, sondern mitten in ihm – hinzunehmen, zeugt jedoch nicht nur von einem erschreckend kaltschnäuzigen Mangel an Empathie, sondern auch von selbstmörderischer Realitätsverleugnung. Ausgerechnet dieselben Verfechter einer angeblichen „Realpolitik“, die Putin über all die Jahre hinweg in vollständiger Verkennung der Wirklichkeit systematisch geschont, hofiert und damit überhaupt erst stark gemacht hat, bringen jetzt die Chuzpe auf, sich als Gralshüter „nüchterner“ außenpolitischer Rationalität hinzustellen. Diejenigen aber, die ihrer zwanghaften Verharmlosung des Putinismus nicht folgen wollen und verlangen, dem russischen Verbrecherstaat mit der ihm gebührenden Härte entgegenzutreten, versuchen sie durch die Unterstellung zu diskreditieren, diese ließen sich von „Emotionen“ hinreißen als hätten „Emotionen“ angesichts eines Völkermords beim Umgang mit der Macht, die ihn verübt, kein rationales Gewicht.

Eine gebetsmühlenartig wiederholte Behauptung der „Realisten“ lautet, ein Sieg der ukrainischen Armee inklusive der Rückeroberung des von den Russen okkupierten Territoriums, liege außerhalb jeder Möglichkeit. Im Kern wiederholen sie die bereits 2014 getätigte Äußerung der „feministischen“ Putin-Bewundererin Alice Schwarzer, man dürfe die Ukraine nicht „in der Illusion wiegen, dass sie die größte Atommacht der Welt, Russland, final besiegen könnte“, Dass Atommächte durchaus schon des öfteren „final besiegt“ wurden – man denke nur an die USA in Vietnam und die Sowjetunion in Afghanistan – fällt dabei unter den Tisch.

Präsident Selenskyi und die ukrainische Führung, die sich dem ukrainischen Sieg verpflichtet haben, sowie die mit unbändigem Widerstandswillen um ihre Freiheit kämpfende ukrainische Gesellschaft, die dieses Ziel mit ganzer Kraft mitträgt, erscheinen in dieser Lesart als verblendete Fantasten, die durch eine „realistische“ westliche Politik von ihren gefährlichen Hirngespinsten abgebracht werden müssten. Dabei wird die ganze Herablassung ebenso ahnungsloser wie selbstgefälliger deutscher Besserwisser offenbar, die auf die Ukrainer und Ukrainerinnen als so etwas wie unmündige Halbwüchsige herabschauen, welche nicht in der Lage seien, ihre eigenen Kräfte richtig einzuschätzen

Putinistisches Wahnsystem

In Wahrheit hat die ukrainische Armee an zvielen Orten längst den Beweis erbracht, dass sie sehr wohl fähig ist, besetztes Territorium zurückzuerobern – und das sogar ohne modernstes Kriegsgerät, das sie vom Westen lange Zeit vergeblich eingefordert hatte. Jetzt verdrehen die vermeintlichen „Realpolitiker“ diese Sachlage in der Art einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Es trifft ja zu: So lange den Ukrainern die notwendige Bewaffnung dafür fehlt, kann sie den Krieg tatsächlich nicht gewinnen. Die „Realisten“ aber sind es, die ihrerseits alles daran setzen, die Bereitschft des Westens zu unterminieren, ihr eben diese Bewaffnung zukommen zu lassen. Die Wahrheit, die sie mit ihren argumentativen Taschenspielertricks nicht aus der Welt schaffen können. lautet jedoch: Sobald die hoch motivierte und beeindruckend effektive ukrainische Armee über die dazu notwendigen Waffen verfügt, hat sie beste Aussichten, Russlands im innersten Kern verrottete Terrorarmee zu besiegen.

Der Westen muss endlich von dem Irrglauben ablassen, hinter Putins Krieg stecke irgendein Anflug einer uns vetrauten Rationalität, auf deren Basis ein „Kompromiss“ oder „Interessensausgleich“ mit dem Kreml-Regime gefunden werden könne. Man muss sich von der Vorstellung frei machen, es existierten irgendwelche noch so entfernt in der Wirklichkeit wurzelnden Gründe, die das Putin-Regime dazu veranlasst hätten, über die Ukraine herzufallen und ihre Bevölkerung zu massakrieren. Weder regieren in Kyjiw „Nazis“, noch gibt es in der demokratischen Ukraine eine Diskrimminierung oder gar Verfolgung der russischsprachigen Bevölkerung – und schon gar keinen „Genozid“ gegen sie -. noch existiert überhaupt ein prinzipieller Gegensatz zwischen russisch und ukrainisch sprechenden Bürgern des Landes. Und nicht im Entferntesten hat die Ukraine, so wenig übrigens wie die NATO, jemals einen Angriff auf russisches Territorium geplant oder auch nur erwogen.

Alle diese Vorwände sind frei erfunden und entspringen dem geschlossenen ideologischen Wahnsystem des aus dem großrussisch-imperialistischen Nationalismus erwachsenen Putinismus und seiner ideologischen Einpeitscher, demzufolge Russland nicht nur dazu dazu ausersehen sei, sein Imperium wiederaufzurichten, sondern auch, die ganze Welt von der westlichen liberalen „Dekadenz“ zu erlösen – eine „Mission“, für die diesem Wahnsystem zufolge der Einsatz unbegrenzter Gewalt bis hin zur nuklearen Auslöschung erlaubt, wenn nicht sogar unbedingt geboten sei.

Kein „normaler“ Krieg

Die westliche Öffentlichkeit muss sich daher viel stärker bewusst machen, dass es sich bei dem russischen Angriff auf die Ukraine nicht um einen „normalen“ Krieg handelt wie andere, bei denen es den Beteiligten um das Erzielen bestimmter eingegrenzter Vorteile geht. Tatsächlich stellen die Begriffe „Krieg“ oder „Angriffskrieg“ im Grunde eine Banalisierung der Dimension der russischen Aggression dar. Es handelt sich vielmehr um nichts weniger als einen Ausrottungsfeldzug gegen eine unabhängige europäische Nation, der auf die Auslöschung jedes Individuums zielt, das sich gegen den Willen des russischen Herrenmenschentums weiterhin zu seiner ukrainischen Nationalität zu bekennen wagt. Verbunden ist dieses mit einem Ausmaß an abgründigem Hass und grenzenloser Vernichtungswut, wie man ihn seit dem Untergang des Nationalsozialismus in Europa nicht mehr erlebt hat.

Der ukrainische Psyhoanalytiker und Autor Jurko Prochasko hat auf den Punkt gebracht, was in dem Krieg, den der Putinismus der gesamten westlichen Welt erklärt hat, auf dem Spiel steht: „Wenn das putinsche Regime nicht vollständig besiegt wird, wird es der Welt ergehen wie im Mythos vom Gorgonenhaupt: Wenn man dem Regime nur ein Glied abschlägt, wachsen immer neue Auswüchse nach und der Krieg wird kein Ende finden. Ohne den Sieg über das nationalsozialistische Deutschland hätte es die Bundesrepublik, später das vereinigte Deutschland und die EU nicht gegeben, und ohne diesen Sieg wäre die Vergangenheitsbewältigung der Nachkriegszeit nicht möglich geworden. Auf ihr beruht aber das gegenwärtige Europa.“ Vor einer solchen epochalen Entscheidungssituation stehen wir heute wieder: Ohne den Sieg über den Putinismus gibt es für ein freies, demokratisches Europa keine Zukunft.

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Über den Autor

Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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Richard Herzinger

Dr. Richard Herzinger, geboren 1955 in Frankfurt am Main, lebt und arbeitet als Publizist in Berlin. Als Autor, Redakteur und politischer Korrespondent war er für "Die Zeit", den Berliner "Tagesspiegel", die Züricher "Weltwoche" und zuletzt fast 15 Jahre lang für "Die Welt" und "Welt am Sonntag" tätig. Bereits vor 25 Jahren warnte er in seinem gemeinsam mit Hannes Stein verfassten Buch "Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler" vor dem Wiederaufstieg autoritärer und totalitärer Mächte und Ideologien. Er schreibt für zahlreiche deutsche und internationale Zeitungen und Zeitschriften, unter anderem eine zweiwöchentliche Kolumne für das ukrainische Magazin Український Тиждень (Ukrainische Woche; tyzhden.ua).

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